VfGH 03.07.1965, G24/64
Rechtssätze
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Normen | Bundes-Verfassungsgesetz Art144, B-VG Art144 Europäische Menschenrechtskonvention Art5, EMRK Art5 Finanzstrafgesetz §10, FinStrG §10 Finanzstrafgesetz §13, FinStrG §13 Finanzstrafgesetz §20, FinStrG §20 Abs1 Finanzstrafgesetz §53, FinStrG §53 Abs9 Finanzstrafgesetz §169, FinStrG §169 Verwaltungsstrafgesetz 1991 §16, VStG 1950 §16 |
Rechtssatz | § 20 Abs. 1 und § 53 Abs. 9, 10 und 13 des Bundesgesetzes vom , betreffend das Finanzstrafrecht und das Finanzstrafverfahrensrecht (Finanzstrafgesetz - FinStrG) , BGBl. Nr. 129, werden nicht als verfassungswidrig aufgehoben. Das amtswegige Prüfungsverfahren hinsichtlich der §§ 56 bis 194 FinStrG wird eingestellt. § 20 Abs. 1 FinStrG ist jedenfalls hinsichtlich der Ersatzfreiheitsstrafen für Geldstrafen durch den Vorbehalt zu {Europäische Menschenrechtskonvention Art 5, Art. 5 MRK} gedeckt. § 20 Abs. 1 und § 53 Abs. 9, 10 und 13 FinStrG widersprechen nicht der MRK und sind jedenfalls in dieser Hinsicht nicht verfassungswidrig. Mit Rücksicht darauf, daß der Vorbehalt zu Art. 5 ausschließlich in deutscher Sprache abgegeben wurde, ist für die Auslegung nur der deutsche Originaltext, nicht aber eine mehr oder weniger treffende Übersetzung maßgebend. Der VfGH hat in seinem Erk. Slg. 4049/1961 ausgesprochen, daß die im FinStrG vorgesehenen Maßnahmen nicht zu jenen gehören, die durch den Vorbehalt gedeckt sind. In dieser Allgemeinheit ist dieser Satz nicht aufrecht zu erhalten. Der Vorbehalt kann vielmehr seinem Wortlaute nach nur dahin ausgelegt werden, daß sich Österreich eben jene in den Verwaltungsverfahrensgesetzen 1950 vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges durch eine Verwaltungsbehörde vorbehalten hat. Es sollte damit das System des Verwaltungsstrafrechts in seiner herkömmlichen Form im wesentlichen erhalten werden. Der Vorbehalt geht keineswegs dahin, daß das Verwaltungsstrafgesetz ausgenommen wurde, sondern ausgenommen wurden die dort vorgesehenen Maßnahmen, gleichgültig in welchem Gesetz im einzelnen nun diese vorgesehenen Maßnahmen enthalten sind. Dies gilt nicht nur für die in materiellen Rechtsvorschriften vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges, sondern auch für die in anderen Verfahrensgesetzen vorgesehenen Maßnahmen, mindestens soweit sie mit den in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehenen übereinstimmen. Daraus folgt, daß auch die im FinStrG vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges, mindestens soweit sie mit den in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehenen übereinstimmen, durch den Vorbehalt gedeckt sind. Ersatzstrafen bei Geldstrafen sind im § 16 VStG 1950 vorgesehen. § 20 Abs. 1 FinStrG ist somit jedenfalls hinsichtlich der Ersatzfreiheitsstrafen für Geldstrafen durch den Vorbehalt gedeckt. Der in Rede stehende Vorbehalt zu {Europäische Menschenrechtskonvention Art 5, Art. 5 MRK} ist kein gemäß Art. 64 unzulässiger allgemeiner Vorbehalt; wenn nämlich die Konvention mit einem ganzen System gesetzlicher Regelungen zusammentrifft, das mit der betreffenden Vorschrift nicht übereinstimmt und mit dem Vorbehalt dieses ganze System ausgenommen wird, also wie hier die gesamten Maßnahmen des Freiheitsentzuges, wie sie in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehen sind, bleibt es immer ein Vorbehalt zu einer bestimmten Vorschrift der Konvention, die mit den in Österreich geltenden Gesetzen nicht übereinstimmt. Ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe durch eine Verwaltungsbehörde auf Grund des Vorbehaltes zu Art. 5 MRK möglich, so ist auch das Verfahren, das zu einer solchen Verurteilung führt, durch den Vorbehalt gedeckt. Daraus folgt aber, daß auch § 53 Abs. 9, 10 und 13 FinStrG, durch die die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden begründet wird, durch den österreichischen Vorbehalt gedeckt sind, daß somit die im FinStrG vorgesehenen Verwaltungsbehörden und deren Befugnis, Freiheitsstrafen zu verhängen, mindestens soweit sich die Maßnahmen mit den in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehenen Maßnahmen decken, vom Vorbehalt zu {Europäische Menschenrechtskonvention Art 5, Art. 5 MRK} erfaßt sind. Die Bedingung des Vorbehaltes, daß die Entscheidungen, mit denen Maßnahmen des Freiheitsentzuges im Sinne der Verwaltungsverfahrensgesetze getroffen werden, der nachprüfenden Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes unterworfen sind, trifft nicht nur für die Entscheidungen der Finanzlandesdirektionen als Finanzstrafbehörden 2. Instanz, sondern auch für die Rechtsmittelentscheidungen der Berufungssenate als den Organen der Finanzstrafbehörden 2. Instanz. Der VfGH kann gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 B-VG} ausnahmslos gegen alle Bescheide einer Verwaltungsbehörde angerufen werden, also auch gegen die Rechtsmittelentscheidungen der Finanzstrafbehörden in 2. Instanz. Und die Anrufung des VwGH ist im § 169 FinStrG auch gegen Entscheidungen der Berufungssenate ausdrücklich vorgesehen. Es sind deshalb alle Bedingungen erfüllt. § 20 Abs. 1 und § 53 Abs. 9, 10 und 13 FinStrG widersprechen nicht der MRK und sind jedenfalls in dieser Hinsicht nicht verfassungswidrig. |
Normen | Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz §56, AVG 1950 §56 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz §68, AVG 1950 §68 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz §68, AVG 1950 §68 Abs6 Bundes-Verfassungsgesetz Art144, B-VG Art144 Bundesabgabenordnung §299, BAO §299 Bundesabgabenordnung §299, BAO §299 Abs1 Bundesabgabenordnung §299, BAO §299 Abs2 Bundesabgabenordnung §302, BAO §302 |
Rechtssatz | Dem Antrag auf Aufhebung des § 299 Abs. 1 und 2 der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961, wird keine Folge gegeben. Der VfGH hält an seiner im Erk. Slg. 4273/1962 ausgeführten Auffassung fest, daß es Grundprinzipien der Verfassung nicht widerspricht, wenn durch aufsichtsrechtliche Verfügungen formellrechtliche und materiellrechtliche Entscheidungen aufgehoben werden, weil die Bundesverfassung weder ausdrückliche Rechtssätze über den Umfang der Rechtskraft von Bescheiden enthält, noch aus ihr Rechtssätze solchen Inhaltes abgeleitet werden können. Die Befugnis nach {Bundesabgabenordnung § 299, § 299 Abs. 2 BAO}, daß ein Bescheid wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben werden kann, wird durch {Bundesabgabenordnung § 302, § 302 BAO} wesentlich beschränkt, weil die Befugnis der Aufsichtsbehörde auf ein Jahr nach Rechtskraft des Bescheides eingeschränkt ist. Nach diesem Zeitpunkt kann ein Bescheid weder wegen schwerer noch wegen leichter Rechtswidrigkeiten aufgehoben werden. Innerhalb des einen Jahres stellt der Gesetzgeber die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die materielle Richtigkeit der Entscheidung über die Rechtssicherheit. Nach Ablauf dieses Zeitraumes überwiegt hingegen die Rechtssicherheit. Dadurch, daß die auf Grund des aufhebenden Bescheides neu erlassenen Bescheide nach Erschöpfung des Instanzenzuges der nachprüfenden Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes unterliegen, ist auch möglichst Gewähr dafür geboten, daß diese Befugnisse tatsächlich nur zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes benützt werden. Wie sich aus dem Wort "kann" im § 299 BAO ergibt, ist der Oberbehörde bei Wahrnehmung des Aufsichtsrechtes tatsächlich ein gewisses Ermessen eingeräumt worden, das sie i. S. einer ordnungsgemäßen Führung der Verwaltung auszuüben hat. Sie wird also in jedem Einzelfall abzuwägen haben, ob der Fall sich zu einer Maßnahme nach {Bundesabgabenordnung § 299, § 299 BAO} eignet, ob ein Fall vorliegt, in welchem die Rechtmäßigkeit des Bescheides vor der Rechtssicherheit zu stehen hat. Die Parteien haben zwar keinen Anspruch auf eine Maßnahme der Dienstaufsicht. Die Aufsichtsbehörde ist auch keine Rechtsmittelinstanz, es ist deshalb nicht ihre Aufgabe, sich alle Entscheidungen der Unterbehörde vorlegen zu lassen und sie auf ihre Gesetzmäßigkeit zu überprüfen. Allein nimmt sie - sei es auf Anregung der Parteien, sei es von Amts wegen im Zuge der dienstaufsichtsbehördlichen Prüfung der Amtsführung - eine relevante Gesetzwidrigkeit des Bescheides wahr, so hat sie nach § 299 BAO gleichgültig, ob zum Vorteil oder zum Nachteil des Abgabenpflichtigen, mit der Aufhebung des bereits rechtskräftigen Bescheides vorzugehen. Nur dann, wenn die Behörde bei der Prüfung zu dem Schluß kommt, es liege nur eine geringfügige Rechtswidrigkeit vor, oder die wahrgenommene Rechtswidrigkeit habe keine wesentlichen Folgen nach sich gezogen, wird sie in Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens von einer Maßnahme nach {Bundesabgabenordnung § 299, § 299 BAO} absehen können. Nach Ansicht des VfGH ist somit Sinn und Grenze des eingeräumten Ermessens hinreichend klar. Der Forderung nach Rechtssicherheit ist dadurch Genüge getan, daß nach einem Jahr auch bei schwersten Fällen der Rechtswidrigkeit eine Aufhebung nicht möglich ist, und auch dadurch, daß Bescheide der Berufungssenate wegen Rechtswidrigkeit nur zur Klaglosstellung einer Partei, nicht aber zu einem anderen Zweck aufgehoben werden können. Die Regelung widerspricht nicht dem Gleichheitsgebot. Es ist nicht unsachlich, der Behörde auch dann noch eine Maßnahme im Aufsichtsweg einzuräumen, wenn der Bescheid bereits vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes angefochten worden ist. Dem Gesetzgeber ist es durch das Gleichheitsgebot verwehrt, Differenzierungen zu schaffen, die nicht aus entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen ableitbar sind, also nicht sachlich begründbar sind. Der Bescheidbegriff des Art. 144 B-VG ist mit dem Bescheidbegriff des § 56 AVG 1950 nicht ident. Unter einem Bescheid i. S. des Art. 144 B-VG versteht man jede Erledigung einer Verwaltungsbehörde, womit ein individuelles Rechtsverhältnis gestaltet oder festgestellt wird, ob sie nun in Form eines Bescheides nach § 56 AVG 1950 ergeht oder nicht. Der Bescheidbegriff des § 56 AVG 1950 ist trotz des gleichen Wortlautes enger als der Bescheidbegriff des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 B-VG}. Aus § 68 AVG 1950 ergibt sich keineswegs eine abschließende Regelung der materiellen Rechtskraft, denn § 68 Abs. 6 AVG 1950 läßt eine Durchbrechung der Rechtskraft aus weiteren, in den Verwaltungsvorschriften liegenden Gründen zu. |
Entscheidungstext
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Metadaten: DVD Recht compact, Verlag Österreich, Wien 2014 - Judikaturquelle (PDF): Sammlung der Erkenntnisse [und wichtigsten Beschlüsse] des Verfassungsgerichtshofes NF 1–32 (1920–1932/33, 1945/46–1967) / Erkenntnisse und Beschlusse des Verfassungsgerichtshofes NF 33–44 (1968–1979)
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Metadaten: DVD Recht compact, Verlag Österreich, Wien 2014 - Judikaturquelle (PDF): Sammlung der Erkenntnisse [und wichtigsten Beschlüsse] des Verfassungsgerichtshofes NF 1–32 (1920–1932/33, 1945/46–1967) / Erkenntnisse und Beschlusse des Verfassungsgerichtshofes NF 33–44 (1968–1979)
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Normen | Bundes-Verfassungsgesetz Art144, B-VG Art144 Europäische Menschenrechtskonvention Art5, EMRK Art5 Finanzstrafgesetz §10, FinStrG §10 Finanzstrafgesetz §13, FinStrG §13 Finanzstrafgesetz §20, FinStrG §20 Abs1 Finanzstrafgesetz §53, FinStrG §53 Abs9 Finanzstrafgesetz §169, FinStrG §169 Verwaltungsstrafgesetz 1991 §16, VStG 1950 §16 |
Sammlungsnummer | 5021 |
Schlagworte | Finanzen Strafsachen Menschenrechtskonvention Verfassungsgerichtshof Art. 140 B-VG Sachentscheidung |
ECLI | ECLI:AT:VFGH:1965:G24.1965 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
IAAAF-84936