VwGH vom 27.06.2023, Ra 2022/17/0227
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Mag. Berger und Dr. Horvath als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die Revision des S G, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , L504 2261359-1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und der VertriebenenVO (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger der Türkei und langjähriger Lebensgefährte einer ukrainischen Staatsangehörigen, mit der er bis zur gemeinsamen Reise nach Österreich schon in Kiew mehrere Jahre und nunmehr in Österreich in einem Haushalt zusammenlebte und -lebt. Der Lebensgefährtin des Revisionswerbers kommt in Österreich ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht nach § 1 Z 1 der Vertriebenen-Verordnung (VertriebenenVO) zu.
2Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom wurde über Antrag des Revisionswerbers festgestellt, dass ihm kein „vorläufiges“ Aufenthaltsrecht für Vertriebene nach § 62 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) iVm. der VertriebenenVO zukomme. Unter einem wurde sein Antrag auf Ausstellung eines Ausweises für Vertriebene nach § 62 Abs. 4 AsylG 2005 zurückgewiesen, seinem Antrag auf Gewährung einer einstweiligen Anordnung nach dem Unionsrecht nicht Folge gegeben, ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 zuerkannt und gemäß § 9 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung (für die Dauer des Aufenthaltsrechts seiner Lebensgefährtin) vorübergehend für unzulässig erklärt.
3Der Revisionswerber erhob dagegen Beschwerde, wobei er die Feststellung der vorübergehenden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung von der Anfechtung ausnahm. Wie schon in seinem verfahrenseinleitenden Antrag an das BFA führte der Revisionswerber in der Beschwerde aus, dass ihm als Lebensgefährten einer ukrainischen Staatsangehörigen schon nach dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes, ABl. 2022 L 71, 1, sowie nach der genannten MassenzustromRL, ABl. 2001 L 212, 12, selbst unionsrechtlich zwingend ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zukomme. Dies begründete er unter anderem durch eine Gegenüberstellung verschiedener Sprachfassungen von Art. 2 Abs. 4 lit. a des Durchführungsbeschlusses, die darauf schließen lasse, dass die in § 2 Z 1 iVm. § 1 Z 3 VertriebenenVO vorgesehene Beschränkung der vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung auf Ehegatten und eingetragene Partner ukrainischer Staatsangehöriger wegen der insbesondere aus Art. 8 EMRK abzuleitenden Gleichstellung mit bloßen Lebensgefährten im (sonstigen) österreichischen Ausländerrecht unionsrechtswidrig und daher auf den Revisionswerber als Lebensgefährten einer Ukrainerin nicht anzuwenden sei. Folglich wäre festzustellen gewesen, dass dem Revisionswerber das begehrte Aufenthaltsrecht zukomme. Auch beantragte der Revisionswerber, ihn sowie seine Lebensgefährtin einzuvernehmen.
4Das Bundesverwaltungsgericht wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig. Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass der Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheine.
5Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, dass das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf Art. 47 Abs. 2 GRC nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen.
Unter einem beantragte der Revisionswerber Verfahrenshilfe im Umfang der Befreiung von der Pflicht zur Entrichtung der Eingabengebühr, die ihm mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom gewährt wurde.
6Das BFA erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.
7Mit Schriftsatz vom beantragte der Revisionswerber beim Bundesverwaltungsgericht - unter Berufung auf dessen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes () dafür gegebene Zuständigkeit - mit näherer Begründung zur seiner Ansicht nach bestehenden Dringlichkeit der Angelegenheit die Gewährung von vorläufigem Rechtschutz durch Erlassung einer einstweiligen Anordnung auf Grund des Unionsrechts für die Dauer des Revisionsverfahrens.
8Mit Schriftsatz vom stellte der Revisionswerber „in analoger Anwendung des § 30b VwGG“ beim Bundesverwaltungsgericht einen Vorlageantrag betreffend seinen Antrag auf vorläufigen Rechtschutz und ersuchte um Erlassung einer einstweiligen Anordnung auf Grund des Unionsrechts für die Dauer des Revisionsverfahrens. Eventualiter beantragte er den Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung über diesen Antrag auf den Verwaltungsgerichtshof unmittelbar auf Grund des Unionsrechts.
Begründend führte der Revisionswerber im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht seinen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes durch Erlassung einer einstweiligen Anordnung bislang nicht erledigt habe. Aus dem unionsrechtlichen Gebot, effektiven Rechtschutz zu gewährleisten, sei in analoger Anwendung des § 30b VwGG die Zulässigkeit der Vorlage dieses Antrages an den Verwaltungsgerichtshof mit der Wirkung der Begründung von dessen Zuständigkeit zur Gewährung vorläufigen Rechtschutzes abzuleiten. Sollte diese Analogie ausscheiden, werde dieser Zuständigkeitsübergang hilfsweise unmittelbar auf Grund des Unionsrechts beantragt. Denn der durch das Fristsetzungsverfahren nach § 38 VwGG bereitgestellte Säumnisschutz würde angesichts der damit verbundenen Verfahrensdauer dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot nicht genügen.
Das Bundesverwaltungsgericht legte den Vorlageantrag dem Verwaltungsgerichtshof vor.
9Mit Schriftsatz vom regte der Revisionswerber - in der Annahme, dem Verwaltungsgerichtshof wären Aktenstücke nicht vorgelegt worden - an, dieser möge die bereits unmittelbar auf Grund des Unionsrechts auf ihn übergangene Zuständigkeit für den Antrag auf vorläufigen Rechtschutz vom durch Erlassung einer einstweiligen Anordnung in Anspruch nehmen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Zur Revision:
10Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zulässig und begründet.
11 Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinne des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Bei einem rechtswidrigen Unterlassen der nach Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC erforderlichen mündlichen Verhandlung ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. , sowie , Ra 2023/16/0005, jeweils mwN).
Der EGMR hielt in seiner Judikatur unter anderem fest, dass der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung in Fällen gerechtfertigt sein könne, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden (vgl. EGMR , Saccoccia/Österreich, 69917/01, Z 76, unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung; , Efferl/Österreich, 13556/07; , Tusnovics/Österreich, 24719/12, Z 21). In diesem Zusammenhang gelangte der EGMR etwa in Bezug auf die von einem Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, ob es sich bei einem bestimmten Bauernhof um einen Erbhof handle, zu dem Schluss, dass dessen Beschwerde komplexe Rechts- und Tatfragen aufwerfe, weshalb das Gericht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht hätte verzichten dürfen (vgl. EGMR , Osinger/Österreich, 54645/00; vgl. zum Ganzen auch , mwN).
12Der Revisionswerber brachte im Verfahren vor dem BFA wie auch in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht vor, dass ihm als Lebensgefährten einer ukrainischen Staatsangehörigen unionsrechtlich ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet nach der MassenzustromRL und dem deren Anwendung anordnenden Durchführungsbeschluss zukomme, das nach der insoweit unionsrechtswidrigen österreichischen VertriebenenVO nicht vorgesehen sei. Das unionsrechtlich begründete Aufenthaltsrecht leitet der Revisionswerber aus einer Gegenüberstellung verschiedener Sprachfassungen von Art. 2 Abs. 4 lit. a des Durchführungsbeschlusses ab. Aus Unterschieden der deutschen Sprachfassung im Vergleich zu anderen Sprachfassungen des Durchführungsbeschlusses schließt der Revisionswerber, dass die in § 2 Z 1 iVm. § 1 Z 3 VertriebenenVO vorgesehene Beschränkung der vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung auf Ehegatten und eingetragene Partner ukrainischer Staatsangehöriger wegen der insbesondere aus Art. 8 EMRK abzuleitenden Gleichstellung von Lebensgefährten mit Ehegatten im österreichischen Ausländerrecht im Lichte der Vorgaben des Art. 2 Abs. 4 lit. a des Durchführungsbeschlusses und Art. 15 Abs. 1 lit. a MassenzustromRL unionsrechtswidrig und deswegen auf den Revisionswerber als Lebensgefährten einer Ukrainerin nicht anzuwenden sei; dem Vorbringen nach wäre unmittelbar auf Grund des Unionsrechts festzustellen gewesen, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zukomme. Vor diesem Hintergrund kann fallbezogen nicht davon ausgegangen werden, dass das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Frage, ob dem Revisionswerber ein Aufenthaltsrecht zukommt, Rechtsfragen zu entscheiden hatte, die nicht übermäßig komplex sind, weshalb auf Grund des Art. 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten war (vgl. dazu erneut ), zumal die Revision zutreffend aufzeigt, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit dem unionsrechtlichen Vorbringen in seinen rechtlichen Erwägungen nicht auseinandersetzt und auch nicht begründet, weswegen die Durchführung einer Verhandlung dennoch hätte entfallen können.
13Das angefochtene Erkenntnis war daher schon wegen Verletzung der Verhandlungspflicht gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Zu den Anträgen betreffend das Begehren auf Zuerkennung vorläufigen Rechtschutzes:
15Der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes ist die Sicherung der vollen Wirksamkeit des Urteils in der Hauptsache. Hauptsache ist jene, in der die Entscheidung ergeht, deren volle Wirksamkeit durch eine einstweilige Anordnung gesichert werden soll. Ist die endgültige Entscheidung in der Hauptsache bereits ergangen, so kommt auch deren Sicherung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht mehr in Betracht (vgl. ). Ein solches Verfahren stellt sich als gegenstandslos geworden dar (vgl. bis 0142, mwN).
16Schon vor dem Hintergrund des Abschlusses des die Hauptsache bildenden Revisionsverfahrens scheidet die Zuerkennung vorläufigen Rechtschutzes daher aus, sodass sich ein Eingehen auf die Ansicht des Revisionswerbers zur diesbezüglich gegebenen Zuständigkeit erübrigt.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022170227.L00 |
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