OGH 28.07.2021, 9ObA72/21k
Rechtssatz
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Norm | |
RS0133769 | Als „Dienstzeiten“ im Sinne des § 8 Abs 1 AngG sind grundsätzlich sämtliche Zeiten des aufrechten ununterbrochenen Dienstverhältnisses zum selben Dienstgeber zu verstehen. |
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Thomas Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei E* D*, vertreten durch Freimüller/Obereder/Pilz Rechtsanwält_Innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei S* Ges.m.b.H, *, vertreten durch die BPPA Brandstetter Baurecht Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 5.096,82 EUR brutto sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Ra 101/20a-10, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 39 Cga 69/20g-6, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 501,91 EUR (darin 83,65 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin war bei der Beklagten von bis beschäftigt, und zwar zunächst als Arbeiterin und ab als Angestellte. Anlässlich des Wechsels der Klägerin in das Angestelltenverhältnis wurde in einer neuen Vertragsurkunde vom hinsichtlich „Beginn und Dauer“ festgehalten (Pkt 1.): „Das Dienstverhältnis begann am als Arbeiterin in der Abteilung Bewachung. Ab wird das Dienstverhältnis in ein Angestelltendienstverhältnis umgewandelt.“
[2] Von bis zumindest befand sich die Klägerin im Krankenstand. Die Beklagte zahlte ihr an Entgeltfortzahlung ab Beginn des Krankenstands über sechs Wochen (bis ) das volle und über weitere vier Wochen (bis ) das halbe Entgelt.
[3] Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin eine weitere Entgeltfortzahlung in Höhe des Klagsbetrags für den Zeitraum von bis . Da ihr zweites Arbeitsjahr mit begonnen habe, habe sie ab diesem Zeitpunkt einen weiteren Anspruch auf ein volles Entgeltfortzahlungskontingent von acht Wochen voller und vier Wochen halber Entgeltfortzahlung erworben. Zwischen den Parteien habe seit durchgehend ein einheitliches Dienstverhältnis bestanden.
[4] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren dem Grunde nach und wandte ein, dass der Tag der Übernahme der Klägerin in das Angestelltenverhältnis () als Beginn des Arbeitsjahres anzusehen sei. Mit der Übernahme der Klägerin in das Angestelltenverhältnis sei ein neuer Dienstvertrag abgeschlossen worden.
[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Zwischen den Parteien habe ein einheitliches Dienstverhältnis bestanden, das durch den Wechsel der Klägerin in das Angestelltenverhältnis nicht unterbrochen gewesen bzw beendet worden sei. Das Dienstverhältnis sei mit lediglich von einem Arbeiter- in ein Angestelltenverhältnis „umgewandelt“ worden. Damit habe die Klägerin gemäß § 8 Abs 1 AngG aufgrund der Dauer des Dienstverhältnisses von über einem Jahr ab Beginn des neuen Arbeitsjahres () einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung auf das volle Entgelt für acht Wochen und auf das halbe Entgelt für vier Wochen.
[6] Das Berufungsgericht teilte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts und gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil zum Begriff des Arbeitsjahres iSd § 8 AngG bei Übernahme eines bisher als Arbeiter beschäftigten Dienstnehmers als Angestellter noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
[7] In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Beklagte die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Klagsabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[8] Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
[9] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt.
[10] 1. Die Beklagte macht zum einen geltend, dass die Parteien mit Übernahme der Klägerin in das Angestelltenverhältnis ein neues Dienstverhältnis abgeschlossen hätten, und zum anderen, dass Vordienstzeiten eines Arbeiterdienstverhältnisses beim selben Dienstgeber nicht auf Anspruchszeiträume nach § 8 AngG anzurechnen seien.
[11] Dazu hat der Senat Folgendes erwogen:
Rechtliche Beurteilung
[12] 1. Aufgrund des Wortlauts (§ 914 ABGB; RS0017915; RS0017791) der zwischen den Parteien errichteten Vertragsurkunden wurde das seit aufrecht bestandene Arbeiterdienstverhältnis mit in ein Angestelltendienstverhältnis „umgewandelt“. Damit wurde lediglich eine Vertragsänderung vorgenommen, das Vertragsband zwischen den Parteien bestand aber ununterbrochen weiter. Die Beklagte meint zwar, dass mit der Übernahme der Klägerin in das Angestelltenverhältnis ein neuer Dienstvertrag abgeschlossen worden sei, eine formelle Auflösung des bereits bestehenden Dienstverhältnisses mit behauptete allerdings auch die Beklagte im erstinstanzlichen Verfahren nicht. Eine andere als auf eine schlichte Abänderung („Umwandlung“) abzielende Parteienabsicht wurde nicht festgestellt (vgl RS0017831). Die von der Beklagten behaupteten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor, weil die Beklagte im Verfahren erster Instanz kein entsprechendes Tatsachenvorbringen erstattet hat (RS0053317 [T2]). Urkunden sind Beweismittel und können kein Prozessvorbringen ersetzen (RS0037915).
[13] 2. § 8 Abs 1 AngG in der hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2017/153 lautet:
„Ist ein Angestellter nach Antritt des Dienstverhältnisses durch Krankheit oder Unglücksfall an der Leistung seiner Dienste verhindert, ohne dass er die Verhinderung vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat, so behält er seinen Anspruch auf das Entgelt bis zur Dauer von sechs Wochen. Der Anspruch auf das Entgelt beträgt, wenn das Dienstverhältnis ein Jahr gedauert hat, jedenfalls acht Wochen; es erhöht sich auf die Dauer von zehn Wochen, wenn es fünfzehn Jahre, und auf zwölf Wochen, wenn es fünfundzwanzig Jahre ununterbrochen gedauert hat. Durch je weitere vier Wochen behält der Angestellte den Anspruch auf das halbe Entgelt.“
[14] 2.1. Die Frage, ob ein Dienstnehmer mindestens ein Jahr in einem Angestelltendienstverhältnis zum Dienstgeber gestanden haben muss, um Anspruch auf die nach § 8 Abs 1 Satz 2 AngG erhöhte Dauer der Entgeltfortzahlung zu haben, wurde vom Obersten Gerichtshof bislang nicht beantwortet.
[15] Die Entscheidung 10 ObS 54/17i ist nicht einschlägig. Die darin erörterte Frage des Beginns des Arbeitsjahres bei Zusammenrechnung von unterbrochenen Arbeitsverhältnissen (§ 2 Abs 3 EFZG) stellt sich im hier gegenständlichen – nicht unterbrochenen – Arbeitsverhältnis nicht.
[16] Auch aus der Entscheidung 8 ObA 31/20x ist für den vorliegenden Fall nichts Entscheidendes zu gewinnen. Sie hält zwar fest, dass der Gesetzgeber die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Lehrlinge, Arbeiter und Angestellte jeweils gesondert und abschließend geregelt hat und sich an dieser Trennung auch mit der Novelle des Angestelltengesetzes BGBl I 2017/153, mit der eine grundsätzliche Angleichung der Entgeltfortzahlungsbestimmungen des Angestellten an jene des Arbeiters und eine Ausweitung des Entgeltfortzahlungszeitraums für Lehrlinge vorgenommen wurde, nichts geändert hat (Pkt 3.). Diese Trennung der Regelungen bedeutet aber nicht per se, dass nur Dienstzeiten als Angestellter nach § 8 Abs 1 AngG zu berücksichtigen sind. Schließlich hat der Oberste Gerichtshof die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage, ob Vordienstzeiten eines Lehrverhältnisses nicht nur auf Anspruchszeiträume nach dem EFZG, sondern auch auf solche nach § 8 AngG anzurechnen sind, ausdrücklich offen gelassen (Pkt 2.).
[17] 3. Die Gesetzesmaterialien betonen die Angleichung der Entgeltfortzahlung von Angestellten und Arbeitern (IA 2306/A 25. GP 7).
[18] 4. Im Schrifttum wird die hier strittige Frage nahezu einheitlich beantwortet:
[19] 4.1. Nach Holzer (in Marhold/Burgstaller/Preyer, AngG § 8 [Stand ] Rz 28 unter Bezugnahme auf Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht I4 [1998], 292) seien für die Berechnung der maßgeblichen Dienstzeit nach § 8 AngG sowohl Arbeiterdienstzeiten als auch Angestelltendienstzeiten, die beim selben Dienstgeber unmittelbar vorausgegangen seien, zu berücksichtigen.
[20] 4.2. Ausgehend vom Wortlaut des § 8 Abs 1 vorletzter Satz („wenn das Dienstverhältnis fünf Jahre gedauert hat“) vertritt auch Melzer-Azodanloo (in Löschnigg, AngG10 § 8 Rz 171) die Auffassung, dass alle im aktuellen Dienstverhältnis zurückgelegten Zeiten auf Arbeitsvertragsbasis als voll anspruchsbegründend anzusehen seien, dh auch jene, in denen der Angestellte als Arbeiter (Arbeitnehmer, der der GewO 1859, dem ABGB etc unterliege) oder als Lehrling beschäftigt gewesen sei. Dass für Lehrlinge und Arbeiter das AngG und im Speziellen seine Entgeltfortzahlungsbestimmungen nicht gelten würden, schließe nämlich ebenso wenig wie der Ausbildungscharakter des Lehrverhältnisses aus, dass die Zeiten als „Nicht-Angestellter“ beim selben Dienstgeber von der Formulierung „wenn das Dienstverhältnis … Jahre gedauert hat“ erfasst seien. Zudem sprächen insbesondere der Zweck der nach der Dienstzeit gestaffelten Entgeltfortzahlungsdauer, dh die Belohnung der Betriebstreue, sowie die gesetzgeberischen Gleichstellungsmaßnahmen in den letzten Jahren für die Anerkennung aller Vordienstzeiten in persönlicher Abhängigkeit beim bisherigen Arbeitgeber unabhängig von der Arbeitnehmergruppe.
[21] 4.3. Burger (in Reissner, AngG3 § 8 Rz 46) kommt bei seinen Überlegungen zum selben Ergebnis, weil § 8 AngG nicht auf die Art des Dienstverhältnisses abstelle. Es stimme zwar, dass Arbeiter nicht dem Regime des AngG unterliegen würden, doch sei der Begriff der Dienstzeit nicht allein auf Beschäftigungszeiten im Regime des AngG beschränkt.
[22] 4.4. Drs (in Neumayr/Reissner, Zellkomm3 § 8 AngG Rz 91) verweist ebenfalls darauf, dass als Dienstzeiten grundsätzlich sämtliche Zeiten des aufrechten Arbeitsverhältnisses zum selben Arbeitgeber gelten, daher ua auch Zeiten als Arbeiter.
[23] 4.5. AuchnachSchrenk (Angleichung und Erhöhung des Entgeltfortzahlungsanspruchs per – Sonderfragen zu Angestellten und Lehrlingen, ARD 6603/5/2018 [Pkt 2.2.]), Glowacka (Angleichung Arbeiter – Angestellte bei der Entgeltfortzahlung, ZAS 2017, 339) und Schindler (Rechtsangleichung im Entgeltfortzahlungsrecht der Arbeiter und Angestellten, DRdA 2021, 105 [Pkt 4.4.]) habe bei einem ununterbrochenen Arbeitsverhältnis (zuerst als Arbeiter und dann als Angestellter) eine Anrechnung zu erfolgen.
[24] 4.6. Soweit ersichtlich sieht lediglichSchrank (Antworten auf 4 Spezialfragen rund um die Angleichung Arbeiter und Angestellte, PVP 2018, 217) im Wechsel aus dem EFZG ins AngG ein Zurückfallen des EFZ-Anspruchs auf die Dauer von sechs Wochen. Dieses vom Gesetzgeber nicht bedachte Ergebnis könnte aber dann beeinflusst werden, wenn die neue Tätigkeit des Arbeitnehmers eine gewollte Besserstellung für die bisherige Betriebstreue sei.
[25] 5. Der Senat schließt sich der überwiegenden Auffassung im Schrifttum an, wonach § 8 Abs 1 AngG so auszulegen ist, dass als „Dienstzeiten“ grundsätzlich sämtliche Zeiten des aufrechten Arbeitsverhältnisses zum selben Arbeitgeber gelten, also auch Zeiten des Arbeitnehmers als Arbeiter. Eine unterschiedliche Behandlung von Arbeiter- und Angestelltendienstzeiten ergibt sich weder aus dem Wortlaut des § 8 AngG, der nicht einschränkend auf „Dienstzeiten als Angestellter“ abstellt, noch aus der mit der Gesetzesänderung BGBl I 2017/153 verfolgten Intention des Gesetzgebers, das Entgeltfortzahlungsrecht der Angestellten und Arbeiter anzugleichen.
[26] 6. Zusammengefasst sind als „Dienstzeiten“ im Sinne des § 8 Abs 1 AngG grundsätzlich sämtliche Zeiten des aufrechten ununterbrochenen Dienstverhältnisses zum selben Dienstgeber zu verstehen, also auch Zeiten des Dienstnehmers als Arbeiter. Das neue Arbeitsjahr der Klägerin begann im vorliegenden Fall daher am . Mit diesem Zeitpunkt hat die Klägerin einen neuen Entgeltfortzahlungsanspruch. Die klagsstattgebenden Entscheidungen der Vorinstanzen erweisen sich daher als zutreffend.
[27] Der unbegründeten Revision der Beklagten war daher nicht Folge zu geben.
[28] Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2021:E132583 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
WAAAF-69644