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OGH vom 13.09.2022, 10ObS103/22b

OGH vom 13.09.2022, 10ObS103/22b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Christina HartlWach (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Vodera (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, geboren * 1962, *, vertreten durch Mag. Franz Kienast, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1020 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 23/22m48, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag () erwarb der 1962 geborene Kläger 114 Beitragsmonate der Pflichtversicherung wegen Erwerbstätigkeit nach dem ASVG und war dabei als Verkäufer im Außendienst tätig, zuletzt (bis ) als Vertriebsmitarbeiter im Außendienst im Bereich Dialog und Daten im Gebiet Wien, Niederösterreich und Burgenland.

[2] Ausgehend von den gesundheitlichen Einschränkungen ist dem Kläger die Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter im Verkauf auch im Rahmen des Minimalanforderungsprofils nicht weiter möglich, weil das verbliebene medizinische Leistungskalkül überschritten wird. In der Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrags für Lehrlinge und Angestellte in Handelsbetrieben könnte der Kläger aber eine Angestellten-Berufstätigkeit als Informationsdienstangestellter in Handelsbetrieben ausführen.

[3] Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension ab.

[4] Die Vorinstanzen wiesen das auf Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension ab und Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gerichtete Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht verneinte den in der Berufung geltend gemachten Verstoß gegen die Anleitungs- und Belehrungspflicht unter Hinweis auf das Verhandlungsprotokoll. Es wäre Sache des Klägers gewesen, in der mündlichen Streitverhandlung darauf aufmerksam zu machen, dass die Protokollierung nicht dem tatsächlichen Verlauf der Verhandlung entspreche. Die Verweisung des Klägers von der (damaligen) Beschäftigungsgruppe 3 des (damaligen) Kollektivvertrags der Handelsangestellten in die unmittelbar nachgeordnete Beschäftigungsgruppe 2 sei mit keinem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden und somit zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[5] In der außerordentlichen Revision macht der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend.

[6] 1.1. Ein angeblicher Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens, der in der Berufung zwar geltend gemacht, vom Berufungsgericht aber verneint wurde, kann in der Revision – auch in Sozialrechtssachen (RISJustiz RS0043061) – nicht mehr gerügt werden (RS0042963). Dieser Grundsatz wäre nur dann unanwendbar, wenn das Berufungsgericht eine Erledigung der Mängelrüge infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hätte (RS0042963 [T52]; RS0043061 [T20]).

[7] 1.2. Das Berufungsgericht stützte die Verneinung des in der Berufung geltend gemachten Verstoßes gegen die Anleitungs- und Belehrungspflicht (über die Möglichkeit des in erster Instanz unvertretenen Klägers, Fragen an die Sachverständigen zu stellen) auf den Inhalt des Verhandlungsprotokolls, wonach der Kläger angab, keine Fragen an die Sachverständigen zu haben (ON 41 Seite 2). Werde ein Widerspruch gegen den Inhalt des Protokolls iSd § 212 Abs 1 ZPO – wie hier – nicht erhoben, könne eine inhaltliche Unrichtigkeit des Protokolls aber nicht mehr geltend gemacht werden.

[8] 1.3. Diese Beurteilung begründet weder den Fall einer unterlassenen Erledigung der Mängelrüge infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften noch jenen einer Verwerfung derselben mit aktenwidriger Begründung. Ein Verlangen nach einer Berichtigung des Protokolls wegen eines Protokollierungsfehlers ist nach der vom Berufungsgericht beachteten Rechtsprechung sofort zu stellen (5 Ob 187/07x; RS0120115); kommt ihm das Gericht nicht nach, kann – wiederum im Verhandlungstermin – Widerspruch zu Protokoll erhoben werden (10 Ob 17/04d [Pkt I.]). Die erstmalige Behauptung eines Protokollierungsfehlers in der Berufung stellt daher keinen (rechtzeitigen) Widerspruch iSd § 212 Abs 1 ZPO (idF vor der ZVN 2022; s nunmehr § 210 Abs 1 ZPO) dar, weswegen das Berufungsgericht zutreffend davon ausging, dass das Protokoll vollen Beweis über den Verlauf und Inhalt der Verhandlung liefert (§ 215 Abs 1 ZPO idF vor der ZVN 2022 [s nunmehr § 211 Abs 1 ZPO]).

[9] 2. Der Versicherte darf nicht auf Berufe verwiesen werden, die für ihn einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden. Unzumutbar ist der soziale Abstieg vor allem dann, wenn die Verweisungstätigkeit in den Augen der Umwelt ein wesentlich geringeres Ansehen genießt (RS0084890 [T10]). Fragen des sozialen Abstiegs können aber stets nur einzelfallbezogen beurteilt werden (RS0085599 [T30]; RS0084890 [T13]), sodass sich Rechtsfragen von der in § 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität dabei regelmäßig nicht stellen.

[10] 2.1.1. Die Einstufung einer Tätigkeit in einem Kollektivvertrag kann ein Indiz für die Einschätzung des sozialen Werts sein und daher zur Beurteilung des sozialen Abstiegs herangezogen werden (RS0084890 [T3, T9]). Die Verweisung eines Angestellten auf Tätigkeiten, die einer Beschäftigungsgruppe entsprechen, die der bisherigen Beschäftigungsgruppe unmittelbar nachgeordnet ist, wird in ständiger Rechtsprechung in der Regel für zulässig erachtet (RS0085599 [T6, T7, T32]). Dies gilt auch, wenn es sich dabei um Tätigkeiten mit einer geringeren Eigenverantwortung handelt (RS0085599 [T2, T5]).

[11] 2.1.2. Die Vorinstanzen gingen davon aus, dass die vom Kläger zuletzt ausgeübte und ihm nicht mehr mögliche Tätigkeit (Vertriebsmitarbeiter im Außendienst) der Beschäftigungsgruppe 3 des (damals geltenden) Kollektivvertrags für Angestellte im Handel und die dem Kläger noch zumutbare Verweisungstätigkeit (Informationsdienstangestellter in Handelsbetrieben) der Beschäftigungsgruppe 2 dieses Kollektivvertrags entsprächen. Gegen dieses (Einstufungs-)Ergebnis wendet sich der Kläger im Rechtsmittel nicht. Er steht vielmehr auf dem Standpunkt, dass nicht die Beschäftigungsgruppen des damals (2016) geltenden Kollektivvertrags, sondern die (neu formulierten) Beschäftigungsgruppen des Gehaltssystems NEU des zum Stichtag geltenden Kollektivvertrags für die Einschätzung, ob ein sozialer Abstieg vorliegt, heranzuziehen seien.

[12] 2.1.3. Richtig ist zwar, dass bei der Einstufungsfrage entscheidend ist, in welche Beschäftigungsgruppe zur Zeit des Stichtags eine Tätigkeit eingestuft würde, für die jene Ausbildung und jene Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden, die für den Versicherten in seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit erforderlich waren und auch angewendet wurden (RS0084890). Dies ermöglicht die Berücksichtigung des Umstands, dass Berufstätige, die ihren Beruf längere Zeit nicht ausgeübt haben, später nur mehr in geringer eingestuften Berufstätigkeiten eingesetzt werden (RS0084926).

[13] 2.1.4. Der vom Kläger geforderten Heranziehung des Gehaltssystems NEU des zum Stichtag anzuwendenden Kollektivvertrags hielt allerdings bereits das Berufungsgericht entgegen, dass die bisherigen Beschäftigungsgruppen ihre Gültigkeit zum Stichtag noch nicht gänzlich verloren hatten („Gehaltssystem ALT“ des zum Stichtag geltenden Kollektivvertrags). Darauf geht der Kläger in der außerordentlichen Revision nicht näher ein. Seine Behauptung, dass der neue Kollektivvertrag mit den neu definierten Beschäftigungsgruppen A bis H (neu) anzuwenden wäre, wenn er einen Verweisungsberuf annehmen würde, übergeht die Übergangsbestimmungen des zum Stichtag anzuwendenden Kollektivvertrags, nach denen dies (mit Ausnahmen) nur für nach dem neu gegründete oder erstmals dem Kollektivvertrag unterliegende Betriebe galt und es ansonsten (bis ) einer Überführung des jeweiligen Betriebs durch Betriebsvereinbarung in das Gehaltssystem NEU bedurfte (s Abschnitt 3) C. Punkt 1. und 3. des zum Stichtag anwendbaren Kollektivvertrags). Das bisherige Gehaltssystem ALT war somit jedenfalls für die zuletzt vom Kläger ausgeübte Tätigkeit maßgebend und es konnte darüber hinaus auch bei einer zum Stichtag angenommenen Verweisungstätigkeit Anwendung finden. Wenn die Vorinstanzen davon ausgingen, dass dieses Gehaltssystem (auch noch zum Stichtag) als Indiz für die Einschätzung des sozialen Werts der zu vergleichenden Tätigkeiten zum Stichtag herangezogen werden kann, begegnet dies somit keinen Bedenken.

[14] 2.2.1. Wesentlich für die Beurteilung eines unzumutbaren sozialen Abstiegs ist im Übrigen die Stellung des Angestellten in der Betriebshierarchie, die damit verbundene Verantwortung für den Betriebsablauf und das hieraus resultierende Ansehen, das eine bestimmte Tätigkeit in den Augen der Umwelt genießt (RS0085599 [T10]).

[15] 2.2.2. Mit dieser Rechtsprechung steht die Beurteilung der Vorinstanzen im Einklang. Der Kläger sieht einen sozialen Abstieg (ungeachtet der kollektivvertraglichen Einstufung der Tätigkeiten) im Verlust eigener Verantwortung und der weitgehend selbständigen Kundenbetreuung. Die geringere Eigenverantwortung ist nach der Rechtsprechung allerdings kein Grund für die Annahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs, weil ein Versicherter gewisse Einbußen an Entlohnung und sozialem Prestige hinnehmen muss (RS0085599 [T2, T5, T14]; RS0084890 [T9]). Dementsprechend billigte die Rechtsprechung etwa die Verweisung eines einfachen Vertreters im Außendienst auf die Tätigkeit eines Büroangestellten ohne besondere Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit (RS0085727) oder eines als Außendienstmitarbeiter tätigen Versicherten auf einfache Angestelltentätigkeiten im Postein- und -auslauf (10 ObS 95/07d). Auch mit der Behauptung, dass eine konkretere Darstellung des sozialen Abstiegs nicht möglich sei, weil der Verweisungsberuf „nur abstrakt“ sei und kaum mit der bisherigen konkreten Tätigkeit verglichen werden könne, zeigt der Revisionswerber nicht auf, inwiefern das Berufungsgericht den ihm zukommenden Ermessensspielraum überschritten hätte.

[16] 3. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00103.22B.0913.000

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