VwGH vom 11.05.2023, Ra 2022/22/0134
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher, Hofrat Dr. Schwarz sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der A C, vertreten durch die Nemetschke Huber Koloseus Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Rudolfsplatz 4/1, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW-151/085/7966/2022, betreffend Aufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde (der Landeshauptmann von Wien) den Antrag der Revisionswerberin, einer serbischen Staatsangehörigen, auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 iVm. Abs. 7 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zurück und stellte fest, dass die Revisionswerberin nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts falle.
2Begründend führte die belangte Behörde aus, bei der von der Revisionswerberin mit Herrn X, einem ungarischen Staatsangehörigen, in Serbien geschlossenen Ehe, auf die sich der gegenständliche Antrag vom auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte stütze, handle es sich aus näher genannten Gründen um eine Aufenthaltsehe.
3In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde rügte die Revisionswerberin u.a., dass ihr Ehegatte von der belangten Behörde nicht als Zeuge einvernommen worden sei. Die belangte Behörde habe sich lediglich auf einen Erhebungsbericht der Landespolizeidirektion Wien (im Folgenden LPD) vom gestützt. Zudem beantragte die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
4Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab und bestätigte den angefochtenen Bescheid mit der Maßgabe, dass der Antrag der Revisionswerberin auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgewiesen werde. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
5Das Verwaltungsgericht, das sich mit der Frage des Vorliegens einer Aufenthaltsehe nicht befasste, stellte fest, der ungarische Ehegatte der Revisionswerberin sei seit nicht mehr zur Sozialversicherung gemeldet. Zuletzt sei er von 14. Jänner bis als Arbeiter bei der K GmbH gemeldet gewesen. Er verfüge weiterhin über eine Hauptwohnsitzmeldung an einer näher genannten Adresse in Wien. Die Revisionswerberin sei seit an einer anderen Adresse in Wien mit Hauptwohnsitz gemeldet.
Der Ehegatte der Revisionswerberin gehe derzeit keiner Beschäftigung im Bundesgebiet nach. Er übe auch keine selbständige Erwerbstätigkeit aus. Trotz seiner weiterhin aufrechten Hauptwohnsitzmeldung in Wien mache er auch nicht auf andere Weise von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch. Gegenwärtig komme ihm daher kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu, weshalb auch die Revisionswerberin von ihm kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht ableiten könne.
Im Übrigen sei im Bericht der von der belangten Behörde gemäß § 37 Abs. 4 NAG befassten LPD abschließend ausgeführt worden, dass aufgrund einer Hauserhebung angenommen werden müsse, dass „die Wohnung“ unbewohnt sei. Alle Befragten würden ausschließen, dass dort ein Ehepaar seinen ordentlichen Hauptwohnsitz begründet habe. Der aktuelle Aufenthaltsort der Revisionswerberin habe nicht eruiert werden können.
6Die im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen beruhten auf dem eindeutigen Akteninhalt. Dass der Ehegatte der Revisionswerberin gegenwärtig sein Freizügigkeitsrecht nicht ausübe, ergebe sich aus der Abfrage der Sozialversicherungsdaten, denen zu entnehmen sei, dass er weder selbständig noch unselbständig erwerbstätig sei, nicht beim Arbeitsmarktservice gemeldet sei und auch über keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Bundesgebiet verfüge.
Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass gegenständlich ausschließlich die Rechtsfrage zu behandeln sei, ob der EWR-Bürger einen Freizügigkeitssachverhalt erfüllt habe. Der Revisionswerberin sei mit Schreiben vom vorgehalten worden, dass sie aktuell mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 51 NAG durch ihren Ehegatten in Österreich kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von einem EWR-Bürger ableiten könne. Daher habe ungeachtet eines diesbezüglichen Antrags von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen werden können.
7Der für Angehörige von EWR-Bürgern einschlägige § 54 NAG sehe - so das Verwaltungsgericht rechtlich - für deren zum Aufenthalt berechtigte Familienangehörige in Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vor. Da der ungarische Ehegatte der Revisionswerberin im Bundesgebiet weder eine selbständige noch eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausübe und er auch sonst von seinem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch mache, komme ihm kein Aufenthaltsrecht im Sinn von § 51 Abs. 1 NAG zu. Folglich lägen auch die Voraussetzungen für die Ausstellung der von der Revisionswerberin beantragten Aufenthaltskarte nicht vor.
Soweit in der Beschwerde vorgebracht werde, gegenständlich wäre gemäß § 55 Abs. 3 NAG vorzugehen, sei darauf hinzuweisen, dass vorliegend im Gegensatz zu dem dem Erkenntnis , zugrundeliegenden Fall noch keine Aufenthaltskarte ausgestellt worden sei und kein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden sei, weshalb eine Vorgangsweise gemäß § 55 Abs. 3 NAG nicht in Betracht komme.
Sohin sei spruchgemäß zu entscheiden gewesen.
8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit u.a. geltend macht, das Verwaltungsgericht habe begründungslos und darüber hinaus zu Unrecht von der Einvernahme des Ehegatten der Revisionswerberin abgesehen. Darüber hinaus habe das Verwaltungsgericht § 55 Abs. 3 NAG missachtet.
9Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG aus nachstehenden Erwägungen als zulässig; sie ist auch berechtigt.
11Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG lauten auszugsweise:
„4. Hauptstück
Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht
Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate
§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
1.in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;
2.für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder
3.als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.
(2) Die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß Abs. 1 Z 1 bleibt dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er
1.wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist;
2.sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt;
3.sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, oder
4.eine Berufsausbildung beginnt, wobei die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft voraussetzt, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.
...
Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers
§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.
...
(7) Liegt eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30), eine Zwangsehe oder Zwangspartnerschaft (§ 30a) oder eine Vortäuschung eines Abstammungsverhältnisses oder einer familiären Beziehung zu einem unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger vor, ist ein Antrag gemäß Abs. 1 zurückzuweisen und die Zurückweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fällt.
Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate
...
(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.
...“
12Das angefochtene Erkenntnis erweist sich schon deshalb als rechtswidrig, weil das Verwaltungsgericht verkannte, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dann, wenn die Behörde den verfahrenseinleitenden Antrag zurückgewiesen hat, das Verwaltungsgericht lediglich befugt ist, darüber zu entscheiden, ob die von der Behörde ausgesprochene Zurückweisung als rechtmäßig anzusehen ist (vgl. etwa , 0060, mwN; , Rn. 17).
13Vorliegend hatte die belangte Behörde ausgehend davon, dass es sich gegenständlich um eine Aufenthaltsehe handle, den Antrag der Revisionswerberin auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 7 NAG zurückgewiesen und festgestellt, dass sie nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts falle. Sache des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht war daher die Zurückweisungsentscheidung der Behörde sowie die damit gemäß § 54 Abs. 7 NAG zu verbindende Feststellung.
14Folglich war vom Verwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren zu klären, ob die dem Bescheid der belangten Behörde vom zugrundeliegende (und von der Revisionswerberin in der Beschwerde bestrittene) Annahme zutrifft, dass es sich bei der zwischen der Revisionswerberin und Herrn X geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe handle. Darauf aufbauend war die Rechtmäßigkeit des Bescheides der belangten Behörde zu beurteilen. Der vor dem Verwaltungsgericht bekämpfte Bescheid wäre sodann für den Fall, dass das Verwaltungsgericht zum Ergebnis gelangte, dass keine Aufenthaltsehe vorliege, (in Stattgabe der Beschwerde) aufzuheben gewesen oder für den Fall, dass das Verwaltungsgericht das Bestehen einer Aufenthaltsehe bejahen sollte, (durch Abweisung der Beschwerde) zu bestätigen gewesen.
15Bereits dadurch, dass das Verwaltungsgericht über den gegenständlichen Antrag der Revisionswerberin, der von der belangten Behörde zurückgewiesen worden war, meritorisch entschied, verkannte es somit die Rechtslage.
16Überdies wäre im Revisionsfall zwecks Klärung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts (Bestehen eines Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zwischen der Revisionswerberin und ihrem Ehegatten) die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht unerlässlich gewesen (vgl. etwa , Rn. 13 ff).
17Klarstellend sei zudem noch angemerkt, dass in Fällen des § 54 Abs. 7 NAG gemäß dem vorletzten Satz des § 55 Abs. 3 NAG nicht nach dieser Bestimmung vorzugehen ist (vgl. etwa , Rn. 5, am Ende). Sonst aber wäre, wenn die Voraussetzungen für die Ausstellung der beantragten Aufenthaltskarte nicht gegeben sind, die in § 55 Abs. 3 NAG vorgesehene Vorgangsweise einzuhalten (vgl. etwa , Rn. 5; vgl. ferner , Rn. 14 f), wobei es vor dem Hintergrund des oben wiedergegebenen Inhalts des § 51 NAG für die Beurteilung eines Aufenthaltsrechts nach dieser Bestimmung nicht ausreicht, nur auf die Sozialversicherungsdaten abzustellen.
18Aus den dargelegten Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der vorrangig wahrzunehmenden Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
19Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 1 Z 4 und Z 5 VwGG unterbleiben.
20Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022220134.L00 |
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