VwGH vom 24.01.2023, Ra 2022/19/0149
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des I S, vertreten durch Dr. Georg Muhri, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Neutorgasse 47/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W204 2245965-1/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der minderjährige Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, in Afghanistan herrsche Krieg. Die Taliban hätten ihm nicht erlaubt, in die Schule zu gehen, und hätten ihn aufgefordert, für sie zu arbeiten.
2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich des Status des Asylberechtigten ab, erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
5In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vorgebracht, es liege ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor, weil die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Unrecht unterblieben sei.
6Die Revision erweist sich in Hinblick auf dieses Vorbringen als zulässig und auch berechtigt.
7Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
8Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa , mwN).
9Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
10Entgegen der Ansicht des BVwG trat der Revisionswerber der Beweiswürdigung des BFA in seiner Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert entgegen, indem er zu Recht darauf hingewiesen hat, dass das BFA die Minderjährigkeit des Revisionswerbers bei der Beurteilung seines Vorbringens nicht entsprechend berücksichtigt habe. Vor dem Hintergrund der Minderjährigkeit des Revisionswerbers, der im Zeitpunkt der Erstbefragung sowie niederschriftlichen Einvernahme erst 14 Jahre alt war, hätte sein Vorbringen nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden dürfen (vgl. , sowie in diesem Zusammenhang auch , wonach es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf; zum Erleben des fluchtauslösenden Ereignisses im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren siehe zudem , mwN).
11Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG konnte im vorliegenden Fall daher nicht die Rede sein, weshalb die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht vorlagen.
12Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des (wie hier gegeben) Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. , mwN).
13Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022190149.L00 |
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