zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 26.01.2023, Ra 2022/01/0220

VwGH vom 26.01.2023, Ra 2022/01/0220

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, über die Revision des Bürgermeisters der Stadt St. Pölten, dieser vertreten durch die Haslinger/Nagele Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Mölker Bastei 5, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom , Zl. LVwG-S-1133/001-2022, betreffend Übertretung des Volksbegehrengesetzes 2018 iVm der Nationalrats-Wahlordnung 1992 (mitbeteiligte Partei: M in G), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin in seinem Spruchpunkt 1., wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Vorgeschichte

1Mit Straferkenntnis des Bürgermeisters der Stadt St. Pölten (Amtsrevisionswerber) vom wurde dem Mitbeteiligten zur Last gelegt, er habe am in der Zeit von 10:00 Uhr bis 12:15 Uhr innerhalb der Verbotszone rund um „das Eintragungslokal [...] in S (Eintragungszeitraum: bis )“ wenige Meter neben dem Eingang Flugzettel „Echte Demokratie“ und „COVID-Maßnahmen abschaffen“ verteilt und das Gespräch mit „den anwesenden Bürgern“ gesucht, obwohl gemäß § 58 Abs. 1 Nationalrats-Wahlordnung 1992 (NRWO) im Gebäude des Wahllokals und in einem von der Gemeindewahlbehörde zu bestimmenden Umkreis (Verbotszone) am Wahltag jede Art der Wahlwerbung, insbesondere auch durch Ansprachen an die Wähler, durch Anschlag oder Verteilen von Wahlaufrufen oder von Kandidatenlisten, ferner jede Ansammlung sowie das Tragen von Waffen jeder Art verboten sei.

2Dadurch habe der Mitbeteiligte § 58 Abs. 1 iVm § 58 Abs. 3 NRWO verletzt, weshalb über ihn gemäß § 58 Abs. 3 NRWO eine Geldstrafe von € 200,00 (Ersatzfreiheitsstrafe von 308 Stunden) verhängt wurde.

3Begründend wurde in diesem Straferkenntnis unter anderem festgestellt, dass der Aushang der Verbotszone in einem näher bezeichneten Zeitraum sowohl an der Amtstafel des Rathauses (Verlautbarung 6640) als auch an der Eingangstüre des (im Spruch näher bezeichneten) Eintragungslokals erfolgt sei.

Angefochtenes Erkenntnis

4Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht) der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gemäß § 50 VwGVG Folge, hob das Straferkenntnis auf und stellte das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG ein (Spruchpunkt 1.). Der Antrag des Mitbeteiligten auf Kostenersatz wurde gemäß § 17 VwGVG iVm § 74 AVG als unzulässig zurückgewiesen (Spruchpunkt 2.) und eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt 3.).

5Begründend stellte das Verwaltungsgericht fest, im Zeitraum vom  bis zum habe für stimmberechtigte „Bürger“ die Möglichkeit bestanden, an einer näher bezeichneten Örtlichkeit in S in die Volksbegehren mit den Kurzbezeichnungen „Notstandshilfe“, „Impfpflicht: Notfalls JA“, „Impfpflicht: Striktes NEIN“ und „Kauf Regional“ Einsicht zu nehmen und die Zustimmung zu diesen oder „einen“ dieser Volksbegehren durch eine einmalige eigenhändige Unterschrift zu erklären.

6Am habe der Mitbeteiligte in der Zeit von 10:00 Uhr bis 12:15 Uhr rund um das Eintragungslokal wenige Meter neben dem Eingang Flugzettel „Echte Demokratie“ und „COVID-Maßnahmen abschaffen“ an anwesende „Bürger“ verteilt und mit diesen auch das Gespräch gesucht. Mit dem Inhalt dieser Flugzettel und mit den Gesprächen habe er nicht Bezug auf die vier Volksbegehren „dieser Eintragungswoche“ genommen, insbesondere habe er für diese vier Volksbegehren keinerlei Werbung gemacht. Vielmehr „lief“ zu den mit diesen Flugzetteln angesprochenen Themen jeweils das Einleitungsverfahren möglicher künftiger Volksbegehren.

7Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht nach Wiedergabe des § 58 Abs. 1 und 3 NRWO und des § 6 Abs. 1 und 2, des § 10, des § 11 Abs. 1 sowie des § 12 Volksbegehrengesetz 2018 (VoBeG), dass zum Tatzeitpunkt am Tatort keine Wahl, insbesondere keine solche des Nationalrates, stattgefunden habe, sondern sich die vier im Sachverhalt angesprochenen Volksbegehren im Eintragungsverfahren „im Sinne der §§ 10 und 11 VobeG“ befunden hätten, womit gemäß § 12 VoBeG auch „für eben diese“ sinngemäß „die Bestimmungen unter anderem“ des § 58 NRWO gelten würden.

8Soweit der Mitbeteiligte einwende, § 58 NRWO iVm § 12 VoBeG gelte für Einleitungsverfahren zu Volksbegehren nicht, so ändere dies nichts daran, dass sich „eben die“ vier angeführten Volksbegehren unstrittig im Eintragungsverfahren befunden hätten. Wenngleich § 58 Abs. 1 NRWO (naturgemäß) nur vom „Wahllokal“, von „Wahlwerbung“, von „Wählern“ und von „Wahlaufrufen“ spreche, würde § 12 VoBeG keinen Anwendungsfall haben, wenn man nicht insbesondere von einem „Eintragungslokal“, von einem „Eintragungszeitraum“ und von Werbung für Volksbegehren im Anwendungsbereich des VoBeG ausgehen würde.

9Im Sinne dieser Bestimmungen sei somit im Gebäude des „Eintragungslokals“ und in dem von der Gemeindewahlbehörde zu bestimmenden Umkreis („Verbotszone“) grundsätzlich jede Art der Werbung für Volksbegehren verboten. Es stehe für das Verwaltungsgericht fest, dass dieses Verbot „auch grundsätzlich am Tatort - soweit dieser von der Verbotszone umfasst ist bzw. war - zum Tatzeitpunkt“ gegolten habe.

10Aus dem Wortlaut und dem Zweck des § 58 Abs. 1 NRWO ergebe sich, dass unter „Wahlwerbung“ nur jene Werbung subsumiert werden könne, „die auf die konkrete Wahl dieses Wahltages Bezug“ nehme. Auch wenn dies „praktisch nicht vorkommen möge, wäre freilich eine Werbung für eine am Wahltag gar nicht durchgeführte Wahl zulässig“. Mit § 58 Abs. 1 NRWO solle „eben primär der freie Wille des Wählers unmittelbar vor der Wahl und im unmittelbaren örtlichen Nahebereich der Wahl“ gewährleistet bleiben; der Wähler „soll nicht unmittelbar vor und bei der Wahl in irgendeiner Weise von außen, eben durch Wahlwerbung jeglicher Art, noch beeinflusst werden“.

11In sinngemäßer Anwendung gemäß § 12 VoBeG sei § 58 Abs. 1 NRWO so zu verstehen, dass in der Verbotszone jede Art von Werbung für Volksbegehren verboten sei, „wobei sinngemäß dem Zweck dieser Bestimmung entsprechend natürlich auch hier wiederum nur jene Volksbegehren betroffen sein können, hinsichtlich derer zu diesem Zeitpunkt gerade eine Eintragungsmöglichkeit bestand. Auch hier würde jede andere Auslegung dem Zweck dieser Bestimmung nicht gerecht werden. Der Bürger, der im Eintragungszeitraum in das bzw. die betreffende(n) Volksbegehren Einsicht nehmen möchte, soll unmittelbar vor seiner Entscheidung, ob er diese(s) unterschreibt oder nicht, in seinem Willen frei bleiben und nicht noch durch Werbung irgendwelcher Art beeinflusst werden. Wird dieser Bürger in diesem Zeitpunkt mit diese(s) Volksbegehren gar nicht betreffender Werbung konfrontiert, so wie etwa mit Flugzetteln anderer - möglicher - Volksbegehren, wird der Schutzzweck der angesprochenen Norm nicht beeinträchtigt bzw. verletzt“.

12Nach dem festgestellten Sachverhalt habe der Mitbeteiligte „wohl“ Werbung für Volksbegehren durch Verteilung von Flugzetteln und Suchen von Gesprächen mit Bürgern gemacht, diese Werbung habe jedoch nicht die vier von der konkreten Eintragung betroffenen Volksbegehren betroffen. Somit habe der Mitbeteiligte nicht gegen § 58 NRWO iVm § 12 VoBeG verstoßen, sondern habe diese Handlung „vielmehr überhaupt“ keine Verwaltungsübertretung gebildet.

13Bereits auf Grund dessen und ohne auf das weitere Beschwerdevorbringen des Mitbeteiligten einzugehen, sei daher „mit einer Aufhebung des Straferkenntnisses und einer Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens vorzugehen“ gewesen.

14Die Unzulässigkeit einer Revision begründete das Verwaltungsgericht mit einem Verweis auf den „eindeutigen klaren Gesetzeswortlaut“ und damit, dass lediglich „eine Einzelfall bezogene Beurteilung“ vorzunehmen gewesen sei, zu deren Überprüfung der Verwaltungsgerichtshof im Allgemeinen nicht berufen sei.

15Gegen Spruchpunkt 1. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

16Der Mitbeteiligte erstattete unvertreten nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof eine Revisionsbeantwortung.

Vorbringen des Amtsrevisionswerbers

17Der Amtsrevisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Amtsrevision vor, im Kern gehe es in der vorliegenden Revision um die Frage, wie die Wendung „jede Art der Wahlwerbung“ bzw. „Wahlwerbung“ in § 58 Abs. 1 NRWO in sinngemäßer Anwendung nach § 12 VoBeG zu verstehen sei. Die Amtsrevision vertrete dazu (in Übereinstimmung mit dem näher bezeichneten Leitfaden des Bundesministers für Inneres für die entsprechenden Volksbegehren) die Auffassung, dass innerhalb der Verbotszone generell jede Art der Werbung für Volksbegehren verboten sei, fallbezogen aber jedenfalls die konkreten Werbemaßnahmen des Mitbeteiligten verboten gewesen seien.

18In diesem Zusammenhang fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Rechtsfrage, ob § 58 Abs. 1 und Abs. 3 NRWO iVm § 12 VoBeG ein generelles Verbot der Wahlwerbung bzw. Werbung für Volksbegehren vorsehe. Nach dem klaren Wortlaut („jede Art der Wahlwerbung“) sei - anders als vom Verwaltungsgericht angenommen - jede Art von Werbung innerhalb der Verbotszone verboten, ohne dass es darauf ankäme, ob sich die Werbung auf ein Volksbegehren beziehe, das sich bereits im Eintragungsverfahren befinde.

19Auch fehle Rechtsprechung zur Rechtsfrage, ob § 58 Abs. 1 und Abs. 3 NRWO iVm § 12 VoBeG ein Verbot der Werbung ausschließlich für jene Volksbegehren, für die Stimmberechtigte „im gleichen Eintragungszeitraum im relevanten Eintragungslokal eine Eintragung tätigen können“, vorsehe, wie es das Verwaltungsgericht angenommen habe.

20Weiters fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob § 58 Abs. 1 und Abs. 3 NRWO iVm § 12 VoBeG ein „Werbungsverbot“ für jene Volksbegehren vorsehe, die sich im Stadium des Einleitungsverfahrens nach dem VoBeG befänden. Die Besonderheit des vorliegenden Falles liege darin, dass es sich bei den (vom Mitbeteiligten) beworbenen Volksbegehren unstrittig nicht um in demselben Eintragungszeitraum zu unterstützende Volksbegehren gehandelt habe, sondern um im Stadium des Einleitungsverfahrens befindliche. Daher sei (mit näherer Begründung) die Rechtsfrage zu klären, ob § 58 NRWO iVm § 12 VoBeG im Hinblick auf das Verbot der Werbung zwischen Volksbegehren im Einleitungsverfahren und Volksbegehren im Eintragungsverfahren differenziere.

21Es fehle auch Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Rechtsfrage, ob § 58 Abs. 1 NRWO iVm § 12 VoBeG Werbung „zugunsten der Abgabe von Unterstützungserklärungen im Rahmen eines im Einleitungsverfahren befindlichen Volksbegehrens verbietet, soweit durch diese Werbung das Eintragungsverhalten bei einem konkret zur Eintragung stehenden Volksbegehren beeinflusst werden kann“.Im vorliegenden Fall stehe der Gegenstand der Werbung „(Forderung nach der Abschaffung [staatlicher] COVID-19-Maßnahmen, der im Rahmen eines bereits nach § 3 Abs 1 VoBeG beantragten Volksbegehrens Rechnung getragen wird)“ mit dem Gegenstand des konkreten Eintragungsverfahrens (Volksbegehren die Impfpflicht betreffend) in inhaltlichem Zusammenhang, zumal die Impfpflicht als eine staatliche Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie anzusehen sei.

22Zuletzt fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes zur Rechtsfrage, ob im Anwendungsbereich des § 58 Abs. 1 NRWO iVm § 12 VoBeG „Werbung“ zugunsten der Abgabe von Unterstützungserklärungen im Rahmen des Einleitungsverfahrens und die „Werbung“ zugunsten einer bestimmten Eintragung im Rahmen des Eintragungsverfahrens in inhaltlicher Sicht als gleichwertig zu erachten sei. Die Klärung dieser Rechtsfrage sei fallbezogen insoweit maßgeblich, als bei gegebener Gleichwertigkeit erstere Werbung nach § 58 Abs. 1 NRWO verboten und der Verwaltungsstraftatbestand nach § 58 Abs. 3 NRWO erfüllt wäre.

23Die Klärung der genannten Rechtsfragen sei nicht nur im verfahrensgegenständlichen Fall, sondern für eine Vielzahl künftiger Konstellationen, in denen Verbotszonen im Rahmen von Eintragungsverfahren für Volksbegehren bestimmt würden, von Bedeutung. Die Herausbildung einer grundlegenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liege daher im Allgemeininteresse und es habe eine Klärung der aufgezeigten Rechtsfragen aus Gründen der Rechtssicherheit und der Fortbildung des Rechts zu erfolgen.

24In den Revisionsgründen wird unter Heranziehung verschiedener Auslegungsmethoden (wortlautkonforme, teleologische, systematische und verfassungskonforme Interpretation) vorgebracht, warum die Auffassung des Amtsrevisionswerbers zutreffend sei.

Vorbringen des Mitbeteiligten

25Der Mitbeteiligte bringt in seiner Revisionsbeantwortung vor, für das Sammeln von Unterstützungserklärungen bei Volksbegehren gebe es gemäß § 58 NRWO keine Verbotszone, weshalb alle Punkte der Amtsrevision „hinfällig“ seien.

26 Außerdem dürften Strafbestimmungen nicht ausdehnend interpretiert werden und „Sanktionen“ müssten gesetzlich umschrieben sein (Verweis auf Art. 18 B-VG und Art. 7 Abs. 1 EMRK).

27Weiters stelle sich die Rechtfrage, ab welchem Zeitpunkt ein Volksbegehren im Sinne des VoBeG vorliege. Nach Auffassung des Mitbeteiligten „entsteht ein Volksbegehren im rechtlichen Sinn“ erst nach Genehmigung des „Innenministers“ gemäß § 6 VoBeG und Einlangen des Kostenbeitrages gemäß § 9 Abs. 2 VoBeG beim Bund. Daher könne in der Phase des „Anmeldeverfahrens“ jedenfalls keine verbotene Werbung vorliegen.

28Der Amtsrevisionswerber habe die „Gleichwertigkeit“ eines Volksbegehrens in der Einleitungs- und der Eintragungsphase nicht dargetan. Weiters sei kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen „den beiden Volksbegehren“ gegeben und es komme auf einen solchen auch nicht an.

29Der Mitbeteiligte habe keine Werbung für die vier Volksbegehren „der Eintragungswoche“ gemacht und niemanden daran gehindert, diese Volksbegehren zu unterstützen.

30Auch sei die Verordnung der Vebotszone bisher nicht nachgewiesen worden. Der Mitbeteiligte fordere daher die Vorlage dieser Verordnung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem nach § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zulässigkeit der Revision

31Eine Verwaltungsübertretung des § 58 Abs. 1 und 3 NRWO iVm § 12 VoBeG ist mit einer Geldstrafe von bis zu € 218,--, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen zu bestrafen, weshalb die Voraussetzungen des § 25a Abs. 4 Z 1 VwGG nicht erfüllt sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst die „Bagatellgrenze“ des § 25a Abs. 4 VwGG jedoch nicht Amtsrevisionen, sodass eine Amtsrevision zur Sicherung der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Vollziehung unabhängig von der Höhe der verhängten Strafe und des Strafrahmens möglich ist (vgl. etwa , Rn. 8, mwN). Die vorliegende Amtsrevision ist somit nicht absolut unzulässig.

32Zu den von der Amtsrevision aufgezeigten verwaltungsstrafrechtlichen Fragen betreffend die Übertretung des § 58 Abs. 1 und Abs. 3 NRWO iVm § 12 VoBeG fehlt Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Der Beantwortung dieser Fragen kommt auch über den vorliegenden Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu.

33Die Revision ist daher zulässig.

Zuständigkeit des VwGH

34Der Verwaltungsgerichtshof ist zur Klärung dieser Fragen zuständig:

35Gemäß Art. 133 Abs. 5 B-VG sind Rechtssachen, die zur Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) gehören, von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen (vgl. auch ).

36Die Wahlgerichtsbarkeit nach Art. 141 B-VG, also die Entscheidung in Angelegenheiten, die in dieser Verfassungsbestimmung angeführt sind, ist daher von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen (vgl. ; vgl. zur Rechtslage nach der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 Faber, Verwaltungsgerichtsbarkeit [2013] 98 Rz 31 zu Art. 133 B-VG).

37Die Wahlgerichtsbarkeit des VfGH gemäß Art. 141 B-VG über Anfechtungen von Entscheidungen von Verwaltungsgerichten - die insoweit gleichsam als „Wahlgerichte erster Instanz“ berufen sind - geht der Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des VfGH gemäß Art. 144 B-VG vor (vgl.  = VfSlg. 19.944). Die Wahlgerichtsbarkeit des VfGH ist auf die in Art. 141 B-VG ausdrücklich genannten Fälle eingeschränkt (vgl. idS etwa , wonach Beschwerden gegen ein Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes über einen Antrag auf Durchführung einer Volksbefragung auch nach der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 weiterhin auf Art. 144 B-VG zu stützen sind, da sie - trotz ihrer Sachnähe - nicht als Anfechtung der Entscheidung über das Ergebnis einer Volksbefragung gemäß Art. 141 B-VG zu werten sind).

38Verwaltungsstrafverfahren sind in der Aufzählung des Art. 141 Abs. 1 B-VG idF BGBl. I Nr. 41/2016 nicht genannt (vgl. zu den Tatbeständen des Art. 141 Abs. 1 B-VG nach Einführung der mehrstufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit auch die Erläuterungen in ErlRV 1618 BlgNR 24. GP 20).

39Daher ist der Verwaltungsgerichtshof zur Klärung der vorliegend aufgezeigten verwaltungsstrafrechtlichen Fragen in Zusammenhang mit der NRWO und dem VoBeG zuständig.

Grundsätzliche Rechtsfrage

40Im vorliegenden Fall ist strittig, wie die Bedeutung der Wortfolge „jede Art der Wahlwerbung“ des § 58 Abs. 1 NRWO bei sinngemäßer Anwendung gemäß § 12 VoBeG zu verstehen ist. Das Verwaltungsgericht ist der Ansicht, dass nach dem Zweck dieser Bestimmungen nur jene Volksbegehren dem Werbeverbot des § 12 VoBeG iVm § 58 Abs. 1 NRWO unterliegen, hinsichtlich derer im fraglichen Zeitpunkt auch eine Eintragungsmöglichkeit (im Sinne des § 11 Abs. 1 VoBeG) bestehe. Der Amtsrevisionswerber hält den Wortlaut für dahingehend klar, dass unabhängig davon, ob bereits für das beworbene Volksbegehren ein Einleitungsverfahren oder ein Eintragungsverfahren bestehe, jede Werbung für ein - gegebenenfalls auch erst beabsichtigtes oder einzuleitendes - Volksbegehren verboten sei.

Rechtslage

41§ 58 Nationalrats-Wahlordnung 1992 (NRWO), BGBl. Nr. 471 idF BGBl. I Nr. 98/2001, lautet:

Verbotszonen

§ 58. (1) Im Gebäude des Wahllokals und in einem von der Gemeindewahlbehörde, in Wien vom Magistrat, zu bestimmenden Umkreis (Verbotszone) ist am Wahltag jede Art der Wahlwerbung, insbesondere auch durch Ansprachen an die Wähler, durch Anschlag oder Verteilen von Wahlaufrufen oder von Kandidatenlisten, ferner jede Ansammlung sowie das Tragen von Waffen jeder Art verboten.

(2) Das Verbot des Tragens von Waffen bezieht sich nicht auf jene Waffen, die am Wahltag von im Dienst befindlichen Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und Justizwachebeamten nach ihren dienstlichen Vorschriften getragen werden müssen.

(3) Übertretungen der im Abs. 1 ausgesprochenen Verbote werden von der Bezirksverwaltungsbehörde mit Geldstrafe bis zu 218 Euro, im Fall der Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu zwei Wochen geahndet.“

42§ 12 Volksbegehrengesetz 2018 (VoBeG), BGBl I. Nr. 106/2016, lautete (die - vorliegend nicht anwendbare - Novelle BGBl. I Nr. 101/2022 bewirkte im Übrigen im Hinblick auf die vorliegende Rechtsfrage keine Änderung):

Anwendungen von Bestimmungen der NRWO

§ 12. Im Übrigen gelten für das Eintragungsverfahren sinngemäß die Bestimmungen der §§ 58 [...] NRWO.“

Tatbild des § 58 Abs. 1 und Abs. 3 NRWO iVm § 12 VoBeG

43In Zusammenhang mit der vorliegend zu lösenden Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist zunächst auf das Tatbild bzw. die Tatbestandselemente der maßgeblichen Übertretungsnorm des § 12 VoBeG iVm § 58 Abs. 1 NRWO einzugehen.

44Dabei ist darauf hinzuweisen, dass im Straferkenntnis des Amtsrevisionswerbers vom als verletzte Verwaltungsvorschrift (§ 44a Z 2 VStG) lediglich „§ 58 Abs. 1 iVm § 58 Abs. 3“ NRWO angeführt wird, ohne dass auf § 12 VoBeG verwiesen wird, der § 58 NRWO im vorliegenden Fall überhaupt erst anwendbar macht. Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Erkenntnis die solcherart im verwaltungsbehördlichen Straferkenntnis unzureichend bestimmte Übertretungsnorm nicht ausreichend konkretisiert (vgl. zu dieser Konkretisierungspflicht bei einer Einstellung nach § 45 VStG , Rn. 25).

45§ 12 VoBeG erklärt für das Eintragungsverfahren (unter anderem) das in § 58 NRWO geregelte Verbot von Wahlwerbung als sinngemäß anwendbar.

46Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind sinngemäß verwiesene Bestimmungen regelmäßig nicht wörtlich, sondern gegebenenfalls nach einer entsprechend dem Kontext der Verweisungsnorm erforderlichen Anpassung anzuwenden. Die sinngemäße Anwendung der verwiesenen Norm darf dieser aber keinen anderen Sinn geben, ihr Bedeutungsgehalt also keine Änderung erfahren (vgl. etwa , Rn. 29, mwN).

47Das in § 58 NRWO geregelte Verbot von Wahlwerbung gilt nach seinem klaren Wortlaut (vgl. zum Vorrang des Gesetzeswortlautes etwa , Rn. 31, mwN) örtlich im Gebäude des Wahllokals und in einem von der Gemeindewahlbehörde, in Wien vom Magistrat, zu bestimmenden Umkreis (Verbotszone) sowie zeitlich am Wahltag. Inhaltlich erfasst das Verbot jede Art der Wahlwerbung, insbesondere auch durch Ansprachen an die Wähler, durch Anschlag oder Verteilen von Wahlaufrufen oder von Kandidatenlisten, ferner jede Ansammlung sowie das Tragen von Waffen jeder Art.

48Diese Tatbestandselemente sind gemäß § 12 VoBeG sinngemäß auf das Eintragungsverfahren nach dem VoBeG zu übertragen. Zeitlich ist (anstelle des Wahltages) der Eintragungszeitraum (vgl.§ 6 Abs. 3 VoBeG), örtlich das von der Eintragungsbehörde zu bestimmende Eintragungslokal (vgl. § 8 Abs. 1 VoBeG) oder die ebenso von der Eintragungsbehörde zu bestimmende Verbotszone (§ 12 VoBeG iVm § 58 Abs. 1 NRWO) maßgeblich.

49Strittig ist in der vorliegenden Revisionssache - wie dargelegt - der Inhalt des in § 58 Abs. 1 NRWO iVm § 12 VoBeG geregelten Verbotes, und zwar dahingehend, wie die Bedeutung der Wortfolge „jede Art der Wahlwerbung“ des § 58 Abs. 1 NRWO bei sinngemäßer Anwendung gemäß § 12 VoBeG zu verstehen ist. Das in § 58 Abs. 1 NRWO darüber hinaus geregelte Verbot der Ansammlungen und des Waffentragens ist fallbezogen nicht zu untersuchen.

50Bei der Auslegung des Verbotes „jeder Art von Wahlwerbung“ ist zunächst auf den Begriff der Wahlwerbung nach § 58 Abs. 1 NRWO einzugehen.

Wahlwerbung iSd§ 58 Abs. 1 NRWO

51Der Begriff der „Wahlwerbung“ ist nicht näher in der NRWO definiert (vgl. auch Stein/Vogl/Wenda, NRWO4 [2013] § 42 Anm 1, wonach die Wahlwerbung nicht in den Wahlgesetzen geregelt ist). Lediglich § 58 Abs. 1 NRWO nennt „Ansprachen an die Wähler“ sowie „Anschlag oder Verteilen von Wahlaufrufen oder von Kandidatenlisten“ als Beispiele von Wahlwerbung (vgl. dazu auch Hörtenhuber/Mayrhofer, Die Freiheit der Wahlwerbung, in Adamovich/Funk/Holzinger/Frank (Hrsg.), Festschrift für Gerhart Holzinger [2017] 385).

52Unter dem Begriff Wahlwerbung ist jede Art der Werbung der - bei einer konkreten Wahl anerkannten - wahlwerbenden Parteien sowie der einzelnen Wahlwerber um die Stimmen der Wähler zu verstehen (Hörtenhuber/Mayrhofer, aaO, 384 f, mwN).

53Der VfGH stellt in ständiger Rechtsprechung bei der von der „politischen Partei“ zu unterscheidenden „Wahlpartei“ bzw. „wahlwerbenden Partei“ auf eine Wählergruppe ab, die nach der jeweiligen Wahlordnung einen Wahlvorschlag eingebracht hat (vgl.  W I 6/2021, Rn. 29, mwN; vgl. auch bereits § 2 Z 1 und 2 Parteiengesetz 2012 und zur Notwendigkeit der strengen begrifflichen Trennung zwischen politischer Partei und Wahlpartei auch Eisner/Kogler/Ulrich, Recht der politischen Parteien[2019] 41 f). Der VfGH umschreibt den Begriff der Wahlwerbung als „Werbung um die Stimmen der Wähler“, hinsichtlich derer die NRWO (dort: § 62 Abs. 1 Nationalratswahlordnung 1962, BGBl. Nr. 246) nur die Bestimmung über das Verbot der Wahlwerbung in den Verbotszonen enthält (vgl.  W I-9/62 = VfSlg. 4527). Der VfGH hat auch darauf hingewiesen, dass bei Wahlen wahlwerbende Gruppierungen „miteinander im Wettbewerb“ stehen ( W I-6/94 = VfSlg. 13.839). Die Verbreitung nichtamtlicher Stimmzettel durch eine Wählergruppe ist der Wahlwerbung zuzurechnen und kein Teil des Wahlverfahrens (vgl.  W I-4/07, B 2215/07, G 261/07 = VfSlg. 18.729).

54Aus dem Grundsatz des freien Wahlrechtes wird die - von staatlichen Organen unbeeinflusste - Freiheit der Wahlwerbung abgeleitet. Demnach darf die Wahlwerbung nicht sinnwidrig beschränkt und der Wähler in der Freiheit seiner Wahl nicht in rechtlicher oder faktischer Weise beeinträchtigt werden. Eine sinnwidrige Beschränkung der Wahlwerbung ist insbesondere auch dann anzunehmen, wenn wahlwerbende Parteien durch staatliche Organe ohne sachliche Rechtfertigung gegenüber anderen wahlwerbenden Parteien begünstigt oder benachteiligt werden (vgl.  W I 11/2015 ua = VfSlg. 20.044, Rn. 43, W I 18/2015 ua = VfSlg 20.045, Rn. 37, jeweils mwH auf die Vorjudikatur des VfGH).

55Die Freiheit der Wahlwerbung ist nicht grenzenlos. Die Freiheit der Stimmabgabe ist die wichtigste Grenze der Freiheit der Wahlwerbung. Diese verlangt, dass der Wähler seine (Wahl-)Entscheidung ohne Zwang und ohne unzulässige Beeinflussung von Seiten der Wahlparteien treffen kann. Von Relevanz sind dabei vor allem die Bestimmungen der Wahlordnungen, die in erster Linie die Freiheit der Stimmabgabe gewährleisten sollen (vgl. Hörtenhuber/Mayrhofer, aaO, 404, mwN).

56Den Art. 26, 95 und 117 Abs. 2 B-VG liegt das Prinzip der „Reinheit“, verstanden im Sinne von „Freiheit“ der Wahlen (zum Nationalrat, zu den Landtagen und zu den Gemeinderäten), zugrunde. Diesem Grundsatz entsprechen die „Freiheit der politischen Willensbildung und -betätigung“ und das Postulat der „Reinheit der Wahlen“, in deren Ergebnis der wahre Wille der Wählerschaft zum Ausdruck kommen soll. Wie der VfGH zur Freiheit der Wahlwerbung in ständiger Judikatur ausgesprochen hat, darf der Wähler in der Freiheit seiner Wahl nicht in rechtlicher oder faktischer Weise beeinträchtigt werden (vgl. zu allem W I 2/2018 = VfSlg. 20.273, Rn. 37 f, mwH auf die Vorjudikatur des VfGH; vgl. auch Holzinger/Holzinger in Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg, Österreichisches Bundesverfassungsrecht [13. Lfg 2017] Artikel 26 B-VG, Rn. 65).

57Der Grundsatz des freien Wahlrechtes ist in der NRWO insbesondere auch durch das Verbot der Wahlwerbung in einem bestimmten Umkreis um das Wahllokal (Verbotszone) gewährleistet (vgl. Holzinger/Holzinger, aaO, Rn. 66, mwH auf die Rechtsprechung des VfGH). Der VfGH hat derartige Verletzungen der Verbotszone im Wahlverfahren auch bereits aufgegriffen (vgl. zu § 38 Abs. 1 der Tiroler Gemeindewahlordnung 1967 W 1-4/68 = VfSlg. 5861).

58Nach dem klaren Wortlaut des § 58 Abs. 1 NRWO ist das Verbot der Wahlwerbung uneingeschränkt auf „jede Art der Wahlwerbung“ anzuwenden (vgl. nochmals zum Vorrang des Gesetzeswortlautes , mwN). Bereits die Wortfolge „jede Art der“ spricht für eine weite Auslegung (vgl. etwa zur weiten Auslegung des Entgeltbegriffs als „jede Art von“ Leistung , Rn. 16, oder -0190, Rn. 10, jeweils mwN). Auch die in § 58 Abs. 1 NRWO enthaltene demonstrative Aufzählung von Formen der Wahlwerbung (arg.: „insbesondere auch durch Ansprachen an die Wähler, durch Anschlag oder Verteilen von Wahlaufrufen oder von Kandidatenlisten“) zeigt, dass der Gesetzgeber der NRWO in einem weiten Verständnis verschiedenste Formen der Wahlwerbung erfassen wollte.

59Eine derart weite Auslegung des Begriffes „jede Art der Wahlwerbung“ ist im Übrigen auch in verfassungskonformer bzw. teleologischer Auslegung des § 58 Abs. 1 NRWO geboten:

60Nach dem Obgesagten wird durch das Verbot der Wahlwerbung in einer Verbotszone der Grundsatz des freien Wahlrechtes nach der NRWO gewährleistet und sichergestellt, dass der Wähler in der Freiheit seiner Wahl nicht in rechtlicher oder faktischer Weise beeinträchtigt wird. In diesem Sinne ergibt sich aus dem freien Wahlrecht das Gebot, das Wahlverfahren so zu organisieren, dass der Wähler seinen wahren Willen unerforscht äußern und seine Entscheidung ohne Zwang und ohne unzulässige Beeinflussung, sei es von staatlicher oder von dritter Seite, insbesondere seitens der Parteien (insofern liegt die wichtigste Grenze der Freiheit der Wahlwerbung in der Freiheit der Stimmabgabe), treffen könne (Freiheit in der Stimmabgabe; vgl. Holzinger/Holzinger, aaO, Rn. 65, mwH auf die Rechtsprechung des VfGH).

61Vor diesem Hintergrund kann das Verbot „jeder Art der Wahlwerbung“ in einer Verbotszone nicht in einem formalen Sinne dahingehend verstanden werden, dass nur (explizite) Werbung für (oder gegen) eine bei der jeweiligen Wahl wahlwerbende Partei verboten wäre. Dies würde nämlich etwa bedeuten, dass andere Arten der Beeinflussung des wahren Wählerwillens, etwa durch Werbung für eine politische Partei (vgl. zum Unterschied Wahlpartei und politische Partei etwa W I 6/2021, Rn. 29, mwN), diesem Verbot nicht unterlägen, was mit dem (bereits verfassungsrechtlich vorgezeichneten) Zweck dieses Verbotes nicht in Einklang zu bringen ist.

62Vielmehr ist vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund das Verbot „jeder Art der Wahlwerbung“ in einer Verbotszone nach § 58 Abs. 1 NRWO weit zu verstehen, und zwar in dem Sinne, dass jegliche Handlung in der Verbotszone, die geeignet ist, in irgendeiner Weise den wahren Wählerwillen zu beeinflussen, verboten ist. Dabei ist vom durchschnittlichen, objektiven Wähler auszugehen (vgl. zum Maßstab des durchschnittlichen, objektiven Dritten bei Anwendung des Art. 9 Abs. 1 DSGVO , Rn. 46, mwN; vgl. zum Maßstab des Durchschnittsbetrachters bei der Beurteilung der Sachlichkeit [Objektivität] einer Sendung nach ORF-G -0010, mwN).

Sinngemäße Anwendung dieses Begriffes für Eintragungsverfahren

63Wie angeführt sind die Tatbestandselemente des § 58 Abs. 1 NRWO, somit auch der Begriff der Wahlwerbung nach dieser Bestimmung, gemäß § 12 VoBeG sinngemäß auf das Eintragungsverfahren nach dem VoBeG zu übertragen. Damit ist § 58 Abs. 1 NRWO im Kontext der Verweisnorm des § 12 VoBeG zu verstehen und kommt damit auch eine Strafbarkeit im Sinne des § 58 Abs. 3 NRWO in Betracht.

64Dies bedeutet zunächst, dass ein Verbot der „Wahlwerbung“ im Eintragungsverfahren nach dem VoBeG schon begrifflich nicht in Frage kommt. Im Kontext des § 12 VoBeG ist in sinngemäßer Anwendung die Wortfolge des § 58 Abs. 1 NRWO „jede Art der Wahlwerbung“ somit dahingehend auszulegen, dass im Eintragungszeitraum in der Verbotszone „jede Art“ der Werbung im Hinblick auf „Volksbegehren“ verboten ist.

65Dabei ist zu beachten, dass es zum Unterschied von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern mit regelmäßig mehreren konkurrierenden Wahlparteien, unter denen die Stimmbürger auswählen sollen, im Verfahren für Volksabstimmungen (nach Art. 43 B-VG) keine organisierten Wahlparteien gibt; vielmehr sind die Abstimmungsberechtigten - ganz anders als bei allgemeinen Wahlen - nicht dazu aufgerufen, eine Wahlpartei und damit Personen zu wählen, sondern über eine von der gewählten gesetzgebenden Körperschaft bereits getroffene Entscheidung einer Sachfrage (positiv oder negativ) abzustimmen (vgl.  W I-6/94 = VfSlg. 13.839, mwN, betreffend die Volksabstimmung über ein Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union).

66Dieser solcherart vom VfGH aufgezeigte Unterschied zu Wahlen besteht auch im Hinblick auf das Eintragungsverfahren von Volksbegehren, bei dem die Stimmberechtigten ihre Zustimmung zu dem beantragten Volksbegehren durch Leistung einer Unterschrift auf einem der bei den Eintragungsbehörden aufliegenden Formulare oder durch Online-Unterstützung erteilen können (vgl. § 6 Abs. 2 VoBeG).

67Die für allgemeine Wahlen grundsätzlich geltenden Regeln der „Freiheit der politischen Willensbildung und Betätigung“ und des Postulates der „Reinheit der Wahlen“, in deren Ergebnis der wahre Wille der Wählerschaft zum Ausdruck kommen soll, sind nach der Rechtsprechung des VfGH unter Bedachtnahme und nach Maßgabe der Unterschiedlichkeiten der beiden Rechtseinrichtungen auch auf das Verfahren für Volksabstimmungen nach Art. 43 und 44 Abs. 3 B-VG iVm Art. 46 B-VG zu übertragen. Die Werbung für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten darf dabei im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung in keiner wie immer gearteten Weise (rechtlich oder faktisch) unterbunden oder auch nur beeinträchtigt werden. Eine Beeinflussung der Wähler durch mündliche oder schriftliche Agitation wird dann für relevant erachtet, wenn sie die zum Schutz der Wahlfreiheit gezogenen Schranken überschreitet. Diese Überlegungen finden auch im Zusammenhang mit der Durchführung von Volksbefragungen grundsätzlich Anwendung (vgl.  W III 2/2013, 2.7.2.-2.7.3. = VfSlg 19.772, mwH ua auf VfSlg. 13.839/1994).

68Vor diesem Hintergrund ist nicht zu sehen, warum die Regeln der „Freiheit der politischen Willensbildung und Betätigung“ und des Postulates der „Reinheit der Wahlen“, in deren Ergebnis der wahre Wille der Wählerschaft zum Ausdruck kommen soll, in dieser Weise nicht auch auf Volksbegehren zu übertragen sind. So ist es auch Teil der Schutzpflichten des Staates, Verletzungen der Rechte der Initiatoren und Unterstützer eines Volksbegehrens nach Art. 41 Abs. 2 B-VG zu verhindern (vgl. Merli in Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg, Österreichisches Bundesverfassungsrecht [1. Lfg 1999] zu Artikel 41 Abs. 2 B-VG, Rn. 47 f).

69Wie bereits ausgeführt, wird mit dem Verbot der Wahlwerbung nach § 58 Abs. 1 NRWO der Grundsatz des freien Wahlrechtes gewährleistet und sichergestellt, dass der Wähler in der Freiheit seiner Wahl nicht in rechtlicher oder faktischer Weise beeinträchtigt wird. Dieses Verbot ist daher weit auszulegen (arg.: „jede Art“).

70Dieser Bedeutungsgehalt des § 58 Abs. 1 NRWO darf keine Änderung erfahren, wenn diese Bestimmung nach § 12 VoBeG sinngemäß auf Eintragungsverfahren von Volksbegehren angewendet wird (vgl. zur sinngemäßen Anwendung von Normen erneut , mwN).

71Daher ist auch das Verbot jeder Art von Werbung im Hinblick auf „ein Volksbegehren“ in einer Verbotszone nach § 58 Abs. 1 NRWO iVm § 12 VoBeG weit zu verstehen, und zwar in dem Sinne, dass jegliche Handlung in der Verbotszone verboten ist, die geeignet ist, in irgendeiner Weise den „wahren Wählerwillen“, im vorliegenden Zusammenhang des VoBeG daher den freien Willen von Stimmberechtigten (§ 7 VoBeG), einem Volksbegehren im Eintragungsverfahren (§§ 6 ff VoBeG) die Unterstützung zu erteilen, zu beeinflussen. Dabei ist vom durchschnittlichen, objektiven Stimmberechtigten auszugehen.

72Somit ist auch jede Art der Werbung für ein Volksbegehren verboten, ohne dass es darauf ankäme, in welchem Verfahrensstadium sich das beworbene Volksbegehren befindet, wenn diese geeignet ist, in irgendeiner Weise den freien Willen von Stimmberechtigten (§ 7 VoBeG), einem beantragten Volksbegehren die Unterstützung zu erteilen, zu beeinflussen.

73Zusammenfassend ist daher die Wortfolge „jede Art der Wahlwerbung“ des § 58 Abs. 1 NRWO iVm § 12 VoBeG dahin zu verstehen, dass davon jegliche Handlung in der Verbotszone erfasst wird, die geeignet ist, in irgendeiner Weise den freien Willen von Stimmberechtigten (§ 7 VoBeG), einem Volksbegehren im Eintragungsverfahren (§§ 6 ff VoBeG) die Unterstützung zu erteilen, zu beeinflussen. Damit ist auch jede Art der Werbung für ein Volksbegehren verboten, ohne dass es darauf ankäme, in welchem Verfahrensstadium sich das beworbene Volksbegehren befindet, wenn diese wie dargelegt geeignet ist, in irgendeiner Weise den freien Willen von Stimmberechtigten (§ 7 VoBeG) zu beeinflussen.

Einzelfallbezogene Anwendung

74Die im vorliegenden Fall vertretene Auffassung des Verwaltungsgerichts, dem Verbot des § 12 VoBeG iVm § 58 Abs. 1 NRWO unterlägen nur jene Volksbegehren, hinsichtlich derer im fraglichen Zeitpunkt auch eine Eintragungsmöglichkeit bestehe, entspricht dagegen nicht der Rechtslage.

75Ausgehend von dem vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalt, wonach Volksbegehren mit den Kurzbezeichnungen „Notstandshilfe“, „Impfpflicht: Notfalls JA“, „Impfpflicht: Striktes NEIN“ und „Kauf Regional“ im Eintragungsverfahren waren und der Mitbeteiligte Flugzettel „Echte Demokratie“ und „COVID-Maßnahmen abschaffen“ an anwesende „Bürger“ verteilt und mit diesen auch das Gespräch gesucht hat, ist dagegen jedenfalls - schon ausgehend vom inhaltlichen Konnex der angesprochenen Themen - anzunehmen, dass Handlungen vorlagen, die geeignet waren, den freien Willen von Stimmberechtigten (§ 7 VoBeG), einem Volksbegehren im Eintragungsverfahren (§§ 6 ff VoBeG) die Unterstützung zu erteilen, zu beeinflussen.

76Soweit der Mitbeteiligte in seiner Revisionsbeantwortung moniert, die Verordnung der Verbotszone sei bisher nicht nachgewiesen worden, ist er auf die Feststellungen des erstinstanzlichen Straferkenntnisses zu verweisen, nach denen die Kundmachung der Verbotszone sowohl an der Amtstafel des Rathauses als auch an der Eingangstüre des betroffenen Eintragungslokals erfolgt sei. Dem tritt die Revisionsbeantwortung nicht konkret entgegen.

Ergebnis

77Das angefochtene Erkenntnis war aus diesen Erwägungen im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

78Von der beim Verwaltungsgerichtshof beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden, zumal der Amtsrevisionswerber schon beim Verwaltungsgericht, einem Tribunal im Sinne der EMRK, eine mündliche Verhandlung hätte beantragen können, darauf aber verzichtet hat (vgl. , mwN).

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022010220.L00

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.