VwGH vom 31.10.2022, Ra 2021/08/0038
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schramel, über die Revision des M G in W, vertreten durch Mag. Stephan Potz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W145 2218630-1/13E, betreffend Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Gesundheitskasse), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Österreichische Gesundheitskasse hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber war Geschäftsführer der U GmbH. Über das Vermögen der U GmbH wurde am das Konkursverfahren eröffnet.
2Die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK; Rechtsnachfolgerin nunmehr: Österreichische Gesundheitskasse) teilte dem Revisionswerber mit Schreiben vom mit, er hafte als ehemaliger Geschäftsführer der U GmbH gemäß § 67 Abs. 10 ASVG für die Sozialversicherungsbeiträge, die für die Dienstnehmer dieses Unternehmens in den Monaten Oktober, November und Dezember 2010 offen geblieben seien. Der Revisionswerber werde aufgefordert, diese Beiträge zu bezahlen. Der Revisionswerber erwiderte, eine Verpflichtung zur Zahlung der Beiträge bestehe schon deshalb nicht, weil diese verjährt seien.
3Das Konkursverfahren der U GmbH wurde am nach Verteilung des Massevermögens aufgehoben.
4Mit Bescheid vom sprach die WGKK aus, der Revisionswerber sei als ehemaliger Geschäftsführer der U GmbH gemäß § 67 Abs. 10 ASVG verpflichtet, offene Beitragsschulden dieses Unternehmens in Höhe von € 495.297,83 zuzüglich Verzugszinsen zu bezahlen.
5Die Haftung des Revisionswerbers gründete die WGKK darauf, dass die Eintreibung der rückständigen Beiträge bei der - in Folge des Konkursverfahrens aufgelösten - U GmbH nicht mehr möglich sei. Der Revisionswerber habe eine Gleichbehandlung der Beitragsforderungen der WGKK mit den Forderungen anderer Gläubiger in seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der U GmbH nicht nachweisen können.
6Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid eine Beschwerde. Er bestritt die angenommene Benachteiligung der WGKK gegenüber anderen Gläubigern und legte im Verfahren des Bundesverwaltungsgerichts dazu eine Aufstellung der Verbindlichkeiten der U GmbH vor, wonach im Zeitraum von der Fälligkeit der ersten offenen Beitragsforderung bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens am insgesamt 65,7 % der Verbindlichkeiten aller Gläubiger und 27 % der Beitragsschulden bei der WGKK beglichen worden seien. Auch wandte er erneut die Verjährung der Beitragsforderungen ein.
7Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
8Das Bundesverwaltungsgericht stellte nach Wiedergabe des Verfahrensganges fest, die U GmbH schulde aus den Beitragszeiträumen Oktober, November und Dezember 2010 Beiträge in der Höhe von € 495.297,83. Eine Einbringung bei der U GmbH sei nicht mehr möglich. In den genannten Beitragszeiträumen seien bei diesem Unternehmen „liquide Mittel“ vorhanden gewesen. Es seien vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Zahlungen „zu einem größeren Anteil an andere Gläubiger“ als an die WGKK erfolgt.
9Im Zuge seiner Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, aus den vom Revisionswerber vorgelegten Unterlagen aus der Buchhaltung der U GmbH folge, dass liquide Mittel vorhanden gewesen und von den offenen Verbindlichkeiten insgesamt 65,7 % bezahlt worden seien, während die Forderungen der WGKK nur zu 27 % bedient worden seien. Dem Revisionswerber sei daher ein Nachweis der Gleichbehandlung der Gläubiger nicht gelungen.
10In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, es bestehe nach § 58 Abs. 5 ASVG eine Pflicht zur Gleichbehandlung der Beitragsgläubiger mit anderen Gläubigern. Dafür sei es erforderlich, dass im Beurteilungszeitraum das Verhältnis aller erfolgten Zahlungen zu allen Verbindlichkeiten dem Verhältnis der in diesem Zeitraum erfolgten Beitragszahlungen zu den insgesamt fälligen Beitragsverbindlichkeiten entspreche. Diese Gleichbehandlung sei von einem haftungspflichtigen Geschäftsführer einer GmbH darzulegen. Ein solcher Nachweis sei vom Revisionswerber nicht erbracht worden. Er hafte daher für die Beitragsschulden zur Gänze. Auch eine Verjährung sei nicht eingetreten. Maßnahmen zur Unterbrechung der Verjährung, die gegen einen Zahlungspflichtigen selbst gesetzt würden, entfalteten in gleicher Weise Wirkung auch gegen Beitragsmithaftende. Die Feststellungsverjährung habe gegenüber dem Revisionswerber erst mit dem Feststehen der objektiven Uneinbringlichkeit der noch nicht verjährten Forderung gegenüber der U GmbH, somit mit Aufhebung des Konkurses am , zu laufen begonnen. Zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides durch die WGKK am sei die dreijährige Frist der Feststellungverjährung gegenüber dem Revisionswerber daher nicht abgelaufen gewesen.
11Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision. Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat die Österreichische Gesundheitskasse eine Revisionsbeantwortung erstattet und die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragt.
12Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13Zur Zulässigkeit der Revision wird zusammengefasst geltend gemacht, eine Haftung des Vertreters nach § 67 Abs. 10 ASVG trete jedenfalls nur in dem Umfang ein, in dem eine Pflichtverletzung kausal für den Entgang von Beiträgen zur Sozialversicherung geworden sei. Hinsichtlich des erhobenen Vorwurfs der ungleichen Behandlung der Gläubiger erstrecke sich die Haftung daher nur auf den Betrag, der bei anteilsmäßiger Befriedigung der Forderungen der Sozialversicherungsträger abzuführen gewesen wäre. Der Revisionswerber habe insoweit ein konkretes Vorbringen hinsichtlich der Bedienung der Forderungen aller Gläubiger und der Beitragsforderungen der WGKK erstattet. Darüber habe sich das Bundesverwaltungsgericht hinweggesetzt, indem es den Revisionswerber zur Haftung hinsichtlich der gesamten rückständigen Beiträge verpflichtet habe. Im Übrigen sei aber die gesamte Forderung auch verjährt. Eine Haftung für die Beiträge habe die WGKK erstmals mit Schreiben vom geltend gemacht. Zu diesem Zeitpunkt sei die Eröffnung des Konkursverfahrens der U GmbH bereits mehr als fünfeinhalb Jahre zurückgelegen. Der Sozialversicherungsträger habe es aber nicht in der Hand, die Verjährung beliebig hinauszuschieben, sondern sei gehalten, zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm die gänzliche oder teilweise Uneinbringlichkeit der Forderung bekannt werde, unverzüglich die Verjährung unterbrechende Schritte zu setzen bzw. die Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG geltend zu machen.
14Die Revision ist zulässig. Sie ist im Ergebnis auch berechtigt.
15Nach § 67 Abs. 10 ASVG haften die zur Vertretung juristischer Personen oder Personenhandelsgesellschaften (offene Gesellschaft, Kommanditgesellschaft) berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können.
16Die Haftung der Vertreter juristischer Personen - insbesondere der Geschäftsführer einer GmbH - nach § 67 Abs. 10 ASVG ist ihrem Wesen nach eine dem Schadenersatzrecht nachgebildete Verschuldenshaftung, die die Vertreter deshalb trifft, weil sie ihre gesetzliche Verpflichtung zur rechtzeitigen Entrichtung von Beiträgen schuldhaft (wobei leichte Fahrlässigkeit genügt) verletzt haben. Eine solche Pflichtverletzung kann darin liegen, dass der Geschäftsführer die fälligen Beiträge (ohne rechtliche Grundlage) insoweit schlechter behandelt als sonstige Gesellschaftsschulden, als er diese bedient, jene aber unberichtigt lässt, bzw. - im Falle des Fehlens ausreichender Mittel - nicht für eine zumindest anteilige Befriedigung auch der Forderungen der Gebietskrankenkasse Sorge trägt. Der Geschäftsführer wäre nur dann exkulpiert, wenn er entweder nachweist, im fraglichen Zeitraum, in dem die Beiträge fällig geworden sind, insgesamt über keine Mittel verfügt und daher keine Zahlungen geleistet zu haben, oder zwar über Mittel verfügt zu haben, aber wegen der gebotenen Gleichbehandlung mit anderen Gläubigern die Beitragsschuldigkeiten - ebenso wie die Forderungen aller anderen Gläubiger - nicht oder nur zum Teil beglichen zu haben, die Beitragsschuldigkeiten also nicht in Benachteiligung des Versicherungsträgers in einem geringeren Ausmaß beglichen zu haben als die Forderungen anderer Gläubiger (vgl. etwa , mwN).
17Einen Vertreter nach § 67 Abs. 10 ASVG trifft dabei nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die besondere Verpflichtung darzutun, aus welchen Gründen ihm die Erfüllung seiner Verpflichtungen unmöglich war, widrigenfalls eine schuldhafte Pflichtverletzung angenommen werden kann. Wenn der Vertreter dabei nicht bloß ganz allgemeine, sondern einigermaßen konkrete sachbezogene Behauptungen aufstellt, ist er zur weiteren Präzisierung und Konkretisierung des Vorbringens aufzufordern; kommt er dieser Aufforderung nicht nach, so bleibt die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht zur Annahme berechtigt, dass er seiner Pflicht schuldhaft nicht entsprochen hat. Dabei muss der Vertreter nicht nur allgemein dartun, dass er dem Benachteiligungsverbot Rechnung getragen hat, sondern insbesondere die im Beurteilungszeitraum fälligen unberichtigten Beitragsschulden und die fälligen offenen Gesamtverbindlichkeiten sowie die darauf jeweils geleisteten Zahlungen darlegen (vgl. etwa , mwN).
18Im vorliegenden Fall hat der Revisionswerber in diesem Sinn ein Vorbringen zu den Verbindlichkeiten der U GmbH - inklusive der Beitragsschulden - und der darauf geleisteten Zahlungen erstattet. Das Bundesverwaltungsgericht hat - wie aus seinen Ausführungen in der Beweiswürdigung ersichtlich - diese Angaben offensichtlich als zutreffend erachtet und seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Es trifft zu, dass danach die fälligen Beitragsschulden im dargestellten Sinn schlechter behandelt wurden als sonstige Gesellschaftsschulden.
19Entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts führt dies jedoch nicht- bzw. jedenfalls nicht zwingend - dazu, dass der Revisionswerber für sämtliche offenen Beiträge zur Gänze haftet. Vielmehr ist der Umfang der Haftung nach den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dargestellten Grundsätzen zu ermitteln. Danach ist in einem ersten Schritt der Beurteilungszeitraum festzustellen, der mit der Fälligkeit der ältesten am Ende jenes Zeitraums noch offenen Beitragsverbindlichkeit beginnt und der mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens - soweit nicht zuvor eine frühere allgemeine Zahlungseinstellung oder Beendigung der Vertreterstellung erfolgt - endet. In einem zweiten Schritt sind einerseits das Verhältnis aller im Beurteilungszeitraum erfolgten Zahlungen zu allen fälligen Verbindlichkeiten einschließlich der Beitragsschulden (allgemeine Zahlungsquote) sowie andererseits das Verhältnis der im selben Zeitraum erfolgten Zahlungen auf die Beitragsverbindlichkeiten zu den insgesamt fälligen Beitragsschulden (Beitragszahlungsquote) zu ermitteln. Das Produkt aus der Differenz der beiden Quoten und den insgesamt fälligen Beitragsschulden ergibt letztlich den Haftungsbetrag (vgl. ; sowie zum BUAG näher ).
20Schon aus diesem Grund hat das Bundesverwaltungsgericht - wie von der Revision zutreffend dargelegt wird - das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet. Auch dem weiteren Zulässigkeitsvorbringen kommt im Ergebnis insoweit Berechtigung zu, als der festgestellte Sachverhalt nicht ausreicht, um die Frage der Verjährung der Beitragsschulden zu beurteilen.
21In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass eine Haftung eines Vertreters nach § 67 Abs. 10 ASVG dann zu verneinen ist, wenn dieser zwar die Beiträge schuldhaft nicht entrichtet hat, die Beitragsschuld beim Hauptschuldner aber etwa nicht uneinbringlich geworden, sondern verjährt ist. In einem solchen Fall ist der Kausalzusammenhang zwischen dem Verschulden am Unterbleiben der Beitragsentrichtung und einer nachfolgenden Uneinbringlichkeit, etwa aufgrund eines späteren Insolvenzverfahrens, nicht mehr gegeben (vgl. ; , 2008/08/0223).
22Gemäß § 68 Abs. 1 ASVG verjährt das Recht auf Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen bei Beitragsschuldnern und Beitragsmithaftenden binnen drei Jahren vom Tag der Fälligkeit der Beiträge.
23Nach § 68 Abs. 1 vierter Satz ASVG wird die Verjährung durch jede zum Zweck der Feststellung einer Beitragsschuld getroffene Maßnahme - so etwa auch durch eine beim Beitragsschuldner vorgenommene Beitragsprüfung - unterbrochen, sobald der Zahlungspflichtige hiervon in Kenntnis gesetzt wird (vgl. etwa , mwN). Eine solche Maßnahme ist insbesondere auch die Anmeldung der Forderung im Insolvenzverfahren. Durch diese wird nach § 9 Abs. 1 IO bewirkt, dass die Verjährung erst mit Rechtskraft des Beschlusses über die Aufhebung des Konkurses von neuem zu laufen beginnt. Im Sinn von § 68 Abs. 1 ASVG wirken Maßnahmen zur Verjährungsunterbrechung gegen den Zahlungspflichtigen in gleicher Weise gegen den Beitragsmithaftenden, somit insbesondere auch gegen den nach § 67 Abs. 10 ASVG haftenden Vertreter einer juristischen Person. Sollte die WGKK die Beitragsforderungen daher rechtzeitig als Forderungen im am eröffneten Konkursverfahren über das Vermögen der U GmbH angemeldet haben, konnte die Verjährung gegenüber dem Revisionswerber daher grundsätzlich nicht vor Aufhebung des Konkurses zu laufen beginnen (vgl. ; vgl. näher nochmals ).
24Ob die WGKK im Konkursverfahren der U GmbH eine Anmeldung der nunmehr gegenständlichen Beitragsforderung vorgenommen hat bzw. sonst rechtzeitig Maßnahmen zur Unterbrechung der Verjährung im Sinn des § 68 Abs. 1 vierter Satz ASVG gegenüber der U GmbH gesetzt hat, wurde aber nicht festgestellt und ist auch nicht aus dem Akteninhalt zweifelsfrei ersichtlich. Solche Feststellungen wären aber erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob die Beitragsforderungen bereits verjährt sind. Das an den Revisionswerber gerichtete Schreiben der WGKK vom ist allein nämlich nicht ausreichend, um eine Verjährung der gegenständlichen Beitragsforderungen für die Monate Oktober, November und Dezember 2010 (vgl. zu deren Fälligkeit § 58 ASVG) bzw. der Haftung des Revisionswerbers nach § 67 Abs. 10 ASVG auszuschließen.
25Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
26Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG abgesehen werden.
27Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021080038.L00 |
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