VwGH vom 15.03.2023, Ra 2022/09/0140
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie Hofrat Mag. Feiel und Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW-031/048/16945/2021-11, betreffend Einstellung eines Strafverfahrens nach dem Epidemiegesetz 1950 in Verbindung mit der 4. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien, Magistratisches Bezirksamt für den 10. Bezirk; mitbeteiligte Partei: A B in C), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1Mit Straferkenntnis der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde vom wurde der Mitbeteiligte schuldig erkannt, am um 18:55 Uhr in 1020 Wien, Obere Donaustraße 53, beim Betreten eines Ortes zum Zweck der Teilnahme an einer Veranstaltung gemäß § 13 Abs. 3 Z 1, 2, 4, 7, 9 und 10 4. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung (4. COVID-19-SchuMaV), (1.) den Abstand von mindestens zwei Metern gegenüber anderen Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, nicht eingehalten und (2.) keine Atemschutzmaske der Schutzklasse FFP2 (FFP2-Maske) ohne Ausatemventil oder eine Maske mit mindestens gleichwertig genormtem Standard getragen zu haben. Er habe dadurch § 40 Abs. 2 in Verbindung mit § 15 Epidemiegesetz 1950 (EpiG) in Verbindung mit § 13 Abs. 1 und 4 2. Novelle zur 4. COVID-19-SchuMaV verletzt und es wurden über ihn wegen dieser Verwaltungsübertretungen gemäß § 40 Abs. 2 EpiG Geldstrafen von je 120 Euro (für den Fall der Uneinbringlichkeit jeweils vier Stunden Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt.
2Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Mitbeteiligte Beschwerde.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis behob das Verwaltungsgericht Wien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung das Straferkenntnis und stellte das Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG ein. Die „ordentliche“ Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für unzulässig.
4Nach Wiedergabe des Spruchs des angefochtenen Bescheids und der Erklärung, dass der Mitbeteiligte in seiner Beschwerde die Verwirklichung des Tatbestands umfangreich begründet bestreite, führte das Verwaltungsgericht zur Begründung seines Erkenntnisses aus (Schreibweise im Original):
„Das Verwaltungsgericht Wien führt seit nunmehr beinahe 2 Jahren derartige Massenverfahren nach der gegenständlich angezogenen Rechtsnorm des Epidemiegesetzes, in Verbindung mit der - (gegenständlich 4.) Corona Schutzmaßnahmen Verordnung - durch; die Anzeigen werden, wie die gegenständliche, in vorgedruckten Formularen vor Ort von den polizeilichen Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ausgefüllt; wobei regelmäßig in den öffentlichen mündlichen Verhandlungen vor dem erkennenden Verwaltungsgericht zu dem auf dem vorgedruckten Anzeigeformular angegebenen Sachverhalt keine ergänzende Aussage gemacht werden kann. Von einer ergänzenden Befragung des Meldungslegers ist somit in Richtung des erkennbar fehlenden Anzeigeinhaltes, nämlich der Erfassung jener Person, die mit der BF nicht im gemeinsamen Haushalt lebt und zu der sie den laut der verletzten Rechtsnorm den gesetzlich gebotenen Mindestabstand nicht eingehalten haben soll, keine Klärung zu erwarten.
Das erkennende Gericht verkennt nicht, dass das vorliegende Straferkenntnis dem Konkretisierungsgebot des Paragrafen 44a Z 1 VStG grundsätzlich genügt, als die Person, zu der der Mindestabstand unterschritten und die nicht im gemeinsamen Haushalt der BF lebt, nicht namentlich in die Tat Umschreibung einfließen muss; umgekehrt muss jedoch aufgrund der schlüssigen Begründung der Anzeige und des darauf aufbauenden Straferkenntnisses jene Person in der Anzeige aufscheinen, um das Begründungselement des fehlenden Mindestabstandes und der fehlenden Hausgemeinschaft mit der für das für das Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit in einem Verwaltungsstrafverfahren untermauern zu können.
Diesen Voraussetzungen vermag der gegenständliche Akteninhalt nicht zu genügen.“
5Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht fallunspezifisch mit dem Fehlen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung.
6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Amtsrevision des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Revisionsbeantwortungen wurden in dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren nicht erstattetet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7Die Revision ist aus den nachstehenden, in der Revision geltend gemachten Gründen zulässig und auch begründet:
8Selbst nach der Darstellung des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Erkenntnis wurde dem Mitbeteiligten neben der Nichteinhaltung eines Abstands von mindestens zwei Metern gegenüber nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen nach § 13 Abs. 4 4. COVID-19-SchuMaV auch ein Verstoß gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Atemschutzmaske der Schutzklasse FFP2 ohne Ausatemventil oder einer Maske mit mindestens gleichwertig genormtem Standard vorgeworfen. Das Verwaltungsgericht traf jedoch überhaupt keine konkreten Feststellungen zu dem Sachverhalt, den es einer rechtlichen Beurteilung unterzog und kopierte seine Ausführungen offenbar direkt aus einem eine Frau betreffenden Erkenntnis. Zudem setzte es sich in seiner Entscheidung lediglich mit dem Unterschreiten des 2-Meter-Abstands auseinander, während Ausführungen zum Vorwurf der Verletzung der Maskentragepflicht gänzlich fehlen. Bereits aus den genannten Gründen ist das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
9Zudem ist das Folgende anzumerken:
10Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gilt im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteienvorbringen und -anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist dem AVG (vgl. zur Anwendbarkeit im vorliegenden Fall § 38 VwGVG in Verbindung mit § 24 VStG und § 45 Abs. 2 AVG) eine antizipierende Beweiswürdigung fremd (vgl. etwa , mwN - auch zu den Erfordernissen an die Begründung eines verwaltungsgerichtlichen Erkenntnisses).
11Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof bereits zu § 51e Abs. 2 Z 1 VStG, der insoweit § 44 Abs. 2 VwGVG entspricht, ausgesprochen, dass die Berufungsbehörde (nunmehr das Verwaltungsgericht) seine Entscheidung, mit der sie die verhängte Geldstrafe in eine Verfahrenseinstellung umwandelt, nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte treffen dürfen, wenn dies auf einer geänderten Beweiswürdigung beruht. Der Fall darf ausschließlich aufgrund von Ergebnissen beurteilt werden, die in einer (unmittelbar) durchgeführten mündlichen Verhandlung vorgekommen sind. Dies gilt auch dann, wenn die Beweisergebnisse zugunsten des Beschuldigten anders gewürdigt werden. Zudem darf die Beweiswürdigung erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen (vgl. zum Ganzen ).
12Das Verwaltungsgericht hat in Verwaltungsstrafsachen gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich Ausnahmen von der Verhandlungspflicht (). Ein Absehen von der Verhandlung wäre nach dieser Bestimmung zu beurteilen und zu begründen gewesen. Das Fehlen jeglicher Begründung für den Entfall einer mündlichen Verhandlung belastet ein verwaltungsgerichtliches Erkenntnis ebenfalls mit Rechtswidrigkeit.
13Das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der vorrangig wahrzunehmenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022090140.L00 |
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Fundstelle(n):
LAAAA-78700