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OGH 25.11.2020, 6Ob126/20b

OGH 25.11.2020, 6Ob126/20b

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und durch die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. W*, 2. F*, 3. Mag. G*, 4. M*, 5. V**, 6. Mag. O*, 7. D*, 8. M*, 9. M*, 10. P*, 11. Mag. J*, 12. B*, alle vertreten durch Dr. Johannes Öhlböck, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei H*, vertreten durch Mag. Lucas Mäntler, Rechtsanwalt in Wien, als Erwachsenenvertreter, wegen Räumung, aus Anlass der außerordentlichen Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 39 R 64/20f-31, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Akten werden dem Erstgericht zurückgestellt.

Text

Begründung:

Die Kläger nehmen den Beklagten auf Räumung zweier Objekte in Anspruch. Der Beklagte war bereits im erstgerichtlichen Verfahren anwaltlich vertreten. Das Berufungsgericht gab beiden Räumungsbegehren statt. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am eingebrachte außerordentliche Revision des Beklagten.

Mit Beschluss vom , GZ *, bestellte das Bezirksgericht * gemäß § 271 ABGB einen Erwachsenenvertreter für den Beklagten, der insbesondere mit der Vertretung im vorliegenden Verfahren betraut ist. Dieser stellte mit Schriftsatz vom den Antrag auf Klagszustellung zu seinen Handen an das Erstgericht, weil der Beklagte (gemeint offenbar: bereits zu diesem Zeitpunkt) prozessunfähig gewesen sei. Weiters teilte er mit, die bisherige Verfahrensführung nicht zu genehmigen.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 6 Abs 1 ZPO ist der Mangel der Prozessfähigkeit in jeder Lage des Rechtsstreits, somit auch noch im Rechtsmittelverfahren, von Amts wegen zu berücksichtigen.

Nach § 1 Abs 2 ZPO mangelt es einer Person in jenen Verfahren an der Prozessfähigkeit, die in den Wirkungsbereich eines Erwachsenenvertreters fallen. Die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit – gleiches gilt für die Einschränkung der Prozessfähigkeit – einer Person durch die Bestellung eines Erwachsenenvertreters wirkt nur rechtsgestaltend für die Zukunft (RS0110082). Bestehen für davor liegende Zeitpunkte begründete Bedenken hinsichtlich der Prozessfähigkeit einer Partei (vgl RS0035351), so obliegt die Prüfung, ob die betroffene Partei damals die Tragweite des konkreten Rechtsstreits und der von ihr gesetzten Rechtshandlungen erkennen konnte, dem Prozessgericht (RS0110082; RS0035228 [T2]; 2 Ob 132/17a).

War die Partei im Verfahren allerdings anwaltlich vertreten, dann muss ihre Prozessfähigkeit nur im Zeitpunkt der Erteilung der Vollmacht an den Rechtsanwalt gegeben gewesen sein, ihr späterer Verlust während des Rechtsstreits ist ohne Belang (RS0035154; 8 Ob 169/01p; vgl Zib in Fasching/Konecny³ § 35 ZPO Rz 25 f; Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny³ § 1 Rz 17, § 6a Rz 11). Die wirksam erteilte Vollmacht ermächtigt den Rechtsanwalt zum Einschreiten, bis ihm der einstweilige Erwachsenenvertreter die Vollmacht entzieht (RS0019873 [T10]).

Im vorliegenden Fall ist die Prüfung des Vorbringens des Erwachsenenvertreters, der Beklagte sei bereits seit Klagezustellung – und damit auch zum Zeitpunkt der Erteilung der Prozessvollmacht – prozessunfähig gewesen, nach der Aktenlage angezeigt, weil sich aus dem Beschluss des Pflegschaftsgerichts ergibt, dass die Beeinträchtigung seiner Handlungsfähigkeit nicht aus einem punktuellen Ereignis, sondern aus einer senilen Demenz resultiert. Diese Diagnose bietet einen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass bereits vor der Bestellung des Erwachsenenvertreters Einschränkungen seiner Prozessfähigkeit vorgelegen sein könnten.

Das Erstgericht wird daher – im Sinn des § 509 Abs 3 ZPO (vgl 2 Ob 132/17a) – Erhebungen und Beweisaufnahmen zur behaupteten Prozessunfähigkeit des Beklagten für die Zeitpunkte der Klagezustellung und der Erteilung der Prozessvollmacht durchzuführen haben. Dabei ist auch den Klägern rechtliches Gehör zu gewähren (2 Ob 132/17a; RS0041857). Ein Sanierungsversuch nach § 6 Abs 2 ZPO (vgl RS0118612) kann jedenfalls unterbleiben, weil der Erwachsenenvertreter bereits erklärt hat, die bisherige Verfahrensführung nicht zu genehmigen.

Nach Durchführung der Erhebungen und Beweisaufnahmen wird das Erstgericht den Akt neuerlich dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über die außerordentliche Revision des Beklagten vorzulegen haben.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. W*****, 2. F*****, 3. Mag. G*****, 4. M*****, 5. V*****, 6. Mag. O*****, 7. D*****, 8. M*****, 9. M*****, 10. P*****, 11. Mag. J*****, 12. B*****, alle vertreten durch Dr. Johannes Öhlböck, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei H*****, vertreten durch Mag. Lucas Mäntler, Rechtsanwalt in Wien, als Erwachsenenvertreter, wegen Räumung, im Verfahren über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 39 R 64/20f-31, womit das Urteil des Bezirksgerichts Fünfhaus vom , GZ 23 C 858/19p, 23 C 859/19k-26, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Aus Anlass der außerordentlichen Revision des Beklagten werden das Urteil des Erstgericht im Umfang seiner Spruchpunkte 2 und 3 sowie das vorausgegangene Verfahren einschließlich der Klagezustellung im Umfang des Klagebegehrens zum verbundenen Verfahren AZ 23 C 859/19k (ursprünglich AZ 5 C 131/19v) sowie das Urteil des Berufungsgerichts als nichtig aufgehoben.

Die Kosten der Verfahren zweiter und dritter Instanz werden gegenseitig aufgehoben. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster Instanz bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Begründung:

[1] Mit Klagen vom , dem Beklagten zugestellt am , begehrten die Kläger die Räumung zweier Objekte, und zwar im führenden Verfahren AZ 23 C 858/19p (ursprünglich AZ 5 C 130/19x) des Erstgerichts die Räumung der Waschküche am Dachboden/Abstellraum und im verbundenen Verfahren AZ 23 C 859/19k (ursprünglich AZ 5 C 131/19v) des Erstgerichts die Räumung des Geschäftslokals Top 1 auf der näher bezeichneten Liegenschaft. Mit Schriftsätzen vom schritt ein vom Beklagten frei gewählter Rechtsanwalt unter Berufung auf die erteilte Vollmacht für den Beklagten ein; dieser war im weiteren Verfahren durch den Rechtsanwalt vertreten. Die Verfahren wurden mit Beschluss vom zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

[2] Das Erstgericht gab dem Räumungsbegehren betreffend das Objekt Waschküche/Abstellraum unbekämpft statt (Spruchpunkt 1), wies das Begehren auf Räumung des Geschäftslokals Top 1 ab (Spruchpunkt 2) und verpflichtete die Kläger zum Kostenersatz (Spruchpunkt 3).

[3] Das von den Klägern angerufene Berufungsgericht änderte den klageabweisenden Teil der Entscheidung und die Kostenentscheidung ab und gab (auch) dem Begehren auf Räumung des Geschäftslokals Top 1 statt.

[4] Gegen diese Entscheidung richtet sich die am eingebrachte außerordentliche Revision des Beklagten, mit der er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung anstrebt.

[5] Mit Beschluss vom , GZ *****-163, bestellte das Bezirksgericht ***** gemäß § 271 ABGB einen Erwachsenenvertreter für den Beklagten, der insbesondere mit der Vertretung im vorliegenden Verfahren betraut ist. Dieser stellte mit Schriftsatz vom den Antrag auf Klagezustellung zu seinen Handen an das Erstgericht, weil der Beklagte (gemeint offenbar: bereits zu diesem Zeitpunkt) prozessunfähig gewesen sei. Weiters teilte er mit, die bisherige Verfahrensführung nicht zu genehmigen.

[6] Mit Beschluss vom stellte der Oberste Gerichtshof die Akten dem Erstgericht zur Durchführung von Erhebungen zur Prozessfähigkeit des Beklagten für die Zeitpunkte der Klagezustellung und der Erteilung der Prozessvollmacht zurück.

[7] Aus dem vom Erstgericht eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. H***** D***** vom ergibt sich, dass beim Beklagten im März und April 2019 ein leicht- bis mittelgradiges dementielles Zustandsbild und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung bestanden, die einander derart verstärkten, dass der Beklagte in seinen Prozessentscheidungen mehr durch seine persönliche und emotionale Realitätsinterpretation als durch die tatsächlichen Gegebenheiten zu seinen Entscheidungen gelangte, weshalb die Geschäfts- und Prozessfähigkeit des Beklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen war.

Rechtliche Beurteilung

[8] Gemäß § 477 Abs 1 Z 5 ZPO sind gerichtliche Entscheidungen und diesen vorangegangene Verfahren nichtig, wenn eine Partei gar nicht oder, falls sie eines gesetzlichen Vertreters bedarf, nicht durch einen solchen vertreten war, sofern die Prozessführung nicht nachträglich genehmigt wurde. Der Nichtigkeitsgrund ist auch aufgrund einer außerordentlichen Revision von Amts wegen wahrzunehmen (RS0042973 [T4]).

[9] Da der Erwachsenenvertreter des Beklagten die bisherige Prozessführung nicht genehmigte, sind die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorausgegangene Verfahren in dem Umfang, der Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, einschließlich der Klagezustellung als nichtig aufzuheben (RS0035241 [T2, T3]; 8 Ob 16/04t; Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 7 ZPO Rz 6).

[10] Hingegen ist der Räumungsbefehl des Erstgerichts betreffend das Objekt Waschküche/Abstellraum (führendes Verfahren) bereits in formelle Rechtskraft erwachsen, die auch dann eintritt, wenn die Prozessunfähigkeit der Partei nicht erkannt wurde (vgl 1 Ob 6/01s [verst Senat]; RS0116036).

[11] Die Kostenaufhebung beruht auf § 51 Abs 2 ZPO. Dem Akteninhalt sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Einleitung bzw Fortsetzung des Verfahrens trotz des vorhandenen Nichtigkeitsgrundes einer der Parteien als Verschulden zuzurechnen wäre. Dem prozessunfähigen Beklagten kann nicht angelastet werden, dass er auf seine Einschränkung nicht hinwies (vgl 8 Ob 16/04t). Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2021:E132437
Datenquelle

Fundstelle(n):
XAAAF-68906