VwGH vom 31.01.2023, Ra 2021/19/0306

VwGH vom 31.01.2023, Ra 2021/19/0306

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsidenten Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Einser als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des H A, vertreten durch Dr. Oliver Sturm, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 2-4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W105 2229337-1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

2Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Revisionswerber wegen des Vergehens des (versuchten) unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG und 15 StGB als Jugendstraftat (§ 5 Z 4 JGG) rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten, die unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

3Mit Aktenvermerk vom leitete das BFA gegen den Revisionswerber ein Aberkennungsverfahren ein.

4Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Revisionswerber neuerlich wegen des Vergehens des (versuchten) unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 2a zweiter Fall SMG und 15 StGB als Jugendstraftat (§ 5 Z 4 JGG) rechtskräftig zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt.

5Mit Bescheid vom erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigen gemäß „§ 9 Absatz 2“ AsylG 2005 von Amts wegen ab, entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot.

6Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB sowie des Einbruchsdiebstahls nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1, Z 2, 129 Abs. 2 Z 1 StGB als Jugendstraftat (§ 5 Z 4 JGG) rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

7Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass der Aberkennungsgrund nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 vorliege, weil sich aus den strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers eine von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ergebe. Darüber hinaus habe der Revisionswerber nach § 9 Abs. 2 Z 2 [gemeint offenbar: Z 3] AsylG 2005 einen weiteren Aberkennungstatbestand verwirklicht, weil er durch den schweren Raub ein Verbrechen iSd § 17 Abs. 1 StGB begangen habe.

9Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , E 447/2021-9, abgelehnt und diese über nachträglichen Antrag des Revisionswerbers mit Beschluss vom , E 447/2021-11, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten hat.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat über die daraufhin erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11Die Revision bringt in der Zulässigkeitsbegründung zunächst vor, dass das BVwG entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 keine Gefährdungsprognose durchgeführt und bei der von ihm auf § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 gestützten Aberkennung wegen der Verurteilung aufgrund eines Verbrechens keine Einzelfallprüfung dahingehend vorgenommen habe, ob eine schwere Straftat im Sinne der Statusrichtlinie vorliege.

12Die Revision ist zulässig und auch begründet.

13Nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 hat eine Aberkennung stattzufinden, wenn der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt. Ob der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, erfordert eine Gefährdungsprognose. Dabei ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Strafgerichtliche Verurteilungen des Fremden sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sich daraus nach der Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und der Tatumstände der Schluss auf die Gefährlichkeit des Fremden für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik Österreich ziehen lässt (vgl. , mwN).

14Das BVwG listete in seinen Feststellungen zunächst lediglich die Verurteilungen des Revisionswerbers auf und führte in der rechtlichen Beurteilung aus, dass aufgrund der zusätzlichen Anordnung einer Bewährungshilfe durch das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom davon auszugehen sei, dass dem Revisionswerber eine zusätzliche Unterstützung beigestellt werden müsse, um ihn von weiteren Tatbegehungen abzuhalten. Dem Revisionswerber sei es nicht gelungen, das Unrecht seiner Taten „durch wohlwollendes Nachverhalten auszugleichen“, er verfüge über ein großes Maß an krimineller Energie und sei nicht gewillt, sich der Rechtsordnung in Österreich zu unterwerfen. Es fehlen somit konkrete Feststellungen dazu und eine darauf aufbauende Gefährdungsprognose, insbesondere eine Auseinandersetzung mit Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und der Tatumstände.

15Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine Aberkennung des subsidiären Schutzes nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 nicht allein darauf gestützt werden, dass der Revisionswerber wegen eines Verbrechens im Sinne des § 17 StGB (hier: schwerer Raub gemäß § 143 Abs. 1 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis , vor dem Hintergrund des Ahmed, C-369/17, näher erläutert hat, ist bei der Anwendung des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 jedenfalls auch eine Einzelfallprüfung durchzuführen, ob eine „schwere Straftat“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie vorliegt. Dabei ist die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen und eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen. Bei dieser einzelfallbezogenen Würdigung sind auch die konkret verhängte Strafe und die Gründe für die Strafzumessung zu berücksichtigen (vgl. , mwN).

16Der Verwaltungsgerichtshof hat auch betont, dass der Zweck dieses Ausschlussgrundes darin besteht, jene Personen, die als des subsidiären Schutzes unwürdig anzusehen sind, von diesem Status auszuschließen (vgl. , mwN).

17Das BVwG hat seiner Entscheidung zwar die vom Landesgericht für Strafsachen Wien verhängte Strafe zu Grunde gelegt und darauf hingewiesen, dass es sich beim vom Revisionswerber begangenen Verbrechen nach dem EASO-Leitfaden „Ausschluss“ und unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Wertung in anderen Jurisdiktionen um eine „schwere Straftat“ handle. Es hat jedoch keine Einzelfallprüfung im Sinne der zitierten Judikatur vorgenommen. Wie das BVwG zu dem Schluss gelangt, dass bei „Gesamtwürdigung aller Umstände“ zweifellos zu erkennen sei, dass sich der Revisionswerber des Status des subsidiär Schutzberechtigten unwürdig erwiesen habe, begründet das Verwaltungsgericht jedoch nicht.

18In diesem Zusammenhang rügt die Revision ebenfalls zu Recht, dass sich das BVwG bei der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber hätte verschaffen müssen (vgl. dazu etwa , Rn. 37, mwN). Insbesondere beging der Revisionswerber seine letzte Straftat knapp drei Jahre nach der beim BFA erfolgten niederschriftlichen Einvernahme zur Einleitung des Aberkennungsverfahrens. Bereits vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass der entscheidungsmaßgebliche Sachverhalt vom BFA vollständig ermittelt worden sei und die Entscheidungsgrundlagen im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG die nach dem Gesetz notwendige Aktualität aufgewiesen hätten. Infolgedessen hätte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG in Bezug auf die Heranziehung der Ausschlussgründe des § 9 Abs. 2 Z 2 und Z 3 AsylG 2005 die Durchführung einer Verhandlung nicht unterbleiben dürfen (vgl. erneut VwGH Ra 2020/20/0274, mwN).

19Für das fortzusetzende Verfahren wird das Bundesverwaltungsgericht auf den (EU 2021/0007), und das beim Gerichtshof der Europäischen Union aufgrund des damit unterbreiteten Ersuchens um Vorabentscheidung (hier: betreffend die Frage 2.) zu C-663/21 anhängige Verfahren hingewiesen. Diese dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegte Frage bezieht sich ihrem Wortlaut nach zwar auf die Aberkennung des Status des Asylberechtigten, während der gegenständliche Fall die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten betrifft. Die im Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen Fragen zur Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung nach Aberkennung des internationalen Schutzstatus, deren Vollstreckung auf unbestimmte Zeit nicht erfolgen darf, stellt sich jedoch in gleicher Weise auch im vorliegenden Fall (vgl. , mwN).

20Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

21Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

22Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021190306.L00

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