VwGH vom 21.03.2023, Ro 2021/12/0005

VwGH vom 21.03.2023, Ro 2021/12/0005

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma sowie Hofrätin Mag.a Nussbaumer-Hinterauer und Hofrat Mag. Cede als Richterin und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Binder, über die Revision des W R in G, vertreten durch Berchtold & Kollerics Rechtsanwälte in 8010 Graz, Raubergasse 16/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W221 2235824-1/2E, betreffend Vorschuss zur besonderen Hilfeleistung gemäß §§ 23a und 23b GehG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesministerin für Justiz), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1Der Revisionswerber steht in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund. Er wurde am im Rahmen seiner Dienstverrichtung in einer Justizanstalt durch eine dort untergebrachte Person am linken Auge verletzt, weil ihm diese ins Gesicht spuckte. Dabei gelangte ein Fremdkörper in sein linkes Auge. Er befand sich vom 2. Jänner (untertägig) bis zum im Krankenstand.

2Der Vorfall vom wurde von der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (nunmehr: Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau - BVAEB) mit Schreiben vom als Dienstunfall gewertet.

3Ein von der Staatsanwaltschaft Graz aufgrund des Vorfalls vom eingeleitetes Ermittlungsverfahren wurde hinsichtlich der §§ 83 Abs. 2, § 84 Abs. 2, 15, 269 Abs. 1 erster Fall, 107 und 115 Abs. 1 StGB gemäß § 190 Z 1 StPO bzw. § 190 Z 2 StPO eingestellt.

4Der Revisionswerber machte bei einem Bezirksgericht mit Mahnklage einen Schmerzengeldanspruch in Höhe von EUR 500,-- geltend; der bedingte Zahlungsbefehl vom wurde rechtskräftig und vollstreckbar.

5Mit Antrag vom begehrte der Revisionswerber vom Bund gemäß § 9 Wachebediensteten-Hilfeleistungsgesetz (WHG) einen Vorschuss auf die rechtskräftig zugesprochenen Ansprüche in Höhe von EUR 500.

6Mit Schreiben vom teilte die Dienstbehörde mit, aus § 23b Abs. 5 Gehaltsgesetz 1956 (GehG) ergebe sich lediglich eine subsidiäre Leistungspflicht des Bundes. Der Revisionswerber werde daher ersucht, seine Ansprüche zunächst beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen - Sozialministeriumservice geltend zu machen. Sobald dort ein Verfahren anhängig gemacht worden sei, werde das Verfahren vor der Dienstbehörde nach § 38 AVG bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vor dem Sozialministeriumservice ausgesetzt.

7Ein beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen - Sozialministeriumservice nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) eingebrachter Antrag des Revisionswerbers vom auf Hilfeleistungen nach dem VOG wurde mit Bescheid vom abgewiesen. Mit Schreiben vom ersuchte der Revisionswerber die Dienstbehörde um Wiederaufnahme der Bearbeitung seines Antrages gemäß § 9 WHG.

8Mit Schreiben vom teilte die Dienstbehörde mit, dass sie beabsichtige, den Antrag des Revisionswerbers vom abzuweisen, weil die in § 23a GehG verankerten Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Dem Revisionswerber seien weder Heilungskosten erwachsen noch sei dessen Erwerbsfähigkeit voraussichtlich durch mindestens zehn Tage gemindert gewesen.

9Mit Stellungnahme vom führte der Revisionswerber aus, die mit Antrag vom geltend gemachten Ansprüche seien aufgrund des Zeitpunktes des Dienstunfalles noch nach § 9 WHG zu beurteilen. Aber sie seien auch im Sinn der §§ 23a bzw. 23b GehG gerechtfertigt, weil sie sich nicht auf Heilungskosten, sondern ausschließlich auf Schmerzengeld bezögen. Die Voraussetzungen seien somit jedenfalls erfüllt, da es für die Geltendmachung von Schmerzengeld sowohl nach § 9 WHG als auch nach dem GehG unerheblich sei, ob die Erwerbsfähigkeit durch mindestens zehn Tage gemindert sei. Darüber hinaus sei für die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht nur der Krankenstand ausschlaggebend, sondern die Minderung an sich.

10Mit Bescheid vom wies die Dienstbehörde den Antrag auf Bevorschussung der rechtskräftig zugesprochenen Ansprüche in der Höhe von EUR 500 ab. Sie führte nach Wiedergabe des Verfahrensganges aus, einem Bescheid seien - wenn das Gesetz nichts Anderes bestimme - die Sach- und Rechtslage, die im Zeitpunkt seiner Erlassung gegeben bzw. maßgeblich seien, zugrunde zu legen. Das WHG sei mit im Zuge der Dienstrechts-Novelle 2018 aufgehoben worden. Die entsprechenden Bestimmungen des GehG (§§ 23a ff) seien mit in Kraft getreten. Übergangsbestimmungen seien nicht vorgesehen worden. Daher seien richtigerweise die §§ 23a ff GehG anzuwenden. Im Anschluss zitierte die Dienstbehörde § 23a GehG, auf dessen Grundlage spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.

11Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies die Dienstbehörde die - eine Verletzung von Verfahrensvorschriften und Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend machende - Beschwerde des Revisionswerbers ab. Ergänzend führte sie in rechtlicher Hinsicht aus, der Revisionswerber habe - trotz mehrfacher Möglichkeit dazu - keine Belege für etwaig entstandene Heilungskosten vorgelegt. Betreffend das Vorbringen des Revisionswerbers, wonach für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht nur der Krankenstand ausschlaggebend sei, sei festzuhalten, dass sich dieser von 2. Jänner (untertägig) bis im Krankenstand befunden habe. Gemäß Punkt 2. D. 6. des Vollzugshandbuchs übten Strafvollzugsbedienstete einen verantwortungsvollen und mit Gefahren verbundenen Dienst aus. Sie hätten dafür zu sorgen, dass sie während der Ausübung des Dienstes voll wahrnehmungs-, handlungs- und reaktionsfähig seien. Die Dienstbehörde gehe daher davon aus, dass der Revisionswerber seinen Dienst im Anschluss an seinen Krankenstand angetreten habe, weil ihm eine Dienstverrichtung ohne Einschränkung möglich gewesen sei. Ansonsten wäre er zur Meldung über seine (eingeschränkte) Dienstfähigkeit verpflichtet gewesen. Darüber hinaus müssten Exekutivbedienstete den „allgemeinen physischen und psychischen Anforderungen in Justizanstalten“ entsprechen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinn des § 23a GehG sei daher nicht vorgelegen. Anhaltspunkte für die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung im Sinn des § 52 Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 (BDG 1979) seien ebenso nicht vorgelegen.

12Mit dem in Revision gezogenen - nach einem Vorlageantrag des Revisionswerbers, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, ergangenen - Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab. Die Revision erklärte es für zulässig.

13Dabei stellte das Bundesverwaltungsgericht unter anderem fest, der Revisionswerber habe sich vom 2. Jänner (untertägig) bis zum aufgrund eines Dienstunfalles im Krankenstand befunden. Begründend führte es aus, im gegenständlichen Fall seien die §§ 23a sowie 23b GehG anzuwenden. Das Bestehen eines Anspruchs des Revisionswerbers sei nach diesen Bestimmungen zu prüfen, weil der Gesetzgeber im vorliegenden Fall keine (Übergangs-)Bestimmung zur weiteren Anwendung des WHG getroffen habe. Da der Revisionswerber nur vom 2. Jänner bis im Krankenstand gewesen sei, sei seine Erwerbsfähigkeit nicht gemäß § 23a Z 3 GehG durch mindestens zehn Tage gemindert gewesen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bestehe ein unauflösbarer systematischer Zusammenhang zwischen § 23a sowie § 23b GehG. § 23a GehG regle die allgemeinen sowie § 23b GehG die besonderen Anspruchsvoraussetzungen für eine besondere Hilfeleistung/einen Vorschuss. Da es im vorliegenden Fall bereits am Vorliegen der „allgemeinen“ Anspruchsvoraussetzungen des § 23a Z 3 GehG scheitere, erübrige sich eine Prüfung der besonderen Anspruchsvoraussetzungen des § 23b GehG. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts decke sich die Voraussetzung der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ mit der Dauer des Krankenstandes, weil nicht davon ausgegangen werden könne, dass ein Beamter, der in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei, seinem Dienst ordnungsgemäß nachgehen könne und diesen überhaupt antreten würde.

14Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht für zulässig, weil es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Auslegung des Begriffs der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ gemäß § 23a Z 3 GehG und der Frage, ob diese mit der Dauer des Krankenstandes gleichgesetzt werden könne, fehle.

15Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die inhaltliche Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Revision. Die Dienstbehörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie beantragte, der Revision keine Folge zu geben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß §12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

16Die Revision ist wegen Abweichens des Bundesverwaltungsgerichts von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der in der Zulassungsbegründung aufgeworfenen Rechtsfrage, auf die sich auch die Zulässigkeitsbegründung der Revision bezog, zulässig. Sie ist auch berechtigt.

17Zur anzuwendenden Rechtslage wird in analoger Anwendung des § 43 Abs. 2 VwGG auf den hg. Beschluss vom , Ro 2019/12/0004, verwiesen.

18Zu der in der Zulassungsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts und in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgeworfenen Rechtsfrage der Auslegung des Begriffs der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ gemäß § 83c GehG iVm § 4 Abs. 1 Z 1 und 2 WHG oder § 23a Z 3 GehG und, ob eine solche mit der Dauer des Krankenstandes gleichgesetzt werden könne, genügt es, auf die in diesem Zusammenhang ergangene ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen. Danach ist der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen (vgl. etwa , zum Tiroler Beamten- und Lehrer-Kranken- und Unfallfürsorgegesetz 1998 - Tir. BLKUFG 1998, mit Verweis auf , zu § 101 Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz- B-KUVG). Die Erwerbsfähigkeit eines Menschen ist nämlich seine Fähigkeit, unter Ausnützung der Arbeitsmöglichkeiten, die sich nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf dem ganzen Gebiet des Erwerbslebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen (vgl. etwa , zum Tir. BLKUFG 1998, mit Verweis auf , zum Oö. Lehrer-Kranken- und Unfallfürsorgegesetz).

19Indem das Bundesverwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit der Dauer des Krankenstandes gleichsetzte und es aufgrund dieser unrichtigen Rechtsansicht unterließ, entsprechende Sachverhaltsfeststellungen zum Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit und der dadurch bedingten tatsächlichen Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit - unter Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens (vgl. etwa ) - zu treffen, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit einem sekundären Feststellungsmangel, sodass es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtwidrigkeit aufzuheben war.

20Der Ausspruch über den Aufwandersatz beruht auf §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz von „ERV-Kosten“ gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil der durch die genannte Verordnung pauschaliert festgesetzte Schriftsatzaufwand auch diese abdeckt (vgl. etwa -0083, mwN).

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2023:RO2021120005.J00

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