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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 05.09.2019, RV/7100828/2018

Vorrangiger Anspruch auf Familienbeihilfe der in Ungarn lebenden haushaltsführenden Kindesmutter

Rechtssätze


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Stammrechtssätze
RV/7100828/2018-RS2
Da die Bf. einen abgeleiteten Anspruch auf Familienbeihilfe aufgrund der Beschäftigung des Kindesvaters in Österreich hat, müssen ihr zur Verteidigung ihrer Rechtsposition alle Umstände offengelegt werden, die für die Beurteilung des Anspruches relevant sind (siehe Ritz, BAO6, § 48a Tz 20). Die Notwendigkeit der Kenntnis abgabenrechtlich erheblicher Umstände eines anderen ergibt sich im vorliegenden Beschwerdeverfahren aus den Abgabentatbeständen. Die abgabenrechtliche Geheimhaltungspflicht steht dem nicht entgegen.
RV/7100828/2018-RS3
Durch die langjährige Beschäftigung der beschwerdeführenden Kindesmutter im EU-Ausland trifft die primäre Zuständigkeit zur Erbringung von Familienleistungen durchgehend diesen Staat. Hieran hat sich durch die Aufnahme der Beschäftigung durch den Kindesvater während des laufenden Monates in Österreich nichts geändert; da nunmehr eine Beschäftigung in zwei Mitgliedstaaten vorliegt, ist nach wie vor primär der ausländische EU-Staat aufgrund der Bestimmungen des Art. 68 Abs. 1 lit. b Z. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Erbringung von Familienleistungen verpflichtet, da der Wohnsitz der Kinder und der Bf. in diesem EU-Staat gelegen ist. Daher steht der Bf. auch für diesen Monat eine Differenzzahlung zu.
Folgerechtssätze
RV/7100828/2018-RS1
wie RV/7101889/2016-RS14
Ist die VO 883/2004 anzuwenden, ist nach Art. 67 VO 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 VO 987/2009 zu fingieren, dass sowohl die Voraussetzung des inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts (§ 2 Abs. 1 FLAG 1967) als auch die Voraussetzung des Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 8 FLAG 1967) hinsichtlich aller Mitglieder der jeweiligen Familie ("beteiligten Personen") vorliegt, auch wenn einzelne oder alle Mitglieder dieser Familie tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat der Union (des EWR oder in der Schweiz) wohnen.

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter R. in der Beschwerdesache Bf. über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Bruck Eisenstadt Oberwart vom , betreffend Abweisung eines Antrags auf Ausgleichszahlung für den Zeitraum Februar 2013 bis Dezember 2015, zu Recht erkannt: 

Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO teilweise Folge gegeben:

Soweit sich die Beschwerde gegen die Monate Oktober und November 2014 sowie Juli 2015 richtet, wird sie als unbegründet abgewiesen.

Für die übrigen Zeiträume, das sind die Monate Februar 2013 bis September 2014 sowie Dezember 2014 bis Juni 2015 und August 2015 bis Dezember 2015, wird der angefochtene Bescheid aufgehoben.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Die in Ungarn lebende Kindesmutter stellte für 2013 - 2015 Anträge auf Differenzzahlung. Der Kindesvater war in diesem Zeitraum mit Unterbrechungen in Österreich, die Kindesmutter ab 2002 bis laufend in Ungarn beschäftigt. Das minderjährige Kind lebt mit der Kindesmutter im gemeinsamen Haushalt in Ungarn; der gemeinsame Haushalt mit dem Kindesvater wurde im Juli 2012 aufgelöst, die Scheidung erfolgte am tt.1.2013.

Das Finanzamt wies zunächst den Antrag der Beschwerdeführerin (Bf.) für den Zeitraum Februar 2013 bis Dezember 2015 mit der Begründung ab, der Umstand, dass ihr geschiedener Gatte in Österreich unselbstständig erwerbstätig sei, begründe für sie keinen Anspruch auf Familienbeihilfe.

In der Beschwerde brachte die Bf. vor, da sie mit ihrem Kind im gemeinsamen Haushalt lebe, habe sie einen vorrangigen Anspruch auf Familienbeihilfe.

Nach einer abweisenden Beschwerdevorentscheidung stellte die Bf. einen Vorlageantrag.

Im Vorlagebericht stellte das Finanzamt seine nunmehr geänderte Rechtsansicht wie folgt dar:

"Nach den Entscheidungen des Finanzamts und nach der Einbringung des Vorlageantrags hat die Oberbehörde die Rechtsansicht im Sommer 2017 geändert: Die Familienbeihilfe steht in Anwendung der EU-VO nunmehr dem Elternteil zu, bei dem das Kind haushaltszugehörig ist ( Trapowski).

Das Finanzamt beantragt daher die Gewährung der Differenzzahlung für die Monate der Beschäftigung des Kindesvaters in Österreich als Arbeiter lt. SV-Auszug: 01/2013 - 09/2014, 12/2014 - 06/2016.

Das Finanzamt beantragt die Abweisung der Differenzzahlung für die Monate, in denen keine Beschäftigung des Kindesvater in Österreich vorlag bzw. nicht zum Stichtag 1. des Monats (Art. 59 DVO) lt. SV-Auszug: 10-11/2014, 07-08/2015.

Das Finanzamt ersucht das wöchentliche Stundenausmaßes für die Monate 09-12/2015 zu ermitteln, da der Kindesvater in Österreich lt. SV-Auszug von - geringfügig beschäftigt war und zu beurteilen, ob die geringfügige Beschäftigung so einen geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (, Rs Raulin) oder doch einen Familienbeihilfenanspruch auslöst, in eventu diese Monate an das Finanzamt zurückzuverweisen, sodass das Finanzamt die Ermittlungen aufnehmen kann."

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigung


Der oben dargestellte Sachverhalt ist unstrittig und ergibt sich neben den Angaben der belangten Behörde im Vorlagebericht übereinstimmend aus der gesamten Aktenlage.

Unstrittig ist insbesondere, dass die Bf. mit ihrem Kind in Ungarn einen gemeinsamen Haushalt führt und dort berufstätig ist. Der Zeitraum der Berufstätigkeit des Kindesvaters in Österreich ergibt sich aus den Sozialversicherungsauszügen sowie den aktenkundigen Lohnzetteln.

Demzufolge war der Kindesvater 2014 vom bis , vom bis und vom bis im Inland beschäftigt.

2. Rechtliche Würdigung

2.1 Primärer Anspruch auf Familienbeihilfe aufgrund der Haushaltszugehörigkeit

2.1.1 Innerstaatliches Recht

Nach § 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967 haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, für minderjährige Kinder Anspruch auf Familienbeihilfe. Nach Abs. 2 leg. cit. hat jene Person Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs. 1 genanntes Kind, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten überwiegend für das Kind trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist. 

Zum Haushalt einer Person gehört ein Kind gemäß § 2 Abs. 5 FLAG 1967 dann, wenn es bei einheitlicher Wirtschaftsführung eine Wohnung mit dieser Person teilt.

Gemäß § 5 Abs. 3 FLAG 1967 besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten.

In diesem Zusammenhang bestimmt jedoch § 53 Abs. 1 FLAG 1967, dass Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind. Hierbei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.

Gemäß § 2 Abs. 3 FLAG 1967 sind Kinder einer Person deren Nachkommen (lit. a), deren Wahlkinder und deren Nachkommen (lit b), deren Stiefkinder (lit c) sowie deren Pflegekinder im Sinne der §§ 186, 186a ABGB.

2.1.2 Gemeinschaftsrecht

Artikel 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 lautet:

"Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats."

Gemäß Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 iVm § 2 Abs. 3 FLAG 1967 gilt diese Verordnung für den Bf., die Kindesmutter und deren gemeinsame Kinder, da diese ungarische Staatsbürger und damit Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union sind.

Der Kindesvater unterliegt aufgrund seiner nichtselbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 den österreichischen Rechtsvorschriften, die Kindesmutter unterliegt den ungarischen Rechtsvorschriften.

Zu klären ist die Frage, ob die Erwerbstätigkeit des Kindesvaters einen abgeleiteten Anspruch der Kindesmutter auslöst.

Dazu bestimmt Art. 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009:

"Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird."

Im , Tomislaw Trapkowski, hat der EuGH unter Hinweis auf die Familienbetrachtungsweise (Rn 36) mehrfach betont, dass die Frage, wem der Anspruch auf Familienleistungen (Differenzzahlungen) zusteht, ausschließlich nach den innerstaatlichen (hier also österreichischen) Rechtsvorschriften zu prüfen ist (siehe insbesondere die Rn 38 ff dieser Entscheidung), was sich im Übrigen schon unmissverständlich aus dem klaren und unzweideutigen Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 ergibt. Der EuGH stellte daher fest, dass der Anspruch auf Familienleistung auch einer Person zustehen kann, die nicht in dem Mitgliedsstaat wohnt, der für die Gewährung der Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind (Rn 41).

Das Unionsrecht selbst vermittelt somit keinen originären Anspruch auf nationale Familienleistungen. Es ist nach wie vor Sache der Mitgliedstaaten, wem sie unter welchen Voraussetzungen wie lange Familienleistungen zuerkennen. Das Unionsrecht verlangt allerdings im Allgemeinen, dass diese Zuerkennung diskriminierungsfrei erfolgen muss, und im Besonderen, dass die Familienangehörigen einer Person, die in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fällt, so zu behandeln sind, als hätten alle Familienangehörigen ihren Lebensmittelpunkt in dem Mitgliedstaat, der Familienleistungen gewähren soll (zB ; ; ; ; ; ; ; ).

Die nach Art. 67 VO 883/2004 iVm Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU-Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird. Diese Fiktion besagt aber nur, dass zu unterstellen ist, dass alle Familienangehörigen im zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Ob etwa ein gemeinsamer Haushalt besteht, ist dagegen sachverhaltsbezogen festzustellen (zB ; ; ; ; ;  ; ).

Wer von den unionsrechtlich grundsätzlich als anspruchsberechtigte Personen anzusehenden Familienangehörigen tatsächlich primär oder sekundär oder gar keinen Anspruch auf österreichische Familienleistungen hat, ist daher nach nationalem Recht zu beurteilen (zB ; ; ; ; ).

Wie oben ausgeführt, hat gemäß § 2 Abs. 2 FLAG 1967 Anspruch auf Familienbeihilfe für ein (im Abs. 1 genanntes) Kind die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.

Da der Kindesvater im Streitzeitraum keinen gemeinsamen Haushalt mit seiner geschiedenen Ehegattin geführt hat, steht seinem Anspruch auf Familienbeihilfe der Umstand entgegen, dass primären Anspruch auf Familienbeihilfe die Person hat, zu deren Haushalt das Kind gehört, hier also die Kindesmutter.

Der vorrangige Anspruch auf Familienleistungen steht somit bei dem gegebenen Sachverhalt der Kindesmutter zu, solange die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach in der Person des Kindesvaters erfüllt sind.

Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (zuletzt ) ist durch die dargestellte Rechtsprechung des EuGH überholt. Die Ansicht des VwGH, dass eine überwiegende Kostentragung eines in Österreich erwerbstätigen Unionsbürgers, die bei bestehender Haushaltszugehörigkeit der Kinder zum anderen Elternteil nach dem anzuwendenden innerstaatlichem Recht keine Entscheidungsrelevanz hat, hier doch Voraussetzung für einen Differenzzahlungsanspruch sein soll, findet weder im Unionsrecht noch im innerstaatlichen Recht Deckung. Diese Rechtsansicht führte im Ergebnis regelmäßig zu einer Diskriminierung von Unionsbürgern (der haushaltsführenden Kindesmutter) gegenüber inländischen Staatsbürgern.

2.2 Abgabenrechtliche Geheimhaltungspflicht?

Gemäß § 48a Abs. 1 BAO besteht im Zusammenhang mit der Durchführung u.a. von Abgabenverfahren die Verpflichtung zur abgabenrechtlichen Geheimhaltung.

Gemäß § 48a Abs. 4 BAO ist die Offenbarung oder Verwertung von Verhältnissen oder Umständen eines anderen u.a. dann befugt, wenn sie der Durchführung eines Abgabenverfahrens dient.

Im Rahmen dieser Entscheidung müssen der Bf. die Einkommensverhältnisse ihres geschiedenen Ehegatten bekannt gegeben werden, da sonst eine Begründung unmöglich wäre, ob die Tätigkeit des Ehegatten einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Die Notwendigkeit der Kenntnis abgabenrechtlich erheblicher Umstände eines anderen ergibt sich im vorliegenden Beschwerdeverfahren aus den Abgabentatbeständen. Da die Bf. einen abgeleiteten Anspruch auf Familienbeihilfe aufgrund der Beschäftigung des Kindesvaters in Österreich hat, müssen ihr zur Verteidigung ihrer Rechtsposition alle Umstände offengelegt werden, die für die Beurteilung des Anspruches relevant sind (siehe Ritz, BAO6, § 48a Tz 20).

2.3 Streitzeitraum September bis Dezember 2015

Hinsichtlich dieses Zeitraumes releviert das Finanzamt in seinem Vorlagebericht, dass die Beschäftigung des Kindesvaters einen so geringen Umfang haben könnte, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt.

Der Kindesvater hat allerdings vom bis   Einkünfte in einer Höhe bezogen, die auf das Kalenderjahr umgerechnet einen Betrag von rund € 5000 ergeben. Dieses Ausmaß kann nicht mehr als untergeordnet und unwesentlich beurteilt werden, weshalb auch für den Streitzeitraum September bis Dezember 2015 Familienbeihilfe zusteht.

2.4 Streitzeitraum August 2015

Das Finanzamt beantragt im Vorlagebericht unter Hinweis auf Art. 59 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009, Familienbeihilfe auch für diejenigen Monate nicht zu gewähren, in denen der Kindesvater zum jeweiligen Monatsersten nicht in Österreich beschäftigt war.

Dem Erkenntnis des , ist hierzu Folgendes zu entnehmen:

"1 Mit Bescheid vom wies das Finanzamt den Antrag des slowakischen Mitbeteiligten auf Gewährung einer Differenzzahlung für seine drei in der Slowakei wohnhaften Kinder für den Monat Jänner 2014 ab. Der Mitbeteiligte sei laut Auskunft der Österreichischen Sozialversicherung erst ab Februar 2014 in Österreich beschäftigt gewesen.

2 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Mitbeteiligte vor, seine slowakische Ehefrau habe ihre Beschäftigung in Österreich bereits am aufgenommen. In der Slowakei habe sie für den Zeitraum bis  für die drei Kinder eine Familienleistung iHv 70,56 EUR erhalten. Daher stehe ihm für den Monat Jänner 2014 ein Anspruch auf "Ausgleichszahlung" zu.

3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies das Finanzamt die Beschwerde des Mitbeteiligten ab. Nach Art. 59 der VO Nr. 987/2009 bleibe für den Fall, dass sich während eines Kalendermonats die Zuständigkeit für die Auszahlung von Familienleistungen ändere, derjenige Mitgliedstaat zuständig, der zu Beginn des Kalendermonats zuständig gewesen sei.

4 Der Mitbeteiligte beantragte die Vorlage der Beschwerde an das Bundesfinanzgericht.

5 Im Rahmen der Beantwortung eines Vorhalts des Bundesfinanzgerichts gab der Mitbeteiligte bekannt, dass er vom bis zum in der Slowakei als arbeitslos gemeldet gewesen sei.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge. Diesem stehe ein, von seiner Ehefrau abgeleiteter, Anspruch auf Differenzzahlung für den Monat Jänner 2014 zu. Die Ehefrau des Mitbeteiligten sei vor ihrer Beschäftigung in Österreich in der Slowakei Studentin und nicht erwerbstätig gewesen. Die Slowakei habe ihr für den gesamten Monat Jänner 2014 eine Familienleistung ausbezahlt. Da nach § 53 FLAG EU-Bürger gleich wie österreichische Staatsbürger zu behandeln seien, sei die Ehefrau auch nach innerstaatlichem Recht für den gesamten Monat Jänner 2014 anspruchsberechtigt. Es liege somit kein Fall der Änderung der Zuständigkeit nach Art. 59 der VO Nr. 987/2009 vor, sondern ein Fall der Konkurrenz. Würden Leistungen in verschiedenen Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen gewährt, stünden an erster Stelle die durch eine Beschäftigung ausgelösten Ansprüche. Ziel der unionsrechtlichen Regelungen sei es, immer dem höchsten Anspruch zum Durchbruch zu verhelfen. Da die österreichische Familienbeihilfe über jener der Slowakei liege, sei Österreich zur Leistung einer Differenzzahlung für den Monat Jänner 2014 verpflichtet.

7 Die Revision erklärte das Bundesfinanzgericht für nicht zulässig, weil es sich nicht um eine Rechtsfrage handle, die einer Klärung durch den Verwaltungsgerichtshof bedürfe.

8 Gegen dieses Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts richtet sich die Amtsrevision des Finanzamts, in der zur Zulässigkeit vorgebracht wird, strittig sei die Anwendung des Art. 59 der VO Nr. 987/2009. Entgegen der Ansicht des Bundesfinanzgerichts liege kein Fall der Konkurrenz vor, sondern eine Änderung der Zuständigkeit nach Art. 59 der VO Nr. 987/2009, sodass kein Anspruch auf Differenzzahlung bestehe.

9 Der (unvertretene) Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und begründet.

11 Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rats vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU Nr. L 166 vom in der durch ABl.EU Nr. L 200 vom berichtigten Fassung (im Folgenden: VO Nr. 883/2004), lautet:

"Artikel 68

Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen

(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:

a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus

unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge:

an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

b)        Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:

i)        bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;

ii)        (...);

iii)        bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst

werden: der Wohnort der Kinder.

(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.

(3) (...)"

12 Art. 59 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU Nr. L 284 vom (im Folgenden: VO Nr. 987/2009), lautet:

"Artikel 59

Regelungen für den Fall, in dem sich die anzuwendenden Rechtsvorschriften und/oder die Zuständigkeit für die Gewährung von Familienleistungen ändern

(1) Ändern sich zwischen den Mitgliedstaaten während eines Kalendermonats die Rechtsvorschriften und/oder die Zuständigkeit für die Gewährung von Familienleistungen, so setzt der Träger, der die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gezahlt hat, nach denen die Leistungen zu Beginn dieses Monats gewährt wurden, unabhängig von den in den Rechtsvorschriften dieser Mitgliedstaaten für die Gewährung von Familienleistungen vorgesehenen Zahlungsfristen die Zahlungen bis zum Ende des laufenden Monats fort.

(2) Er unterrichtet den Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder die anderen betroffenen Mitgliedstaaten von dem Zeitpunkt, zu dem er die Zahlung dieser Familienleistungen einstellt. Ab diesem Zeitpunkt übernehmen der andere betroffene Mitgliedstaat oder die anderen betroffenen Mitgliedstaaten die Zahlung der Leistungen."

13 In der Amtsrevision wird nicht bestritten, dass dem Mitbeteiligten grundsätzlich ein, von seiner Ehefrau abgeleiteter, Anspruch auf Familienbeihilfe zustehen könnte. Strittig ist nur, ob dem Mitbeteiligten aufgrund der Beschäftigung seiner Ehefrau in Österreich ab dem bereits für den Monat Jänner 2014 ein Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich in Form einer Differenzzahlung zusteht.

14 Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob durch die Aufnahme der Beschäftigung mit durch die Ehefrau des Mitbeteiligten ein Zuständigkeitswechsel zwischen der Slowakei und Österreich hinsichtlich der Gewährung von Familienleistungen stattgefunden hat. In einem solchen Fall wäre nach Art. 59 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 die Slowakei verpflichtet, die Familienleistungen bis zum Ende des Monats fortzusetzen. Österreich wäre nach Art. 59 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009 erst ab dem Zeitpunkt der Einstellung der Familienleistungen durch die Slowakei zur Erbringung dieser Leistungen verpflichtet.

15 Eine Änderung der Zuständigkeit im Sinne des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 wäre im konkreten Fall gegeben, wenn durch die Aufnahme der Berufstätigkeit der Ehegattin mit Österreich nach den Prioritätsregeln des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 primär für die Gewährung der Familienleistungen zuständig werden würde.

16 Nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 gehen die durch eine Beschäftigung ausgelösten Ansprüche den durch den Wohnort ausgelösten Ansprüchen vor. Werden Leistungen in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten aufgrund der Beschäftigung gewährt, haben nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b der VO Nr. 883/2004 die Ansprüche gegen den Mitgliedstaat Vorrang, an dem sich auch der Wohnort der Kinder befindet.

17 Nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts waren die Kinder des Mitbeteiligten im Monat Jänner 2014 in der Slowakei wohnhaft. Die Ehefrau des Mitbeteiligten war vor der Aufnahme ihrer Beschäftigung in Österreich Studentin und nicht erwerbstätig. Beruht der Anspruch der Ehefrau des Mitbeteiligten für den Monat Jänner 2014 in der Slowakei darauf, dass sie und ihre Kinder ihren Wohnsitz in der Slowakei hatten, liegt mit der Aufnahme der Beschäftigung in Österreich mit ein Zuständigkeitswechsel vor. Ab diesem Zeitpunkt wäre primär Österreich für die Familienleistungen zuständig. Hier würde die spezielle Regelung des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 greifen, sodass erst ab Februar 2014 ein Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich bestehen könnte.

18 Etwas anderes würde jedoch gelten, wenn der Mitbeteiligte aufgrund seiner Arbeitslosigkeit im Monat Jänner 2014 in der Slowakei Arbeitslosengeld bezogen hätte. In diesem Fall wäre die Arbeitslosigkeit einer Beschäftigung gleichzuhalten (vgl. den Beschluss Nr. F1 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom zur Auslegung des Artikels 68 der VO Nr. Nr. 883/2004, 2010/C 106/04, ABl.EU C 106/11, vom ). Da nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b der VO Nr. 883/2004 bei einer Beschäftigung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten primär der Mitgliedstaat für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, in dem die Kinder wohnhaft sind, wäre durch die Aufnahme einer Beschäftigung der Ehefrau des Mitbeteiligten mit noch keine Änderung der Zuständigkeit im Sinne des Art. 59 der VO Nr. 987/2009 erfolgt. Vielmehr wäre im Monat Jänner 2014 weiterhin die Slowakei primär für die Gewährung der Familienleistungen zuständig gewesen. Jedoch bestünde durch die Aufnahme der Beschäftigung durch die Ehefrau des Mitbeteiligten nach Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 für den Monat Jänner 2014 auch in Österreich ein Anspruch auf Familienbeihilfe im Umfang der Differenzzahlung.

19 Da das Bundesfinanzgericht dies verkannt und keine Feststellungen zum Bezug von Arbeitslosengeld durch den Mitbeteiligten für den Monat Jänner 2014 getroffen hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben."

Für den gegenständlichen Beschwerdefall ist entscheidend, ob durch die Aufnahme der Beschäftigung durch den Kindesvater am eine Änderung der Zuständigkeit im Sinn des Art. 59 der VO (EG) Nr. 987/2009 eingetreten ist.

Durch die Beschäftigung der Bf. in Ungarn traf die primäre Zuständigkeit zur Erbringung von Familienleistungen durchgehend Ungarn. Hieran hat sich durch die Aufnahme der Beschäftigung durch den Kindesvater nichts geändert; da nunmehr eine Beschäftigung in zwei Mitgliedstaaten vorliegt, ist nach wie vor primär Ungarn aufgrund der Bestimmungen des Art. 68 Abs. 1 lit. b Z. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Erbringung von Familienleistungen verpflichtet, da der Wohnsitz der Kinder und der Bf. in Ungarn gelegen ist.

Dass Anwendungsvoraussetzung für Art. 59 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 eine Änderung der primären Zuständigkeit während eines Kalendermonats ist, ergibt sich auch aus Rz 15 des oben zitierten Erkenntnisses des VwGH.

Da also sowohl am als auch am die Slowakei primär zur Erbringung von Familienleistungen zuständig war, liegt keine Änderung der Zuständigkeit während eines Kalendermonats vor. Sohin steht der Bf. auch für den Monat August 2015 eine Differenzzahlung nach Art. 68 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zu.

Somit war die Beschwerde nur für die Monate Oktober und November 2014 sowie für Juli 2015 als unbegründet abzuweisen; in diesen Monaten war der Kindesvater in Österreich nicht beschäftigt. Für die übrigen Zeiträume, das sind die Monate Februar 2013 bis September 2014 sowie Dezember 2014 bis Juni 2015 und August 2015 bis Dezember 2015 war der angefochtene Bescheid aufzuheben.

Zulässigkeit einer Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts­hofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Da das Erkenntnis von der – wenn auch durch die zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes überholten – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig (vgl. ).

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
§ 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 5 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 5 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 53 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
Art. 67 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 2 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 11 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 60 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1
§ 48a Abs. 1 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 48a Abs. 4 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2019:RV.7100828.2018

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at