Die Behörde hat selbst zu prüfen, ob sich ein Drittstaatsangehöriger ohne formalen Aufenthaltstitel rechtmäßig in Österreich aufhält
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Wien 3/6/7/11/15 Schwechat Gerasdorf vom betreffend Familienbeihilfe 06.2015 Steuernummer ***BF1StNr1*** zu Recht erkannt:
I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
Die Beschwerdeführerin (Bf), eine nigerianische Staatsangehörige, stellte am einen Antrag auf Gewährung von Familienbeihilfe für ihren am ***TT.MM.JJJJ*** geborenen Sohn ab dessen Geburt, sohin ab Juni 2015. Diesen Antrag wies die belangte Behörde (bB) mit Bescheid vom ab; sie begründete die Abweisung unter anderem damit, dass die Bf keinen Nachweis über ihren rechtmäßigen Aufenthalt und denjenigen ihres Sohns in Österreich vorgelegt habe. Dagegen erhob die Bf am Bescheidbeschwerde.
Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies die bB die Bescheidbeschwerde hinsichtlich des Zeitraums Juni 2015 bis Dezember 2017 ab. Die bB begründete die Abweisung damit, dass der Sohn der Bf erst ab und die Bf erst ab (bis ) über einen Aufenthaltstitel verfügen. Demgegenüber gab die bB der Bescheidbeschwerde hinsichtlich des Zeitraums Jänner 2018 bis Jänner 2019 statt. Die Bf stellte einen Vorlageantrag.
Das Bundesfinanzgericht (BFG) wies die Bescheidbeschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Gewährung von Familienbeihilfe für den Zeitraum Juni 2015 bis Dezember 2017 als unbegründet ab. Das Gericht begründete die Abweisung der Bescheidbeschwerde damit, dass zwar der Sohn der Bf, nicht aber die Bf für den fraglichen Zeitraum über einen Aufenthaltstitel verfüge. Ein Anspruch auf Familienbeihilfe sei zu verneinen, wenn lediglich das (den Anspruch vermittelnde) Kind, nicht aber der Anspruchsberechtigte - die Bf - einen Aufenthaltstitel besitze. Weder die Abgabenbehörde noch das BFG habe zu prüfen, ob Familienbeihilfe trotz fehlendem Aufenthaltstitel zu gewähren sei, weil "bei fehlendem Aufenthaltstitel für einen bestimmten Zeitraum eine unabdingbare Voraussetzung für den allfälligen Anspruch auf Familienbeihilfebezug nicht erfüllt ist". Gegen das Erkenntnis des BFG erhob die Bf (außerordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH).
Der VwGH (, Ra 2022/16/0035-14) hob das Erkenntnis des BFG wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts auf: Für die nach § 3 Abs. 1 und 2 Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) erforderliche Beurteilung des rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich komme es nicht auf "eine konstitutive Verleihung durch die Niederlassungsbehörde" an, weswegen das BFG das von der Bf in der Bescheidbeschwerde behauptete (von ihrem Sohn abgeleitete) Aufenthaltsrecht prüfen hätte müssen.
II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt
Die Bf hält sich seit August 2010 ohne Aufenthaltstitel im österreichischen Bundesgebiet auf. Am ***TT.MM.JJJJ*** bringt sie ihren Sohn zur Welt. Kindsvater ist ein nigerianischer Staatsangehöriger, der mit einer britischen Staatsangehörigen verheiratet ist. Als Angehöriger einer EWR-Bürgerin verfügt er über einen Aufenthaltstitel in Österreich ("Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR-Bürgers"; § 54 Abs. 1 iVm § 9 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz [NAG]). Der Sohn der Bf verfügt seit seiner Geburt über einen vom Kindsvater abgeleiteten inländischen Aufenthaltstitel ("Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR-Bürgers"; § 54 Abs. 1 iVm § 9 Abs. 1 Z 2 NAG). Die Bf ist mit dem Kindsvater nicht verheiratet. Der Bf wird erst am ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährt ("Aufenthaltsberechtigung plus"; § 55 Abs. 1 iVm § 54 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz [AsylG]).
2. Beweiswürdigung
Wie aus dem im Akt aufliegenden Bescheid des Bundesasylamts vom hervorgeht, wurde der von der Bf am gestellte Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen; die Bf wurde aus Österreich nach Nigeria ausgewiesen. Somit hält sie sich seit August 2010 ohne Aufenthaltstitel im österreichischen Bundesge-biet auf.
Ihr im Juni 2015 geborener Sohn verfügt seit seiner Geburt über eine Aufenthaltskarte nach § 54 Abs. 1 iVm § 9 Abs. 1 Z 2 NAG. Dem Akt ist ein diesbezügliches Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom beigefügt.
Der Aufenthaltstitel des Kindsvaters geht aus der im Akt enthaltenen Anfrage an das Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) hervor. Ebenso belegt eine Anfrage an das IZR, dass die Bf seit Jänner 2018 über einen Aufenthaltstitel nach § 55 Abs. 1 iVm § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG verfügt.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zu Spruchpunkt I. (Abweisung/Abänderung/Stattgabe)
Personen, die keine österreichischen Staatsbürger sind, haben nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie sich rechtmäßig in Österreich aufhalten (§ 3 Abs. 1 FLAG 1967 iVm §§ 8 f NAG oder § 54 AsylG). Für Kinder, die keine österreichischen Staatsbürger sind, besteht Anspruch auf Familienbeihilfe, sofern sich die Kinder rechtmäßig in Österreich aufhalten (§ 3 Abs. 2 FLAG iVm §§ 8 f NAG oder § 54 AsylG).
Unstreitig ist, dass der Sohn der Bf kein österreichischer, sondern nigerianischer Staatsbürger kraft Abstammung ist: Weder Mutter noch Vater sind österreichische Staatsbürger (§ 6 Z 1 Staatsbürgerschaftsgesetz [StbG]). Ebenfalls unstreitig ist, dass sich der Sohn seit seiner Geburt am ***TT.MM.JJJJ*** rechtmäßig in Österreich aufhält und der Bf daher einen Anspruch auf Familienbeihilfe ab Juni 2015 vermittelt (§ 3 Abs. 2 FLAG iVm § 9 Abs. 1 Z 2 NAG).
Des Weiteren ist unstreitig, dass die Bf nigerianische Staatsbürgerin ist und sich seit Jänner 2018 rechtmäßig in Österreich aufhält: Wie ausgeführt, wird der Bf am ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK gewährt ("Aufenthaltsberechtigung plus"; § 55 Abs. 1 iVm § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG). Daher hat die Bf jedenfalls seit Jänner 2018 Anspruch auf Familienbeihilfe (§ 3 Abs. 1 FLAG iVm § 54 AsylG). Demgegenüber ist fraglich, ob sich die Bf bereits vor Jänner 2018 rechtmäßig in Österreich aufhält: Nur im Fall eines rechtmäßigen Aufenthalts spätestens ab Juni 2015 hat sie Anspruch auf Familienbeihilfe ab Juni 2015 nach § 3 Abs. 1 FLAG.
Anders als im Fall des Sohns kommt bei der Bf kein vom Kindsvater abgeleiteter Anspruch auf Aufenthalt in Österreich in Frage. Denn die drittstaatsangehörige Bf ist keine Angehörige eines unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers iSd § 54 Abs. 1 NAG. Zwar vermittelt der Verweis des § 54 Abs. 1 NAG auf § 52 Abs. 1 Z 1 bis Z 3 NAG auch Ehegatten und Verwandten in gerader ab- und aufsteigender Linie eines aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (wie dem Sohn) einen Anspruch auf Aufenthalt im österreichischen Bundesgebiet, doch ist die Bf mit dem drittstaatsangehörigen aufenthaltsberechtigten Kindsvater weder verheiratet noch in gerader ab- oder aufsteigender Linie verwandt. Ebenso wenig ist ein anderer Tatbestand des NAG auf den Sachverhalt anwendbar.
Allerdings hat jedermann gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Das Recht auf Achtung des Familienlebens schützt die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander. Der Begriff der Familie wird von der Rechtsprechung weit verstanden und erfasst nicht nur das System Kernfamilie (Vater, Mutter und Kind), sondern beispielsweise auch die Beziehungen der Ehepartner zueinander und jene zu ihren Kindern, ohne Rücksicht auf Ehelichkeit und tatsächliches Zusammenleben. Eine besondere Rolle spielt Art. 8 EMRK im Bereich des Asyl- und Fremdenrechts. So sind etwa aufenthaltsbeendende Maßnahmen (zB Ausweisung) unter Umständen als schwere Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens zu qualifizieren, sofern dadurch Familienbeziehungen im Inland abgeschnitten werden.
Das Familienleben der Bf mit ihrem Sohn, auf das sie sich in der Bescheidbeschwerde beruft, ist zweifelsohne von Art. 8 EMRK geschützt. Würde der Mutter das Aufenthaltsrecht verweigert, würde die Familienbeziehung zwischen Mutter und Sohn im Inland dadurch abgeschnitten. Der Sohn der Bf, der sich rechtmäßig in Österreich aufhält, wäre diesfalls de facto gezwungen, das Land (trotz Aufenthaltsrecht) zu verlassen.
Die bereits vom VwGH entschiedenen Fälle, welcher Aufenthaltstitel zu gewähren ist, wenn ein der Mutter verweigertes Aufenthaltsrecht dazu führen könnte, dass ihr Kind de facto gezwun-gen wäre, Österreich und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (; ), sind auf den vorliegenden Sachverhalt unanwendbar. Beide Entscheidungen betrafen Kinder, die österreichische Staatsbürger und daher Unionsbürger waren: Diesfalls kann sich nach der Judikatur des EuGH unter Umständen ein Aufenthaltsrecht für drittstaatszugehörige Angehörige von Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 20 AEUV ergeben, sofern der zusammenführende Unionsbürger im Fall eines seinem drittstaatszugehörigen Angehörigen verweigerten Aufenthaltsrechts de facto gezwungen wäre, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen; in solchen Fällen stehe Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken würden, dass dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Status als Unionsbürger verleihe, verwehrt werde.
Im vorliegenden Fall ist das Kind unstreitig kein Bürger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union und damit auch kein Unionsbürger. Allerdings kommt die aus der im vorstehenden Absatz referierten Judikatur ableitbare Grundwertung im vorliegenden Fall zum Tragen. Nach § 55 AsylG hat ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK von Amts wegen erteilt zu werden, wenn ein solcher zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens geboten ist. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 (iVm § 54 Abs 1. Z 1 oder Z 2) AsylG war bereits im Juni 2015 mit Geburt des Sohns der Bf (und nicht erst im Jänner 2018) geboten, um die Familienbeziehung zwischen Mutter und rechtmäßig in Österreich aufhältigem Sohn nicht abzuschneiden.
Die Bf hat sohin bereits seit Juni 2015 Anspruch auf Familienbeihilfe (§ 3 Abs. 1 FLAG iVm § 54 AsylG). Da auch für ihren Sohn seit Juni 2015 Anspruch auf Familienbeihilfe besteht (§ 3 Abs. 2 FLAG iVm § 9 NAG), war diese von der Abgabenbehörde bereits ab Juni 2015 - und nicht erst ab Jänner 2018 - auszubezahlen.
3.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Eine solche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liegt im vorliegenden Fall nicht vor, weil sich die Lösung aus den Bestimmungen des Art. 8 EMRK und des § 55 AsylG ergibt.
Salzburg, am
Zusatzinformationen
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Materie | Steuer |
betroffene Normen | Art. 8 Abs. 1 EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, BGBl. Nr. 210/1958 § 3 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2025:RV.7103252.2024 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at
Fundstelle(n):
IAAAF-72977