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VwGH vom 22.11.2022, Ra 2021/10/0114

VwGH vom 22.11.2022, Ra 2021/10/0114

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision der S G in H, vertreten durch Dr. Stella Spitzer-Härting, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Krongasse 22/4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom , Zl. LVwG-AV-656/008-2018, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Mödling), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Das Land Niederösterreich hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Mit Antrag vom , eingelangt bei der belangten Behörde am , begehrte die Revisionswerberin die (Weiter-)Gewährung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nach dem Niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetz (NÖ MSG).

2Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin auf Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes gemäß § 5 Abs. 1 und 2 sowie § 8 Abs. 5 NÖ MSG ab.

3Das diesen Bescheid bestätigende Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich (Verwaltungsgericht) vom wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ra 2019/10/0142, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

4Im zweiten Rechtsgang gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde der Revisionswerberin mit Erkenntnis vom dahingehend Folge, dass ihrem Antrag vom auf Zuerkennung von Leistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes teilweise stattgegeben wurde und ihr ab dem bis längstens Geldleistungen in näher bezeichneter Höhe zuerkannt wurden.

5Die dagegen erhobene außerordentliche Revision, in der seitens der Revisionswerberin gerügt wurde, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht über die Mindestsicherungsleistung für den Zeitraum ab nicht entschieden, wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom , Ra 2020/10/0074, mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Revision keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses, sondern die Verletzung der Entscheidungspflicht des Verwaltungsgerichtes geltend gemacht habe.

6In Folge eines Fristsetzungsantrages an den Verwaltungsgerichtshof erging seitens des Verwaltungsgerichts innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof gesetzten Frist das nunmehr angefochtene Erkenntnis vom , mit dem dem Antrag der Revisionswerberin, soweit er sich auf den Zeitraum ab bezieht, nicht stattgegeben und ausgesprochen wurde, dass gegen dieses Erkenntnis eine außerordentliche Revision gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7Begründend führte das Verwaltungsgericht einleitend aus, dass für Verfahren, die nach dem (bereits außer Kraft getretenen) NÖ MSG zu beurteilen seien, nicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der Rechtsmittelbehörde, sondern jene Sach- und Rechtslage, die im zu beurteilenden Zeitpunkt bzw. Zeitraum in Geltung gestanden bzw. vorgelegen sei, heranzuziehen sei. Dies sei im vorliegenden Fall primär § 9 Abs. 4 NÖ MSG in der Fassung LGBl. 9205-3, welcher mit Ablauf des außer Kraft getreten sei.

8Entgegen der von der Revisionswerberin vertretenen Rechtsauffassung sei § 9 Abs. 4 NÖ MSG eine Befristung der zuerkannten Leistungen über einen Zeitraum von mehr als 12 Monaten unmissverständlich nicht zu entnehmen und eine solche daher unzulässig. Ein allfälliger Antrag, sollte er sich auf einen Zeitraum von mehr als 12 Monaten beziehen, sei in diesem Umfang somit „zurückzuweisen“.

9Die einzige Ausnahme der „dauernden Arbeitsunfähigkeit“, bei deren Vorliegen eine Befristung entfallen könne, sei weder dem Verwaltungsakt noch den eingeholten amtsärztlichen Gutachten gesichert zu entnehmen, weshalb das Verwaltungsgericht von einer nicht dauernden Arbeitsunfähigkeit ausgegangen sei.

10Es lägen keine Beweismittel dafür vor, dass die Revisionswerberin während des Rechtsmittelverfahrens versucht habe, einen Folgeantrag bei der belangten Behörde zu stellen, und ihr dies, wie von der Revisionswerberin argumentiert, verwehrt worden sei. Selbst bei Zutreffen dieses Vorbringens sei nicht von einem Rechtsanspruch auf Gewährung der beantragten Leistungen über einen Zeitraum von mehr als 12 Monaten auszugehen.

11Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend macht, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob eine auf § 9 Abs. 4 NÖ MSG gestützte Befristung von Leistungen der Mindestsicherung eine über diesen Zeitraum hinausgehende Leistungsgewährung im Rechtsmittelverfahren ausschließt, wenn die Befristung im Zeitpunkt der Zuerkennung der Leistung durch das Verwaltungsgericht bereits abgelaufen ist.

12Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

13Die Revision erweist sich im Hinblick auf das oben in Rz 11 wiedergegebene Zulässigkeitsvorbringen als zulässig.

14Die maßgeblichen Bestimmungen des NÖ Mindestsicherungsgesetzes (NÖ MSG), LGBl. 9205-0, in der zeitraumbezogen („ab “) hier maßgeblichen Fassung LGBl. 9205-3, lauten auszugsweise:

3. Abschnitt

Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung

§ 9

Allgemeines

[...]

(2) Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes (Abs. 1 Z 1) oder zur Deckung des Wohnbedarfes (Abs. 1 Z 2) werden grundsätzlich durch einmalige oder laufende Geldleistungen (Mindeststandards) erbracht. Laufende Geldleistungen werden jeweils am Monatsletzten im Nachhinein fällig. Zur Vermeidung von Härtefällen kann bei der erstmaligen Auszahlung ein Vorschuss gewährt werden.

(2a) Geldleistungen nach Abs. 2 gebühren aliquot ab Antragstellung, wobei der Kalendermonat einheitlich mit 30 Tagen anzunehmen ist.

[...]

(4) Laufende Geldleistungen nach Abs. 2 und Sachleistungen oder stationäre Hilfe nach Abs. 3 sind entsprechend der konkreten Notlage angemessen zu befristen, bei erstmaliger Gewährung mit maximal sechs Monaten, bei jeder weiteren Gewährung mit maximal zwölf Monaten. Bei dauernder Arbeitsunfähigkeit oder Erreichung des Regelpensionsalters kann die weitere Befristung entfallen.

(4a) Ein Antrag auf eine weitere Gewährung ist rechtzeitig vor Ende der befristeten Leistung zu stellen. Erfolgt eine Antragstellung nicht rechtzeitig aber noch innerhalb von 6 Wochen nach dem Ende der befristeten Leistung, ist bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen die Bedarfsorientierte Mindestsicherung ohne Unterbrechung der Leistung weiter zu gewähren, es sei denn die Nichteinhaltung der rechtzeitigen Antragstellung ist vorwerfbar.

[...]“

15Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Ansprüchen auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung um zeitraumbezogene Ansprüche handelt, für welche nicht die im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses geltende Rechtslage schlechthin maßgebend ist, sondern eine zeitraumbezogene Beurteilung vorzunehmen ist (vgl. etwa ; , Ra 2018/10/0052, jeweils mwN). Dementsprechend sind fallbezogen die zum bekannten Anspruchszeitraum (ab ) geltenden Bestimmungen anzuwenden.

16Das Verwaltungsgericht vertritt unter Berufung auf § 9 Abs. 4 NÖ MSG die Rechtsmeinung, dem noch offenen Antrag „für den Zeitraum ab “ könne nicht stattgegeben werden, weil nach der genannten Bestimmung die Zuerkennung von Leistungen über 12 Monate hinausgehend unzulässig sei.

17Nach dem Vorbringen der Revisionswerberin habe das Verwaltungsgericht erst „rund 45 Monate“ nach ihrer Antragstellung vom Leistungen nach dem NÖ MSG zuerkannt, allerdings nur für einen Zeitraum von 12 Monaten ab Antragstellung. Demnach würde die Dauer des Rechtsmittelverfahrens zu Lasten der Hilfe suchenden Person gehen, wenn die Rechtsauffassung der belangten Behörde, wonach Geldleistungen dem Grunde nach nicht zustünden, bekämpft werde.

18Vor diesem Hintergrund stellt sich die in der Revision aufgeworfene Rechtsfrage nach der Rechtswirkung der in § 9 Abs. 4 NÖ MSG festgelegten Befristungen in jenen Verfahren, die erst nach Ablauf der dort normierten Maximalfrist - gerechnet ab dem Zeitpunkt der Antragstellung - entschieden wurden.

19Im Fall der Erhebung einer Beschwerde gegen die Abweisung eines - wie hier - unbefristeten Mindestsicherungsantrages ist Verfahrensgegenstand („Sache“) des Beschwerdeverfahrens die Frage, ob und gegebenenfalls in welchen Zeiträumen - zumindest bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts - dem Antragsteller die begehrte Mindestsicherungsleistung gebührt (vgl. , zum insoweit übertragbaren Verfahren vor der Berufungsbehörde).

20Das Verwaltungsgericht ist vor diesem Hintergrund zu Recht davon ausgegangen, dass über den verfahrenseinleitenden Antrag im Umfang des Zeitraums ab im Rahmen des Beschwerdeverfahrens noch abzusprechen war, weil insoweit ein (noch) offener Antrag vorlag.

21Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom , 2000/08/0072, im Zusammenhang mit der gesetzlichen Befristung der Notstandshilfe Folgendes ausgeführt (Hervorhebung nicht im Original):

„In Fällen, in denen die bekämpfte Abweisungsentscheidung nicht nur für einen bestimmten Zeitraum ergangen ist, ist der Antragsteller auch mit Blick auf die gesetzliche Befristung der Zuerkennung der Notstandshilfe mit jeweils 52 Wochen nicht dazu verpflichtet, während der Weiterverfolgung eines solchen Anspruchs auf Notstandshilfe im Rechtsmittelweg bzw. vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts weitere solche Anträge auf Zuerkennung von Notstandshilfe vor der regionalen Geschäftsstelle nach Ablauf der jeweiligen gesetzlichen Frist von 52 Wochen zu stellen, weil diese Frist bis zu einer die Notstandshilfe erstmals zuerkennenden Entscheidung bloß fiktiven Charakter hat und ihr Lauf auch vom Arbeitslosen fiktiv gar nicht beurteilt werden kann (man denke nur an mögliche Unterbrechungen des Bezuges, die nicht zu einer Verkürzung der Anspruchsdauer führen). Die uneingeschränkte Weiterverfolgung des Anspruches während dieser Verfahren ersetzt vielmehr die weiteren Antragstellungen, sofern das Verfahren bis zur erstmaligen Zuerkennung die Dauer von 52 Wochen überschreitet. Aus diesen Gründen kommt eine Beschränkung der Zuerkennung von Notstandshilfe auf 52 Wochen dann nicht mehr in Betracht, wenn als Ergebnis eines solchen Verfahrens die Notstandshilfe rückwirkend auf Grund eines Antrages zuzuerkennen ist, der schon länger als 52 Wochen zurückliegt.“

22Diese zur Notstandshilfe ergangene Rechtsprechung kann auf die vorliegende Konstellation einer ebenso zeitraumbezogen (vgl. diesbezüglich zur Notstandshilfe etwa ; , 2003/08/0237) und im Lichte einer gesetzlichen Befristung zu beurteilenden Mindestsicherungsangelegenheit übertragen werden.

23Daraus folgt, dass die in § 9 Abs. 4 NÖ MSG vorgesehene Beschränkung der maximalen Bezugsdauer von Leistungen dann nicht mehr in Betracht kommt, wenn bereits die Verfahrensdauer betreffend die Zuerkennung der Mindestsicherung diese gesetzlich vorgesehene Bezugsdauer überschreitet. In einem solchen Fall ist daher über die Zuerkennung der Mindestsicherung (zumindest) bis zum Entscheidungszeitpunkt abzusprechen, und zwar (wie sich gleichfalls aus dem zitierten Erkenntnis VwGH 2000/08/0072 ergibt) ohne dass es dazu einer weiteren Antragstellung bedarf.

24Da das Verwaltungsgericht dies verkannt hat, hat es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

25Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021100114.L00

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