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VwGH 11.05.2023, Ra 2022/22/0149

VwGH 11.05.2023, Ra 2022/22/0149

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssatz


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Normen
RS 1
Bei § 55 Abs. 3 NAG 2005 handelt es sich um eine verfahrensrechtliche Bestimmung, die gemäß § 17 VwGVG 2014 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sinngemäß zur Anwendung gelangt. Sie ist daher ungeachtet dessen, dass in § 55 Abs. 3 NAG 2005 lediglich von der "Behörde" die Rede ist, auch vom VwG anzuwenden (vgl. ; ). Aufgrund der Vorgaben des § 55 Abs. 3 NAG 2005 war folglich dem VwG in einer Konstellation in der die Fremde die neuerliche Ausstellung einer Aufenthaltskarte auf ein von ihren Kindern abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Österreich stützte, eine Abweisung eines Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 54 legcit. versagt (vgl. ; Gesetzesmaterialien zu § 55 Abs. 3 NAG 2005 idF des FrÄG 2015 [RV 582 BlgNR 25. GP 30 und zum FrÄG 2017 IA 2285/A 25. GP 41]). Wenn das VwG die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vorliegend als nicht gegeben erachtete, wären diese Voraussetzungen - ein Fall des § 54 Abs. 7 legcit. liegt hier nicht vor - vom gemäß § 55 Abs. 3 NAG 2005 hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung zu befassenden BFA als Vorfrage im Rahmen des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung zu prüfen gewesen (vgl. ). Dies gilt grundsätzlich auch für den Fall, dass das BFA bereits zuvor aus einem anderen (nicht im Zusammenhang mit dem vorliegenden Antrag der Fremde stehenden) Grund nach § 55 Abs. 3 legcit. befasst worden sein sollte. Richtigerweise hätte das VwG daher, auch wenn seiner Auffassung nach die Voraussetzungen für die neuerliche Ausstellung einer Aufenthaltskarte nicht gegeben waren, den gegenständlichen Antrag der Fremden nicht abweisen dürfen. Vielmehr wären nach Einräumen von Parteiengehör die in § 55 Abs. 3 NAG 2005 vorgesehenen Verfahrensschritte zu setzen gewesen. Eine Berücksichtigung des von der Fremden auch geltend gemachten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSv. Art. 8 MRK wäre jedenfalls auch im Rahmen des anschließend vor dem BFA zu führenden Verfahrens gewährleistet gewesen.

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der E E, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 27/28, gegen das am  mündlich verkündete und am schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW-151/023/3863/2022-13, betreffend Aufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem am  mündlich verkündeten und am schriftlich ausgefertigten angefochtenen Erkenntnis wies das mit Säumnisbeschwerde angerufene Verwaltungsgericht Wien den Antrag der Revisionswerberin, einer nigerianischen Staatsangehörigen, vom (gemeint vom , eingelangt am ) auf „Verlängerung“ einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

2 Das Verwaltungsgericht stellte fest, die Revisionswerberin sei im Jahr 2005 nach Österreich eingereist und habe einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der rechtskräftig „mit “ in zweiter Instanz abgewiesen worden sei. Ein am eingebrachter Folgeantrag sei rechtskräftig „mit “ gemäß § 68 AVG zurückgewiesen und gleichzeitig die Ausweisung der Revisionswerberin aus dem Bundesgebiet verfügt worden.

Am habe die Revisionswerberin JS, einen spanischen Staatsangehörigen, in Spanien geheiratet. Der Ehemann sei von Mai 2014 bis Jänner 2015 in Österreich geringfügig beschäftigt gewesen. Das Ehepaar habe nach Angaben der Revisionswerberin sieben Monate gemeinsam in Österreich gelebt. Seit Jänner 2015 lebe JS nicht mehr in Österreich. Im Hinblick auf diese Ehe sei der Revisionswerberin aufgrund ihres Antrags vom  eine Aufenthaltskarte ausgestellt worden, die eine Gültigkeit bis aufgewiesen habe.

Die Revisionswerberin sei Mutter dreier Kinder (geb. 2017, 2018 und 2022), wobei der am geborene Sohn über einen spanischen Reisepass verfüge, weil JS, der nicht der leibliche Vater dieses Kindes sei, ein Scheinanerkenntnis für dieses Kind sowie für die am geborene Tochter der Revisionswerberin abgegeben habe. Die Obsorge für die beiden 2017 und 2018 geborenen Kinder übe nicht die Revisionswerberin, sondern der Jugendwohlfahrtsträger aus. Die beiden Kinder seien fremduntergebracht und lebten nicht mit der Revisionswerberin im gemeinsamen Haushalt.

Seit sei die Revisionswerberin als geringfügig Beschäftigte unselbständig erwerbstätig. Ihre Kinder seien mittellos und gewährten der Revisionswerberin keinen Unterhalt.

3 In seiner rechtlichen Beurteilung legte das Verwaltungsgericht eingangs dar, dass im Hinblick auf die zulässige und berechtigte Säumnisbeschwerde der Revisionswerberin die Zuständigkeit zur Entscheidung über den verfahrensgegenständlichen Antrag auf das Verwaltungsgericht übergegangen sei.

Betreffend § 54 NAG hielt das Verwaltungsgericht fest, der Ehegatte der Revisionswerberin habe das Bundesgebiet schon im Jahr 2015 verlassen. Die Voraussetzungen des § 54 Abs. 3 bis 5 NAG für das Aufrechtbleiben des Aufenthaltsrechts der Revisionswerberin trotz des Wegzugs ihres Ehemannes lägen gegenständlich nicht vor. Selbst wenn die beiden älteren Kinder die spanische Staatsangehörigkeit besäßen und als Unionsbürger zu betrachten wären, seien diese in Österreich, da sie selbst mittellos seien und zudem JS bereits vor ihrer Geburt das Bundesgebiet verlassen habe, nie gemäß § 51 oder § 52 NAG unionsrechtlich aufenthaltsberechtigt gewesen, sodass ein solches Aufenthaltsrecht auch nicht gemäß § 54 Abs. 4 NAG aufrecht habe bleiben können. Vor diesem Hintergrund bestehe auch kein abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht der Revisionswerberin nach § 52 Abs. 1 Z 3 NAG, zumal sie als Verwandte in direkter aufsteigender Linie von ihrem Sohn bzw. ihren Kindern keinen Unterhalt beziehe und sie die Obsorge für die beiden älteren Kinder zudem nicht im Sinn des § 54 Abs. 4 NAG selbst ausübe.

4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung vorgebracht wird, das Verwaltungsgericht habe die im Urteil EuGH (GK) , Chavez-Vilchez, C-133/15, getroffenen Aussagen nicht berücksichtigt. In der vorliegenden Konstellation stünden Art. 20 AEUV bzw. Art. 21 AEUV der Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für die Revisionswerberin entgegen. Es sei nämlich zu befürchten, dass ihren minderjährigen Kindern, die spanische Staatsangehörige seien, der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte verwehrt werde, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleihe, wenn ihrer Mutter kein Aufenthaltsrecht in Österreich gewährt werde.

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:

6 Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG aus nachstehenden Erwägungen als zulässig; sie ist auch berechtigt.

7 Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG lauten:

„4. Hauptstück

Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht

Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate

§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder

3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.

...

Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern

§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. Ehegatte oder eingetragener Partner sind;

2. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und darüber hinaus sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

3. Verwandter des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

...

Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers

§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.

(2) Zum Nachweis des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sind ein gültiger Personalausweis oder Reisepass, die Anmeldebescheinigung oder die Bescheinigung des Daueraufenthalts des zusammenführenden EWR-Bürgers sowie folgende Nachweise vorzulegen:

1. nach § 52 Abs. 1 Z 1: ein urkundlicher Nachweis des Bestehens der Ehe oder eingetragenen Partnerschaft;

2. nach § 52 Abs. 1 Z 2 und 3: ein urkundlicher Nachweis über das Bestehen einer familiären Beziehung sowie bei Kindern über 21 Jahren und Verwandten des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie ein Nachweis über die tatsächliche Unterhaltsgewährung.

(3) Das Aufenthaltsrecht der Angehörigen gemäß Abs. 1 bleibt trotz Tod des EWR-Bürgers erhalten, wenn sie sich vor dem Tod des EWR-Bürgers mindestens ein Jahr als seine Angehörigen im Bundesgebiet aufgehalten haben und nachweisen, dass sie die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 bis 2 erfüllen.

(4) Das Aufenthaltsrecht von minderjährigen Kindern eines unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt auch nach dem Tod oder nicht bloß vorübergehenden Wegzug des EWR-Bürgers bis zum Abschluss der Schulausbildung an einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule erhalten. Dies gilt auch für den Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, sofern dieser die Obsorge für die minderjährigen Kinder tatsächlich wahrnimmt.

(5) Das Aufenthaltsrecht der Ehegatten oder eingetragenen Partner, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Auflösung der eingetragenen Partnerschaft erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie die für EWR-Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 erfüllen und

1. die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet;

2. die eingetragene Partnerschaft bis zur Einleitung des gerichtlichen Auflösungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet;

3. ihnen die alleinige Obsorge für die Kinder des EWR-Bürgers übertragen wird;

4. es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, insbesondere weil dem Ehegatten oder eingetragenem Partner wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Interessen ein Festhalten an der Ehe oder eingetragenen Partnerschaft nicht zugemutet werden kann, oder

5. ihnen das Recht auf persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen wird, sofern das Pflegschaftsgericht zur Auffassung gelangt ist, dass der Umgang - solange er für nötig erachtet wird - ausschließlich im Bundesgebiet erfolgen darf.

(6) Der Angehörige hat diese Umstände, wie insbesondere den Tod oder Wegzug des zusammenführenden EWR-Bürgers, die Scheidung der Ehe oder die Auflösung der eingetragenen Partnerschaft, der Behörde unverzüglich, bekannt zu geben.

(7) Liegt eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30), eine Zwangsehe oder Zwangspartnerschaft (§ 30a) oder eine Vortäuschung eines Abstammungsverhältnisses oder einer familiären Beziehung zu einem unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger vor, ist ein Antrag gemäß Abs. 1 zurückzuweisen und die Zurückweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fällt.

...

Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate

§ 55. (1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs. 3 und 54 Abs. 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.

(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.

(4) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung (§ 9 BFA-VG), hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dies der Behörde mitzuteilen. Sofern der Betroffene nicht bereits über eine gültige Dokumentation verfügt, hat die Behörde in diesem Fall die Dokumentation des Aufenthaltsrechts unverzüglich vorzunehmen oder dem Betroffenen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies nach diesem Bundesgesetz vorgesehen ist.

(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ quotenfrei zu erteilen.

(6) Erwächst eine Aufenthaltsbeendigung in Rechtskraft, ist ein nach diesem Bundesgesetz anhängiges Verfahren einzustellen. Das Verfahren ist im Fall der Aufhebung einer Aufenthaltsbeendigung fortzusetzen, wenn nicht neuerlich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gesetzt wird.“

8 Ungeachtet der Frage, ob der Revisionswerberin entsprechend ihrem Vorbringen ein (von ihren Kindern abgeleitetes) auf Art. 20 oder Art. 21 AEUV gestütztes primärrechtliches Aufenthaltsrecht in Österreich tatsächlich zukommt, trifft vorliegend bereits der in der Revision erhobene Vorwurf zu, diese Frage sei im gegenständlichen Verfahren nicht in der rechtlich gebotenen Weise geprüft worden. Dies führt die Revision auch zum Erfolg:

9 Der Revisionswerberin war zuletzt im Hinblick auf ein von ihrem spanischen Ehemann abgeleitetes Aufenthaltsrecht eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 iVm. § 52 Abs. 1 Z 1 NAG ausgestellt worden. Die Dokumentation ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts wies eine Gültigkeit bis auf. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts verließ aber der Ehemann der Revisionswerberin das österreichische Bundesgebiet im Jänner 2015. Dass - wie im angefochtenen Erkenntnis ausgeführt - die Voraussetzungen des § 54 Abs. 3 bis 5 NAG für einen Fortbestand des Aufenthaltsrechts der Revisionswerberin nach dem Wegzug ihres Ehemanns fallbezogen nicht erfüllt waren, stellt die Revision nicht in Abrede, wobei die Fälle des Abs. 3 und 5 fallbezogen von vornherein nicht in Betracht kamen. In der gegenständlichen Konstellation war folglich schon aus diesem Grund von einer wesentlichen Sachverhaltsänderung auszugehen, sodass die Wirkungen der der Revisionswerberin wegen der Ehe mit einem spanischen Staatsangehörigen ausgestellten Dokumentation einer Vorgangsweise gemäß § 55 Abs. 3 NAG nicht entgegenstanden (vgl. dazu , Rn. 12, sowie auf diese Entscheidung Bezug nehmend , Rn. 12, und , Rn. 21).

10 Den gegenständlichen (am bei der belangten Behörde eingelangten) Antrag auf neuerliche Ausstellung einer Aufenthaltskarte stützte die Revisionswerberin auch nicht mehr auf ihre Eigenschaft als Ehegattin eines unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers (§ 54 Abs. 1 iVm. § 52 Abs. 1 Z 1 NAG), sondern auf ein von ihren Kindern abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Österreich. Das Bestehen eines solchen Aufenthaltsrechts wurde im angefochtenen Erkenntnis verneint und der verfahrenseinleitende Antrag der Revisionswerberin wurde aus diesem Grund abgewiesen. Dabei hat das Verwaltungsgericht jedoch § 55 Abs. 3 NAG verkannt.

11 Gemäß § 55 Abs. 3 NAG hat die Behörde, wenn das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 leg. cit. nicht besteht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 leg. cit. nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das BFA ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7 NAG. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.

12 Bei § 55 Abs. 3 NAG handelt es sich um eine verfahrensrechtliche Bestimmung, die gemäß § 17 VwGVG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sinngemäß zur Anwendung gelangt. Sie ist daher ungeachtet dessen, dass in § 55 Abs. 3 NAG lediglich von der „Behörde“ die Rede ist, auch vom Verwaltungsgericht anzuwenden (zu den insoweit vergleichbaren Bestimmungen des § 25 Abs. 1 NAG sowie des § 37 Abs. 4 NAG siehe , Pkt. 4.7., und , Rn. 13 und 17).

13 Aufgrund der Vorgaben des § 55 Abs. 3 NAG war folglich dem Verwaltungsgericht in einer Konstellation wie der vorliegenden eine Abweisung eines Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 54 NAG versagt (vgl. auch , Rn. 5, mwN; siehe zudem die Gesetzesmaterialien zu § 55 Abs. 3 NAG idF des FrÄG 2015 [RV 582 BlgNR 25. GP 30 und zum FrÄG 2017 IA 2285/A 25. GP 41]).

14 Wenn das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vorliegend als nicht gegeben erachtete, wären diese Voraussetzungen - ein Fall des § 54 Abs. 7 NAG liegt hier nicht vor - vom gemäß § 55 Abs. 3 NAG hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung zu befassenden BFA als Vorfrage im Rahmen des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung zu prüfen gewesen (vgl. auch , Rn. 15).

15 Dies gilt grundsätzlich auch für den Fall, dass das BFA - worauf die Ausführungen der belangten Behörde in einem Schreiben vom hindeuten - bereits zuvor aus einem anderen (nicht im Zusammenhang mit dem vorliegenden Antrag der Revisionswerberin stehenden) Grund nach § 55 Abs. 3 NAG befasst worden sein sollte, wobei anzumerken ist, dass bezogen auf den Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ein Abschluss bzw. konkreter Ausgang eines solchen betreffend die Revisionswerberin eingeleiteten Verfahrens weder dem angefochtenen Erkenntnis noch den dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten zu entnehmen ist.

16 Richtigerweise hätte das Verwaltungsgericht daher, auch wenn seiner Auffassung nach die Voraussetzungen für die neuerliche Ausstellung einer Aufenthaltskarte nicht gegeben waren, den gegenständlichen Antrag der Revisionswerberin nicht abweisen dürfen. Vielmehr wären nach Einräumen von Parteiengehör die in § 55 Abs. 3 NAG vorgesehenen Verfahrensschritte zu setzen gewesen. Eine Berücksichtigung des von der Revisionswerberin auch geltend gemachten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinn von Art. 8 EMRK wäre jedenfalls auch im Rahmen des anschließend vor dem BFA zu führenden Verfahrens gewährleistet gewesen.

17 Infolgedessen erweist sich das angefochtene Erkenntnis schon deshalb jedenfalls als rechtswidrig.

18 Da das Verwaltungsgericht aus den dargelegten Erwägungen die Rechtslage verkannte, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19 Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 und 6 VwGG unterbleiben.

20 Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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Normen
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022220149.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
OAAAF-95626