OGH 24.02.2021, 7Ob19/21a
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidenten Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D* G*, vertreten durch Vogl, Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei G* AG, *, vertreten durch Wiedenbauer Mutz Winkler & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 16.153,09 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 139/20b-30, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom , GZ 69 Cg 30/19i-26, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt und beschlossen:
Spruch
Dem Rekurs wird teilweise Folge gegeben.
I. Der Beschluss des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung als Teilurteil wie folgt zu lauten hat:
„1. Die Klagsforderung besteht mit 13.487,64 EUR zu Recht.
2. Die Gegenforderung besteht mit 6,26 EUR zu Recht.
3. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen den Betrag von 13.481,48 EUR zu bezahlen.
4. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen den Betrag von 6,26 EUR samt 4 % Zinsen seit zu bezahlen, wird abgewiesen.
5. Betreffend diese Teilbegehren wird die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.“
II. Im übrigen Umfang wird der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts bestätigt. Insoweit sind die Kosten des Rekursverfahrens weitere Verfahrenskosten.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger ist Verbraucher mit Wohnsitz in Österreich. Er schloss mit der Beklagten, einem in Deutschland ansässigen Versicherer, eine fondsgebundene, als Rentenversicherung mit Garantieleistungen „G*“ bezeichneten Lebensversicherungsvertrag ab mit Versicherungsbeginn am .
[2] Der Kläger erhielt von der Beklagten in dem am unterfertigten Versicherungsantrag unter der Überschrift „Erklärungen und wichtige Hinweise für Versicherungsnehmer in Österreich“ unter anderem folgende Belehrung erteilt:
„Widerrufsrecht
Sie können Ihre Vertragserklärung innerhalb von 30 Tagen ohne Angabe von Gründen in Textform (z.B. Brief, Telefax, E-Mail) widerrufen. Die Frist beginnt, nachdem Sie den Versicherungsschein die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die weitere Informationen nach § 7 Abs. 1 und 2 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) in Verbindung mit den §§ 1 bis 4 der VVG-Informationspflichtenverordnung und diese Belehrung jeweils in Textform erhalten haben. Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Der Widerruf ist zu richten an: G*, Deutschland.
[…]
- Besondere Hinweise
Ihr Widerrufsrecht erlischt, wenn der Vertrag auf Ihren ausdrücklichen Wunsch sowohl von Ihnen als auch von uns vollständig erfüllt ist, bevor Sie ihr Widerrufsrecht ausgeübt haben. Soweit eine vorläufige Deckung erteilt wurde, endet diese mit dem Zugang des Widerrufs bei uns.
- Rücktrittsrecht
Die Darstellung der Regelung nach österreichischem Recht (§ 3b des österreichischen Konsumentenschutzgesetzes und § 5b des österreichischen Versicherungsvertragsgesetzes) entfällt, da durch das eingeräumte Widerrufsrecht alle diesbezüglichen Interessen zu Gunsten des Kunden gewahrt sind. Der Rücktritt ist in Schriftform gegenüber der G*, Österreich, zu erklären.“
[3] Oberhalb einer Unterschrift des Klägers findet sich die Wortfolge:
„Für den von Ihnen beantragten Versicherungsvertrag wird in Übereinstimmung mit den Verbraucherinformationen deutsches Recht, insbesondere das deutsche Versicherungsvertragsgesetz, vereinbart. Soweit dieses zwingenden österreichischen Rechtsvorschriften (z.B. Konsumentenschutzgesetz) widerspricht, gilt das entsprechende österreichische Recht. […]“
[4] In der vom Kläger am übermittelten Versicherungspolizze finden sich folgende Belehrungen:
„Widerrufsrecht
Sie können Ihre Vertragserklärung innerhalb von 30 Tagen ohne Angabe von Gründen in Textform (z.B. Brief, Telefax, E-Mail) widerrufen. Die Frist beginnt, nachdem Sie die Police, die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die weiteren Vertragsinformationen nach § 7 Abs. 1 und 2 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) in Verbindung mit den §§ 1 bis 4 der VVG-Informationspflichtenverordnung und diese Belehrung jeweils in Textform erhalten haben. Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Der Widerruf ist zu richten an die G*, [Adressen in der BRD].
[…]
Gültiges Recht
Auf Ihren Vertrag findet das Recht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung. […]“
[5] In den „Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die G* für Österreich“ der Beklagten finden sich in „Teil B: Allgemeine Bestimmungen“ folgende Regelungen:
„§ 11 Mitteilungen – Umzug
(1) […]
(2) Auch alle anderen Mitteilungen, die Ihren Vertrag betreffen, erbitten wir so früh wie möglich schriftlich, damit wir genügend Zeit haben, uns auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse einzustellen. Das betrifft z.B. Anträge auf Änderung Ihres Vertrages oder auch eine Kündigungserklärung.
[…]
§ 12 Anwendbares Recht – Gerichtsstand – Verjährung
(1) Auf Ihren Vertrag findet das Recht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung. Alle in diesen Versicherungsbedingungen genannten Gesetze und Verordnungen bezeichnen jeweils die deutschen Gesetzestexte und Verordnungen. Soweit diese zwingenden Bestimmungen des österreichischen Konsumentenschutzrechts widersprechen, gilt das entsprechende österreichische Recht.
[…]“
[6] Der Kläger hat an Prämien insgesamt 14.027,10 EUR bezahlt, darin enthalten sind eine Risikoprämie von 6,26 EUR und Versicherungssteuer von 539,46 EUR.
[7] Der Kläger bezahlte ab 2018 keine Prämien mehr. Die Beklagte wandelte deshalb die Polizze ab in einen beitragsfreien Vertrag mit herabgesetzten Leistungen um, worüber sie den Kläger mit Schreiben vom informierte.
[8] Der Kläger erklärte mit Schreiben seines Vertreters vom den Rücktritt vom Versicherungsvertrag, welchen die Beklagte zurückwies.
[9] Der Kläger begehrte mit seiner am eingebrachten Klage die Bezahlung von 16.153,09 EUR sA resultierend aus den bezahlten Prämien und kapitalisierten Zinsen und er stellte auch ein Eventualbegehren. Er brachte – soweit für das Rekursverfahren wesentlich – vor, dass die Vereinbarung deutschen Rechts nach Art 7 Abs 3 Rom I-VO unzulässig und er nach österreichischem Recht zu belehren gewesen sei. Eine Belehrung über sein Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG (aF) sei nicht gesetzeskonform erfolgt und er sei daher schon deshalb zum Rücktritt berechtigt gewesen. Außerdem sei er durch die Beklagte bei Vertragsabschluss absichtlich getäuscht worden, weil im Verkaufsprospekt zum Versicherungsprodukt Renditen versprochen worden seien, die aufgrund der enormen kaskadenartigen Kostenstruktur des Produkts gar nicht erzielbar seien.
[10] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren und wandte – soweit für das Rekursverfahren wesentlich – ein, dass die Belehrung über die zulässig und wirksam vereinbarten deutschen Regelungen (§§ 8, 152 VVG) richtig und vollständig gewesen sei. § 165a VersVG (aF) sei dagegen unanwendbar, der darauf gestützte Rücktritt daher unzulässig und unwirksam. Duch die erteilten Belehrungen seien auch die Erfordernisse der Rücktrittsbelehrung nach § 165a VersVG (aF) erfüllt worden. Widerrufs- und Rücktrittsfrist seien daher längst abgelaufen. Im Fall des Rücktritts müsse sich der Kläger die Risikoprämie entgegenhalten lassen und die Versicherungssteuer in Abzug bringen.
[11] Das Erstgericht wies das Haupt- sowie das Eventualbegehren ab. Es führte rechtlich – zusammengefasst – aus, dass der Kläger sämtliche Anspruchsgrundlagen außer dem versicherungsrechtlichen Rücktrittsrecht nicht ausreichend substantiiert habe. Sämtliche Ansprüche, die sich auf eine Anfechtung des Vertrags oder auf Schadenersatz stützten, seien überdies längst verjährt. Die im Versicherungsvertrag vorgenommene Wahl des deutschen (Versicherungs-)Rechts sei zulässig und wirksam gewesen und benachteilige den Kläger auch nicht im Verhältnis zum österreichischen Versicherungsrecht, insbesondere gegenüber § 165a VersVG (aF). Der vom Kläger im Jahre 2018 erklärte Rücktritt sei daher längst verfristet.
[12] Das Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache zur weiteren Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es vertrat die Rechtsansicht, dass die Vereinbarung deutschen Rechts nach Art 7 Abs 3 Rom I-VO unzulässig gewesen und demnach österreichisches Recht anzuwenden sei. Der bloße Umstand, dass die dem Kläger erteilte Belehrung auf das deutsche Recht reflektierte und deshalb terminologisch von „Widerruf“ anstatt „Rücktritt“ die Rede sei, begründe aber keine relevante Erschwernis der Ausübung des Rücktrittsrechts und eröffne daher dem Versicherungsnehmer kein unbefristetes Rücktritts-/Widerrufsrecht. Allerdings habe der Kläger einen vermeintlichen Schadenersatzanspruch ausreichend konkret vorgebracht und durch die dazu vom Erstgericht abgelehnte Einholung des beantragten Gutachtens aus dem Versicherungswesen (wohl Versicherungsmathematik) werde ein wesentlicher Verfahrensmangel begründet der im fortgesetzten Verfahren zu beheben sei.
[13] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil – soweit für das Berufungsgericht überblickbar – weder zu Art 7 Rom I-VO noch zur Frage, inwieweit eine Widerrufsbelehrung nach §§ 8 und 152 VVG einer Rücktrittsbelehrung nach § 165a VersVG (in den hier jeweils anzuwendenden Fassungen) gleichwertig sei, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
[14] Gegen diesen Beschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde. Hilfsweise stellt der Kläger auch Aufhebungsanträge.
[15] Die Beklagte erstattete eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag, den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise diesem nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Der Rekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und teilweise berechtigt.
[17] 1. Der Fachsenat hat sich jüngst zu 7 Ob 117/20m mit einer Rechtssache befasst, an welcher der auch hier beklagte Versicherer beteiligt war, und die dasselbe Versicherungsprodukt sowie eine in allen wesentlichen Punkten übereinstimmende Vertragsgrundlage zum Gegenstand hatte. Dort wurden bereits jene Rechtsfragen geklärt, die hier vom Berufungsgericht für erheblich erachtet werden. Es wird daher auf diese Entscheidung verwiesen und die dort bereits gewonnenen Ergebnisse wie folgt zusammengefasst:
[18] 2.1. Art 7 Rom I-VO gilt nach seinem Abs 1 für alle anderen als Großrisiko-Versicherungsverträge, durch die Risiken gedeckt werden, die im Gebiet der Mitgliedstaaten belegen sind. Nach Art 7 Abs 6 Rom I-VO ist bei Lebensversicherungen der Staat, in dem das Risiko belegen ist, der Staat der Verpflichtung im Sinn von Art 1 Abs 1 lit g Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Lebensversicherungen. Diese Richtlinie gilt (ua) für a) die Lebensversicherung und b) die Rentenversicherung.
[19] 2.2. Für andere als Großrisiko-Versicherungsverträge dürfen die Parteien nach Art 7 Abs 3 Rom I-VO (ua) die folgenden Rechte wählen:
a) das Recht eines jeden Mitgliedstaats, in dem zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses das Risiko belegen ist;
b) das Recht des Staats, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat;
c) bei Lebensversicherungen das Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Versicherungsnehmer besitzt.
[20] Von der Einräumung einer größeren Wahlfreiheit bezüglich des auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Rechts durch Mitgliedstaaten können die Parteien nur in den Fällen nach Art 7 Abs 3 a, b oder e Rom I-VO Gebrauch machen.
[21] 2.3. Dementsprechend bestimmt § 35a Abs 1 IPRG, das die Parteien eines Versicherungsvertrags, für den Art 7 Abs 3 Rom I-VO Rechtswahlmöglichkeiten eröffnet, in den Fällen des Art 7 Abs 3 lit a, b und e – somit nicht in den Fällen der Lebensversicherungen betreffenden lit c – Rom I-VO jedes andere Recht ausdrücklich oder schlüssig bestimmen können. Die hier abgeschlossene Rentenversicherung ist als Lebensversicherung vom Anwendungsbereich des Art 7 Abs 3 lit c Rom I-VO umfasst, weshalb die Parteien nur das Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Versicherungsnehmer besitzt, wählen durften. Die Rechtswahl deutschen Rechts war daher unzulässig; die Rechtssache ist nach österreichischem Recht zu beurteilen.
[22] 3.1. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 2006/95) lautete:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach seiner Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. Hat der Versicherer vorläufige Deckung gewährt, so gebührt ihm hiefür die ihrer Dauer entsprechende Prämie.“
[23] 3.2. Der bei Vertragsabschluss geltende § 178 Abs 1 VersVG (idF BGBl I 2012/34) lautete auszugsweise:
„(1) Auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften der §§ 162 bis 164, der §§ 165, 165a und 169 oder des § 171 Abs. 1 Satz 2 zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, kann sich der Versicherer nicht berufen. Jedoch kann für die Kündigung, zu der nach § 165 der Versicherungsnehmer berechtigt ist, die geschriebene Form ausbedungen werden; […]“
[24] 3.3. Der bei Vertragsabschluss geltende § 9a Abs 1 VAG (idF BGBl 1996/447) lautete soweit hier relevant:
„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluß eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über
[…]
6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluß des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.“
[25] 4.1. Zunächst liegt in der unrichtigen Belehrung über die Geltung der deutschen Rechtsordnung schon insofern eine Erschwernis, als diese andere Rechtsbegriffe verwendet, die zudem in ein anderes System von Rechtsbehelfen eingebettet sind als das tatsächlich für den Vertrag geltende österreichische Recht.
[26] 4.2. Weiters wird durch den Verweis auf die Gesetzmäßigkeit eines Textformerfordernisses nach deutschem Recht dem Verbraucher erschwert, die ihm nach österreichischem Recht zustehenden Rechte und konkret die Formfreiheit hinsichtlich der Ausübung des Rücktrittsrechts zu erkennen und deren Richtigkeit gegenüber dem Anschein der Rechtskonformität der Belehrung nach angeblich geltendem deutschen Recht zu behaupten.
[27] 4.3. In den Stellen der Belehrungen, in denen auf das hier anzuwendende österreichische Recht Bezug genommen wird, sind zudem § 165a Abs 1 oder § 178 Abs 1 VersVG nicht genannt, sondern es finden sich lediglich unspezifische Hinweise auf „zwingende österreichische Rechtsvorschriften (z.B. Konsumentenschutzgesetz)“ bzw „zwingende Bestimmungen des österreichischen Konsumentenschutzrechts“ oder „das entsprechende österreichische Recht“. Nach dieser unspezifischen Belehrung verbleiben Zweifel, welche Rechtsordnung sowie welche konkreten gesetzlichen Bestimmungen tatsächlich anzuwenden sind und welche Rechte dem Versicherungsnehmer im Einzelnen zustehen, zumal darüber keine bzw unklare Erklärungen angeführt sind.
[28] 4.4. Unklar ist die Belehrung überdies auch dahin, an welche Adresse Erklärungen des Versicherungsnehmers zu richten wären, weil einerseits im Zusammenhang mit – nicht näher erläuterten – Rücktrittsrechten nach § 3b KSchG und § 5b VersVG schriftliche Erklärungen an die Adresse einer österreichischen Niederlassung, für einen „Widerruf“ in „Textform“ aber die deutsche Adresse der Beklagten genannt ist.
[29] 4.5. Schließlich entspricht die Belehrung auch inhaltlich nicht dem § 165a Abs 1 VersVG (aF).
[30] 4.6. Zusammengefasst wird daher die dem Kläger erteilte Belehrung in der Gesamtschau nicht den Anforderungen an eine korrekte und verständliche Belehrung über das ihm nach § 165a VersVG (aF) zustehende Rücktrittsrecht gerecht, wodurch dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wurde, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Dies führt zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht des Klägers.
[31] 5.1. Der vom Kläger berechtigt vorgenommene Rücktritt löst, wie der Fachsenat aufgrund der Beantwortung der Vorlagefrage 4 durch den EuGH in der Rechtssache C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner, bereits wiederholt ausgesprochen hat, nicht die Rechtsfolgen nach § 176 VersVG aF aus, sondern führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags (7 Ob 19/20z; 7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 15/20m). Das bedeutet, dass der Kläger aufgrund der infolge des wirksamen Rücktritts vorzunehmenden bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung grundsätzlich Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Prämien hat (7 Ob 8/20g; 7 Ob 200/20t).
[32] 5.2. Auf bereicherungsrechtlicher Grundlage kann der Kläger allerdings nicht auch die Rückzahlung der Versicherungssteuer geltend machen (7 Ob 105/20x) und der von der Beklagten begehrte Abzug der Risikokosten ist als Einwand einer Gegenforderung zu werten (7 Ob 117/20m).
[33] 6. Damit folgt als Zwischenergebnis, dass – (allein) auf Basis des Bereicherungsrechts – infolge berechtigten Rücktritts die Klagsforderung im Umfang der bezahlten Prämien (14.027,10 EUR) abzüglich der Versicherungssteuer (539,46 EUR), also mit 13.487,64 EUR, zu Recht besteht. Der Beklagten steht im Umfang der Risikokosten von 6,26 EUR eine Gegenforderung zu, was einen Zuspruch von 13.481,38 EUR ergibt. Der restliche Betrag betrifft kapitalisierte Zinsen und die Versicherungssteuer, soweit deren Rückforderung auf schadenersatzrechtliche Grundlagen gestützt werden könnte. Insofern ist eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich:
[34] 7.1. Alle Arten von Zinsen aus einer fälligen, zu erstattenden Geldsumme ohne Rücksicht auf den Rechtsgrund der Zahlungspflicht, darunter auch Zinsen aus einer ohne Rechtsgrund geleisteten und daher zurückzuerstattenden Geldsumme („Vergütungszinsen“), verjähren gemäß § 1480 ABGB (RS0031939; RS0033829; RS0032078; RS0038587). Unkenntnis des Anspruchs hindert den Beginn der Verjährung im Allgemeinen nicht. Wer etwa einen wegen Irrtums (auch eines Rechtsirrtums) ohne Rechtsgrund geleisteten Geldbetrag zurückfordert, ist zwar bis zur Aufdeckung dieses Willensmangels gar nicht in der Lage, Zinsen von dem rechtsgrundlos gegebenen Kapital zu fordern; das hindert aber nicht den Lauf der dreijährigen Verjährungsfrist nach § 1480 ABGB, ist doch der Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich – von Ausnahmebestimmungen wie etwa § 1489 ABGB abgesehen – an die objektive Möglichkeit der Rechtsausübung geknüpft. Die Möglichkeit zu klagen ist im objektiven Sinn zu verstehen; subjektive, in der Person des Berechtigten liegende Hindernisse, wie ein Irrtum des Berechtigten oder überhaupt Unkenntnis des Anspruchs, haben in der Regel auf den Beginn der Verjährungsfrist keinen Einfluss (RS0034337; RS0034445 [T1]; RS0034248). Mehr als drei Jahre vor dem Tag der Klagseinbringung rückständige Vergütungszinsen sind daher verjährt (4 Ob 584/87). Bereits in mehreren Entscheidungen hat der erkennende Fachsenat diese Rechtsprechung auch für den Fall der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach einem (Spät-)Rücktritt des Versicherungsnehmers von einem Lebensversicherungsvertrag ausdrücklich aufrechterhalten (7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 88/20x).
[35] 7.2. Ausgehend von der Entscheidung des bis C-357/18 und C-479/19, Rust-Hackner (ua), hat der Senat aber weiters ausgesprochen (7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 88/20x): Im Grundsatz steht das Unionsrecht einer Verjährung des Anspruchs auf die Vergütungszinsen binnen drei Jahren nicht entgegen, wenn dies die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst nicht beeinträchtigt. Der EuGH hob deutlich hervor, dass das Rücktrittsrecht nicht dazu dient, dass der Versicherungsnehmer eine höhere Rendite erhalten oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen spekulieren kann. Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine solche Verjährung des Anspruchs auf Vergütungszinsen geeignet ist, die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst zu beeinträchtigen, zumal Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietenden Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potentiell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können. Wenn unter diesen Umständen die Tatsache, dass die für mehr als drei Jahre fälligen Zinsen verjährt sind, dazu führen sollte, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt, obwohl der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht, wäre eine solche Verjährung geeignet, das Rücktrittsrecht zu beeinträchtigen, insbesondere wenn der Versicherungsnehmer nicht richtig über die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts informiert wurde. Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.
[36] 7.3. Daraus folgt für den vorliegenden Fall: Dem Kläger stehen unter bereicherungsrechtlichen Gesichtspunkten die Vergütungszinsen jedenfalls für den Zeitraum von drei Jahren vor Klagseinbringung zu. Zinsen aus den Prämien für die Zeit von mehr als drei Jahren vor Klagseinbringung gebühren dagegen dem Kläger nur dann, wenn deren Verjährung der effektiven Ausübung des Rücktrittsrechts im zuvor dargestellten Sinn entgegenstünde. Diese Voraussetzungen waren bislang nicht Gegenstand des Verfahrens und wurden nicht mit den Parteien erörtert.
[37] 7.4. Im fortzusetzenden Verfahren wird der Kläger zunächst die kapitalisierten Zinsen aufzuschlüsseln haben. Er wird aufzugliedern haben, welche Zinsenbeträge auf jeweils welche, wann bezahlte Prämien und welche Teilbeträge davon auf den Zeitraum mehr oder weniger als drei Jahre vor Klagseinbringung entfallen. Dem Kläger stehen dann ohne weitere Voraussetzungen jene Zinsenbeträge zu, die auf den Zeitraum von drei Jahren vor Klagseinbringung entfallen. Zu jenen Zinsen, die mehr als drei Jahre vor Klagseinbringung zurückliegende Zeiträume betreffen, wird dem Kläger im fortzusetzenden Verfahren Gelegenheit zu geben sein, ergänzendes Vorbringen im oben dargestellten Sinn zu erstatten und gegebenenfalls wird dann das Erstgericht zu klären und festzustellen haben, ob der Vertrag im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses den Bedürfnissen des Klägers entsprach, sowie ob und inwiefern dieser durch die Verjährung der Vergütungszinsen binnen drei Jahren daran gehindert wäre, sein Rücktrittsrecht geltend zu machen. Nur wenn der Vertrag im konkreten Einzelfall nicht den Bedürfnissen des Klägers entsprach und er durch die Verjährung am Rücktritt gehindert worden wäre, wird die dreijährige Verjährungsfrist nicht anzuwenden sein.
[38] 8. Die vom Berufungsgericht für notwendig erachtete Verfahrensergänzung, die in Rekurs und Rekursbeantwortung nicht mehr konkret aufgegriffen wird, betrifft die vom Kläger behauptete schadenersatzrechtliche Anspruchsgrundlage. Diese ist im fortgesetzten Verfahren noch als mögliche Grundlage für die bereicherungsrechtlich nicht erreichbaren Teilbeträge zu prüfen.
[39] 9. Im Ergebnis folgt:
[40] 9.1. Die Rechtssache ist im Umfang des Zuspruchs an Kapital bestehend aus den bezahlten Prämien abzüglich Versicherungssteuer und im Umfang der Risikokosten als Teilurteil entscheidungsreif.
[41] 9.2. Die Zinsen aus den Prämien werden im Sinn von Punkt 7.3. aufzugliedern und zu beurteilen sein.
[42] 9.3. Die Versicherungssteuer könnte (nur) auf schadenersatzrechtlicher Grundlage erfolgreich zurückverlangt werden.
[43] 9.4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2021:E131132 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
CAAAF-69201