VwGH vom 02.03.2023, Ra 2021/18/0006
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des I S, vertreten durch Rast & Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W111 2219882-1/7E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, für den als damals Fünfjährigen am ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Nachdem seinem Vater der Status eines Asylberechtigten gewährt worden war, wurde dem Revisionswerber mit Bescheid des Bundesasylamtes vom im Wege der Asylerstreckung derselbe Status zuerkannt.
2Das Landesgericht für Strafsachen Wien erkannte den Revisionswerber mit Urteil vom für schuldig, er habe
„ [...] seit einem nicht näher festzustellenden Zeitpunkt Anfang des Jahres 2017 bis zu seiner Festnahme am sich als Mitglied (§ 278 Abs 3 StGB) an einer terroristischen Vereinigung (§ 278b Abs 3 StGB), nämlich der [...] Terrororganisation IS-Islamic State, die [...] darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern dieser Vereinigung eine oder mehrere terroristische Straftaten (§ 278c StGB) ausgeführt werden oder Terrorismusfinanzierung (§ 278d StGB) betrieben wird, beteiligt, wobei er im Wissen (§ 5 Abs 3 StGB) handelte, durch seine Beteiligung die Vereinigung IS-Islamic State oder deren strafbare Handlungen zu fördern, indem er in nachbezeichneten Einzel- und Gruppenchats den IS, dessen Kämpfer, dessen terroristische Straftaten verherrlichendes und zur Begehung von Anschlägen aufrufendes IS-Propagandamaterial, insbesondere IS-Kampfnasheeds verschickte, er sich dadurch als Anhänger des IS deklarierte und die anderen Chatteilnehmer für die terroristische Vereinigung IS-Islamic State anzuwerben beziehungsweise jene, die mit dem IS bereits sympathisierten, in ihrem Entschluss, diesen zu unterstützen, zu bestärken beabsichtigte, und zwar [...] indem er als aktives Mitglied des ca. 30 Personen umfassenden Telegram-Chats ‚[...]‘ IS-Kampfnasheeds und IS-Propagandavideos übermittelte [Anm: es folgt die Wiedergabe bzw. Beschreibung des Inhalts von verschickten Texten und Videodateien];
[...] durch die oben näher bezeichneten Handlungen sich an einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Zahl von Personen, nämlich der international agierenden terroristischen Vereinigung IS-Islamic State, als Mitglied in dem Wissen beteiligt (§ 278 Abs 3 StGB), dass er dadurch die Vereinigung in ihrem Ziel, im Irak, in Syrien, im Libanon, in Jordanien und in Palästina einen radikalislamischen Gottesstaat (Kalifat) zu errichten, und deren terroristische Straftaten nach § 278c Abs 1 StGB zur Erreichung dieses Ziels förderte, wobei diese Vereinigung, wenn auch nicht ausschließlich, auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, sowie schwerwiegender strafbarer Handlungen im Bereich der sexuellen Ausbeutung von Menschen, der Schlepperei oder des unerlaubten Verkehrs mit Kampfmitteln, insbesondere dem tatsächlichen kriegerischen Einsatz erlangter Waffen, ausgerichtet ist, indem sie seit Sommer 2011 insbesondere in Syrien und im Irak unter Anwendung besonderer Grausamkeit durch terroristische Straftaten nach § 278c Abs 1 StGB die Zerstörung des syrischen und irakischen Staates betreibt, in den eroberten Gebieten in Syrien und im Irak die sich nicht ihren Zielen unterordnende Zivilbevölkerung tötet und vertreibt, sich deren Vermögen aneignet, durch Geiselnahme große Geldsummen erpresst, die vorgefundenen Kunstschätze veräußert und Bodenschätze, insbesondere Erdöl und Phosphat, zu ihrer Bereicherung ausbeutet, die durch all diese Straftaten eine Bereicherung im großen Umfang anstrebt und Dritte durch angedrohte und ausgeführte Terroranschläge insbesondere in Syrien und im Irak, aber auch in Europa, einschüchtert und sich auf besondere Weise, nämlich durch Geheimhaltung ihres Aufbaues, ihrer Finanzstruktur, der personellen Zusammensetzung der Organisation und der internen Kommunikation, gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abschirmt [...].“
Der Revisionswerber habe dadurch das Verbrechen der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs. 2 StGB, das Verbrechen der kriminellen Organisation nach § 278a StGB und das Vergehen der Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten nach § 282a Abs. 1 und Abs. 2 StGB begangen. Über den Revisionswerber wurde eine Freiheitsstrafe von 21 Monaten verhängt, wovon ein Teil im Ausmaß von 14 Monaten bedingt nachgesehen wurde. Der bisherige ordentliche Lebenswandel, das umfassende und reumütige Geständnis sowie das Alter unter 21 Jahren wurden mildernd, das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen erschwerend gewertet. Der Revisionswerber verzichtete auf Rechtsmittel.
3Am leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) von Amts wegen ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein.
4Mit Bescheid des BFA vom wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Dem Revisionswerber wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Das BFA erließ zudem eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.), legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.) und erließ gegen den Revisionswerber ein unbefristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).
5Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er etwa vorbrachte, mit der verhängten teilbedingten Freiheitsstrafe von 21 Monaten sei der Strafrahmen für die begangenen Delikte (bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe) „deutlich unterschritten“ worden, weshalb die Tat des Revisionswerbers nicht als besonders schwerwiegend angesehen werden könne. Außerdem müsse die Reue des Revisionswerbers berücksichtigt werden. Ihm sei das Unrecht seiner Tat bewusst und er habe von Anfang an Besserung gelobt, was sich auch in seinen Handlungen widerspiegle. Nun sei ihm bewusst, dass der IS „keine moralisch zu rechtfertigenden Aktionen“ tätige und dass es sich bei dieser Gruppierung um eine terroristische Vereinigung handle. Er habe sich voll und ganz von den Idealen des IS distanziert. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.
6Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit einer Maßgabebestätigung - insbesondere mit der Maßgabe, Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA werde insofern abgeändert, als dem Revisionswerber der Status als Asylberechtigter gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 3 und 4 AsylG 2005 aberkannt werde - als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
7Zur Begründung der Aberkennung des Asylstatus führte das BVwG aus, der Revisionswerber sei mit dem rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom u.a. wegen des Verbrechens der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs. 2 StGB verurteilt worden. Mit einem weiteren rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom sei über den Revisionswerber „wegen § 107 Abs. 1 StGB“ eine „Freiheitsstrafe 1 Monat, bedingt, Probezeit 3 Jahre, als Zusatzstrafe“ verhängt worden. Der Aberkennungsgrund des § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 liege vor, da aus stichhaltigen Gründen angenommen werden könne, dass der Revisionswerber eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstelle. Ein Wegfall der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährdung sei aufgrund der Schwere der Straftat keinesfalls ersichtlich. Das Vorbringen des Revisionswerbers vor dem BFA, er habe die Tat „nur wegen der Aufmerksamkeit begangen [...]; er habe dazugehören wollen“, zeuge von „mangelnder Selbstverantwortung“. Dem Tatbestand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sei eine besondere Gefährlichkeit bereits inhärent. Auch der Aberkennungstatbestand des § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 sei als erfüllt zu erachten, da der Revisionswerber von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sei und er wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeute. Die Gemeingefährlichkeit des Revisionswerbers ergebe sich bereits aus seiner Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Zudem sei der Revisionswerber „zu einer Zusatzstrafe“ verurteilt worden. Insbesondere der Erschwerungsgrund des Zusammentreffens mehrerer strafbarer Handlungen zeuge von der besonderen Gefährlichkeit des Revisionswerbers. Die Straftat erweise sich daher nicht nur als objektiv, sondern auch als subjektiv besonders schwerwiegend. Die unverändert hohe Gefährlichkeit des Revisionswerbers ergebe sich aus den der Verurteilung zugrundeliegenden Straftaten und der mangelnden Selbstverantwortung, sodass dieser zweifelsohne als gemeingefährlicher Täter zu qualifizieren sei. Die seit der Entlassung aus der Strafhaft vergangene Zeit des Wohlverhaltens erweise sich jedenfalls als zu kurz, um einen allfälligen nachhaltigen Gesinnungswandel erkennen zu können. Dabei werde nicht verkannt, dass der Revisionswerber vorgebracht habe, seine Taten zu bereuen, denn mit seinem bisherigen Verhalten habe er nicht darlegen können, die österreichische Rechtsordnung zukünftig zu achten und sich wohl zu verhalten.
8Subsidiärer Schutz sei nicht zuzuerkennen gewesen, da den Revisionswerber eine Rückführung in den Herkunftsstaat keinem realen Risiko einer Verletzung in den durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten aussetzen würde. Darüber hinaus sei der Revisionswerber aufgrund der dargestellten Verurteilung wegen einer schweren Straftat gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 2 und 3 AsylG 2005 von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen.
9Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG eine näher begründete Abwägung der privaten Interessen am Verbleib des Revisionswerbers in Österreich gegen die öffentlichen Interessen am Verlassen des Landes durch und es bestätigte das über den Revisionswerber verhängte (unbefristete) Einreiseverbot.
10Der Revisionswerber erhob gegen dieses Erkenntnis zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
11Die daraufhin eingebrachte außerordentliche Revision macht zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht geltend.
12Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.
13Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
14Die Revision ist zulässig und begründet.
15Das BVwG hat die Aberkennung des Status des Revisionswerbers als Asylberechtigten einerseits auf § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 (was voraussetzt, dass „aus stichhaltigen Gründen angenommen werden kann, dass der Fremde eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt“) und andererseits auf § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 gestützt (was voraussetzt, dass der Revisionswerber „von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet“).
16Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 zur Beurteilung der Frage, ob der Fremde eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, im jeweiligen Einzelfall eine Gefährdungsprognose, wie sie in ähnlicher Weise auch in anderen asyl- und fremdenrechtlichen Vorschriften zugrunde gelegt ist (vgl. §§ 9 Abs. 2 Z 2 und 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005; §§ 53 und 66 Abs. 1 FPG). Bei dieser Einzelfallprüfung ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich dar (vgl. , mwN).
17Was wiederum die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 betrifft, genügt es nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Qualifizierung einer Straftat als „besonders schweres Verbrechen“ nicht, wenn ein abstrakt als „schwer“ einzustufendes Delikt verübt worden ist. Die Tat muss sich im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend erweisen. Bei der Beurteilung, ob ein „besonders schweres Verbrechen“ vorliegt, ist daher eine konkrete fallbezogene Prüfung vorzunehmen und es sind insbesondere die Tatumstände zu berücksichtigen. Lediglich in gravierenden Fällen schwerer Verbrechen ist bereits ohne umfassende Prüfung der einzelnen Tatumstände eine eindeutige Wertung als schweres Verbrechen mit negativer Zukunftsprognose zulässig (vgl. etwa , mwN).
18Ein Absehen von der mündlichen Verhandlung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. jüngst etwa , mwN).
19Der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung kommt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose hinsichtlich des Erfordernisses der Gemeingefährlichkeit im Sinn des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 besondere Bedeutung zu (vgl. abermals Ra 2020/18/0345, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar in diesem Zusammenhang bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass daraus noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten ist, aber gleichzeitig betont, dass nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, eine Verhandlung unterbleiben könne (vgl. abermals , mwN). Diese Maßstäbe gelten auch im Zusammenhang mit der für die Anwendung des Aberkennungstatbestandes des § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 erforderlichen Gefährdungsprognose.
20Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung lagen fallbezogen nicht vor:
21In der Beschwerde gegen den Bescheid des BFA erstattete der Revisionswerber - über die vom BFA seiner Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen hinaus - ergänzendes Vorbringen zu seinem Gesinnungswandel, etwa dass er sich voll und ganz von den Idealen des IS distanziert habe; die Besserung, die er gelobt habe, spiegle sich auch in seinen Handlungen wider.
22Das BVwG begnügte sich allerdings im Wesentlichen mit der Wiedergabe der Ausführungen des - überdies bloß gekürzt ausgefertigten - Urteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien (vgl. Rz 2), um zur Bewertung der vom Revisionswerber begangenen Straftat „auch als subjektiv besonders schwerwiegend“ zu gelangen, und leitete die „unverändert hohe Gefährlichkeit“ des Revisionswerbers letztlich aus dem bloßen Umstand dieser Verurteilung ab. Das BVwG erwähnt in diesem Zusammenhang, dass der Revisionswerber mit dem weiteren Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom - nach Erlassung des Bescheides das BFA - „zu einer Zusatzstrafe verurteilt“ wurde, stellt jedoch nicht einmal die genaueren Umstände dieser weiteren Verurteilung fest. Damit verkannte das BVwG, dass es den Sachverhalt nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergänzen hätte müssen.
23Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. abermals , mwN).
24Für das fortzusetzende Verfahren wird abschließend darauf hingewiesen, dass im gegenständlichen Fall für die Frage einer (allfälligen) Rückkehrentscheidung jene Kriterien von Bedeutung sein können, die der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung in Fällen der „Aufenthaltsverfestigung“ von Fremden, die sich jahrelang rechtmäßig mit Asylstatus im Bundesgebiet aufgehalten haben, entwickelt hat (vgl. dazu insbesondere und Ra 2021/20/0328).
25Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
26Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Von einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021180006.L00 |
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