OGH 28.09.2021, 2Ob6/21b
Rechtssatz
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Norm | EUGVVO 2012 Art13 Abs2 |
RS0133821 | Art 13 Abs 2 EUGVVO 2012 kann auch dann zur Anwendung kommen, wenn der „Geschädigte“ seinen Anspruch nur auf eine rechtsgeschäftliche Abtretung stützen kann. Der besondere Schutz der versicherungsrechtlichen Regelungen wäre nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH nur dann nicht gerechtfertigt, wenn beide Parteien im (weit verstandenen) Versicherungssektor tätig sind (vgl C-106/17, Hofsoe; C-803/18 AAS Balta). |
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Musger, Dr. Solé, Dr. Nowotny und Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L* GmbH, *, vertreten durch Mag. Evelyn Heidinger, Rechtsanwältin in Graz, gegen die beklagte Partei P* S.A., vertreten durch Dr. Andreas Weinzierl, Rechtsanwalt in Wien, wegen 8.403,18 EUR, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 6 R 200/20f-35, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Weiz vom , GZ 42 C 390/19x-31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 833,88 EUR (darin enthalten 138,98 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Am ereignete sich in Tschechien ein Verkehrsunfall zwischen dem in Ungarn zugelassenen Klagsfahrzeug und dem bei der polnischen Beklagten haftpflichtversicherten Beklagtenfahrzeug.
[2] Eigentümerin des Klagsfahrzeugs war im Unfallzeitpunkt eine GmbH mit Sitz in Wien (in der Folge: Wiener GmbH). Diese hatte das Fahrzeug an die Klägerin mit Sitz im Sprengel des Erstgerichts verleast, die es wiederum mit Unterleasingvertrag an ihre ungarische Schwesterngesellschaft (in der Folge: Kft) weiterverleast hatte. Der Abschnitt V. des Unterleasingvertrags regelt den Versicherungsschutz und die Schadensabwicklung. Punkt V.e. lautet:
„Im Schadensfall haftet der LN dem LG gegenüber für die ordnungsgemäße Reparatur des LO. Soweit diesbezüglich Schadenersatzansprüche bzw. Ansprüche auf Ersatzleistung (z.B. Versicherungsleistung) gegen einen Dritten bestehen, ist ausschließlich der LG als Eigentümer des LO unmittelbar geschädigt und schadenersatzanspruchsberechtigt. Der LN hat in diesen Fällen für die Geltendmachung und ordnungsgemäße Abwicklung der Schadenersatzansprüche Sorge zu tragen und gegen vorherige Übermittlung von Schadensmeldung und Kostenvoranschlag die Schadensbehebung in Auftrag zu geben. (Die Entscheidung über die Auftragsvergabe insbesondere hinsichtlich Auftragsnehmer sowie Art und Umfang der Schadensbehebung ist dem LG vorbehalten.) Ein allfälliges Prozess- und Kostenrisiko im Zusammenhang mit der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen trägt der LN.“
[3] Laut dem (unstrittigen) Punkt XI.a. des Vertrags ist auf diesen materielles österreichisches Recht unter Ausschluss der Verweisungsnormen des Internationalen Privatrechts anzuwenden.
[4] Das Klagsfahrzeug wurde 2018 auf Kosten der Kft repariert. Jedoch erstattete die Klägerin der Kft diese Kosten Anfang Jänner 2019 im Rahmen des alljährlich durchgeführten konzerninternen Ausgleichs. Eine Zession von der Kft an die Klägerin ist nicht erfolgt.
[5] Im Mai 2019 kaufte die Klägerin das Klagsfahrzeug von ihrer Leasinggeberin, der Wiener GmbH. Im Juni 2019 trat die Wiener GmbH der Klägerin „die Ansprüche“ aus dem Verkehrsunfall ab.
[6] Die Klägerin machte bereits am mit Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer ihres Unfallgegners Reparaturkosten und pauschale Unkosten in Gesamthöhe von 8.403,18 EUR geltend. Sie berief sich für die internationale Zuständigkeit auf den Aktivgerichtsstand nach Art 11 Abs 1 lit b iVm Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012. Sie sei die Eigentümerin des Klagsfahrzeugs. Aufgrund der Regelungen im Leasingvertrag mit der Kft sei sie auch die wirtschaftlich Geschädigte. In den Vertragsbedingungen sei die Haftung des Leasingnehmers gegenüber dem Leasinggeber als Standardfall geregelt. Bei Verursachung des Schadens durch Dritte sei jedoch der Leasinggeber als Eigentümer unmittelbar geschädigt und gegenüber dem Dritten anspruchsberechtigt. Die Kft habe die ursprünglich von ihr getragenen Reparaturkosten mit Rechnung vom der Klägerin weiterverrechnet, die diese Rechnung im Zuge des „internen Ausgleichs“ am auch bezahlt habe.
[7] Nachdem das Beweisverfahren ergeben hatte, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt selbst nur Leasingnehmerin war, stützte sie sich ergänzend darauf, dass sie das Klagsfahrzeug mittlerweile erworben habe und ihr die Wiener GmbH als frühere Eigentümerin zusätzlich die Ansprüche aus dem Verkehrsunfall zediert habe.
[8] Die Beklagte wandte die fehlende internationale Zuständigkeit und in der Sache die mangelnde Aktivlegitimation ein. Die Klägerin sei im Unfallzeitpunkt weder Eigentümerin noch Halterin gewesen. Nicht sie, sondern die Kft mit Sitz in Ungarn habe durch den Unfall einen Schaden erlitten und auch die Reparaturkosten getragen. Weder eine konzerninterne Ausgleichszahlung noch der nachträgliche Kauf des bereits reparierten Klagsfahrzeugs oder eine Zession der Ansprüche nach Klagseinbringung mache die Klägerin zur Geschädigten iSd Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012.
[9] Das Erstgericht wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Die Klägerin sei im Unfallzeitpunkt nicht Eigentümerin des Klagsfahrzeugs gewesen und habe das Klagsfahrzeug in bereits repariertem Zustand gekauft. Sie sei daher nicht Geschädigte iSd Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012. Auch die Zession der Ansprüche an die Klägerin nach Verfahrenseinleitung schaffe keinen Gerichtsstand an ihrem Sitz.
[10] Das Rekursgericht bejahte die internationale Zuständigkeit und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens auf. Es sprach zunächst aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die Klägerin habe die Reparaturkosten getragen und sei inzwischen auch Eigentümerin des Klagsfahrzeugs. Die Wiener GmbH habe die Ansprüche nicht zu gewerblichen Zwecken an die Klägerin abgetreten. Die Klägerin sei daher als Geschädigte nach Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 anzusehen.
[11] Nachträglich ließ das Rekursgericht den Revisionsrekurs doch zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob der Sitz des Leasinggebers oder des Leasingnehmers für eine Direktklage des Geschädigten nach Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 ausschlaggebend sei.
[12] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Beklagten mit dem Antrag, die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
[13] Die Klägerin beantragt, den Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[14] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Frage der internationalen Zuständigkeit nach der EuGVVO 2012 bei Änderung der Umstände nach Klagseinbringung einer Klarstellung bedarf; er ist aber nicht berechtigt.
[15] Die Beklagte verweist erneut darauf, dass die Klägerin weder im Zeitpunkt des Unfalls noch in jenem der Klagseinbringung Eigentümerin des Klagsfahrzeugs gewesen sei. Zwar könne grundsätzlich auch der Leasingnehmer Geschädigter sein, diesen Schaden habe hier aber die Kft als Unterleasingnehmerin getragen. Durch den nachträglichen Erwerb des Fahrzeugs oder die Abtretung von Ansprüchen könne der Aktivgerichtsstand am Sitz der Klägerin nicht begründet werden, weil der Zeitpunkt der Klagseinbringung maßgeblich sei. Auch habe die Wiener GmbH nach der Reparatur mangels Schadens gar keine Schadenersatzansprüche abtreten können, sodass die Zession ins Leere gehe. Schließlich sei der konzerninterne Ausgleich zwischen der Klägerin und der Kft mangels rechtlicher Verpflichtung zur Schadloshaltung für den Aktivgerichtsstand irrelevant. Der Europäische Gerichtshof habe den Gerichtsstand bisher nur in Fällen bejaht, in denen der Zessionar aufgrund gesetzlicher Regelung zur Tragung des Schadens verpflichtet gewesen sei.
Hiezu wurde erwogen:
[16] 1. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist die Verweisung in (nunmehr) Art 13 Abs 2 auf (nunmehr) Art 11 Abs 1 lit b EuGVVO 2012 dahin auszulegen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Orts in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist (C-463/06, Odenbreit).
[17] Im vorliegenden Fall ist die grundsätzliche Zulässigkeit einer Direktklagegegen den beklagten Haftpflichtversicherer nach dem laut Art 9 Abs 1 iVm Art 3 HStVÜ anwendbaren tschechischen Recht (vgl 2 Ob 50/16s = RS0131242) nicht strittig. Zu prüfen ist daher, ob die Klägerin „Geschädigte“ iSd Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 ist.
[18] 2. Für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit sind in erster Linie die Angaben in der Klage maßgebend (RS0050455; RS0115860).
[19] 2.1. Sind die die Zuständigkeit begründenden Tatsachenbehauptungen zugleich Anspruchsvoraussetzungen („doppelrelevante Tatsachen“), so ist ihre Richtigkeit zu unterstellen; die Schlüssigkeit des Klagevorbringens reicht in diesem Fall grundsätzlich aus (8 Ob 31/19w; 8 Ob 45/19d mwN; RS0116404). Werden die Behauptungen des Klägers bestritten, ist zwar das Gericht im Stadium der Ermittlung der Zuständigkeit zur Durchführung eines Beweisverfahrens nicht verpflichtet; es hat aber alle vorliegenden Informationen zu würdigen, wozu gegebenenfalls auch die Einwände des Beklagten gehören (EuGH C-12/15, Universal Music, Rn 44 f; 8 Ob 45/19d; 5 Ob 220/19t mwN; RS0130596 [T1]).
[20] 2.2. Dieser Rechtsprechung liegt die Wertung zugrunde, dass die Zuständigkeitsprüfung nicht mit einer weitgehenden Sachprüfung belastet werden soll (4 Ob 124/07z SZ 2007/151; RS0116404). Das ist schon deshalb geboten, weil es möglich sein muss, die Zuständigkeit unabhängig von der erst im Verfahren selbst zu prüfenden Begründetheit zu bestimmen (6 Ob 128/18v). Daraus folgt, dass ein aus materiell-rechtlicher Sicht unvollständiges oder erörterungsbedürftiges Vorbringen für die Beurteilung der Zuständigkeit nicht schadet, sondern dass insofern ein Nachtragen im Verfahren über die Hauptsache möglich ist (8 Ob 45/19d). Entschiede man anders, könnte über die Zuständigkeit in rechtlich komplexen Fällen nur aufgrund einer umfassenden Anspruchsprüfung entschieden werden, die noch dazu im Regelfall – wegen der Bindung an das Klagevorbringen – aufgrund eines fiktiven Sachverhalts erfolgen müsste. Diese Rechtsfolge kann dem europäischen Gesetzgeber nicht unterstellt werden.
[21] 2.3. Daher darf im vorliegenden Fall die Frage, ob die Klägerin als „Geschädigte“ iSv Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 zu betrachten ist, nicht mit der Frage vermengt werden, ob ihr aufgrund der von ihr behaupteten Tatsachen und der im bisherigen Verfahren getroffenen Feststellungen nach dem anwendbaren tschechischen Deliktsrecht ein Anspruch gegen die Beklagte zusteht. Vielmehr muss ihre nicht von vornherein untaugliche Behauptung genügen, dass sie einen Schaden erlitten habe, für den die Beklagte aufgrund der bestehenden Haftpflichtversicherung einstehen müsse.
[22] 3. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
[23] 3.1. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass „Geschädigter“ iSd Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 grundsätzlich jede natürliche oder juristische Person sein kann, die entweder unmittelbar oder auch nur mittelbar einen Schaden erlitten hat, sofern ihr als typischerweise schwächerer Partei die besonderen Gerichtsstände in Versicherungssachen (Art 10 ff EuGVVO 2012) zur Verfügung stehen (C-347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse, Rn 25 ff und 40 ff; C-340/16, KABEG, Rn 28 und 34 f; vgl auch 2 Ob 93/15p; 2 Ob 149/17a; Pionte in Prölss/Martin, VVG31 [2021] Art 13 EuGVVO Rn 2; Paulus in Geimer/Schütze/Paulus, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen [61. ErgLfg Jänner 2021] Art 13 EuGVVO Rn 7).
[24] 3.2. Bei einem Verkehrsunfall ist also jede in obigem Sinn schutzbedürftige Person „Geschädigter“ iSd Art 13 Abs 2 EuGVVO, die behauptet, ein Recht auf Ersatz eines von einem versicherten Fahrzeug verursachten Schadens zu haben. Damit kommen bei einem Leasingfahrzeug sowohl Leasinggeber (OLG Frankfurt a. M. 16 U 224/13, NJW-RR 2014, 1339 = IPRax 2015, 115 [Mankowski]; Staudinger in Rauscher, EuZPR/EuIPR5 [2021] Art 13 Brüssel Ia-VO Rn 8; Gottwald in MüKoZPO5 [2017] Art 13 Brüssel Ia-VO Rn 2) als auch Leasingnehmer (OLG Köln 13 U 119/09, BeckRS 2010, 06797; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht4 [2020] Art 13 EuGVVO Rn 22) als Geschädigte für den Aktivgerichtsstand in Betracht.
[25] 3.3. Der vorliegende Fall ist zwar dadurch gekennzeichnet, dass die Klägerin selbst Leasingnehmerin war und das Fahrzeug an ein ungarisches Schwesterunternehmen weiterverleast hat. Sie behauptet jedoch, aufgrund der Risikoverteilung dieses Vertrags wirtschaftlich geschädigt zu sein, und sie hat den Schaden nach den Feststellungen auch tatsächlich getragen. Damit hat sie die nicht von vornherein untaugliche Behauptung aufgestellt, Geschädigte iSv Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 zu sein. Ob ihr Anspruch nach dem anwendbaren Recht tatsächlich besteht, ist im Verfahren über die Hauptsache zu klären.
[26] 4. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Anspruch der Klägerin nach dem anwendbaren Recht nur aus der Abtretung von Ansprüchen durch die Wiener GmbH als Hauptleasinggeberin ergeben könnte. Auch das ist aber eine Frage der Begründetheit. Zuständigkeitsrechtlich wäre auch eine solche Fallgestaltung von Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 gedeckt.
[27] 4.1. Zunächst ist festzuhalten, dass es für die Begründung der internationalen Zuständigkeit ausreicht, wenn die relevanten Umstände erst nach Verfahrenseinleitung eintreten oder sogar gezielt zur Sanierung einer allfälligen Unzuständigkeit geschaffen werden.
[28] 4.1.1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und der österreichischen Lehre bedeutet der Grundsatz der perpetuatio fori nicht, dass ein angerufenes unzuständiges Gericht jedenfalls unzuständig bleibt. Daher genügt es, wenn die fehlenden Zuständigkeitsmerkmale erst nach Verfahrenseinleitung eintreten, sofern dies noch vor Schluss der abgesonderten Verhandlung über die Unzuständigkeitseinrede oder sonst vor Schluss der Verhandlung erster Instanz geschieht (RS0039748 [T5, T7] zu prorogabler Unzuständigkeit; Scheuer in Fasching/Konecny3 § 29 JN Rz 2 konkret auch zur internationalen Zuständigkeit; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 29 JN Rz 1; Nademleinsky in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-Praxiskommentar § 29 JN Rz 1). Dass der Grundsatz der perpetuatio fori auch im Anwendungsbereich der EuGVVO gilt, haben Oberster Gerichtshof und Lehre zumindest schon im Zusammenhang mit dem späteren Wegfall von Zuständigkeitsmerkmalen bejaht (6 Nc 1/04f; Mayr aaO Rz 2; Nademleinsky aaO Rz 2).
[29] 4.1.2. Auch nach Ansicht des deutschen Bundesgerichtshofs reicht der nachträgliche Eintritt der Voraussetzungen für die Begründung der internationalen Zuständigkeit nach der EuGVVO aus. Nur bei einer solchen Sichtweise lasse sich die den Grundsätzen der Prozessökonomie widersprechende Folge vermeiden, dass sich das angerufene Gericht zunächst für unzuständig erklären müsste, der Kläger aber im Anschluss daran vor demselben Gericht angesichts des nunmehr in dessen Zuständigkeitsbereich wohnenden Beklagten sogleich ein neues Verfahren einleiten könnte (BGH XI ZR 48/10, FPR 2013, 55, Rn 13 ff – hier zum allgemeinen Gerichtsstand nach Art 2 Abs 1 EuGVVO 2001 mit zahlreichen Hinweisen auf die einhellige Lehre in Deutschland).
[30] 4.1.3. Es kann daher auch eine Direktklage nach Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 nicht zurückgewiesen werden, wenn die bei Klagseinbringung fehlenden Zuständigkeitsmerkmale noch vor Schluss der Verhandlung eingetreten sind.
[31] 4.2. Art 13 Abs 2 EuGVVO wäre hier auch dann anwendbar, wenn der Anspruch nach dem anwendbaren Recht nur auf eine rechtsgeschäftliche Zession gestützt werden könnte.
[32] 4.2.1. Der EuGH hatte sich bereits in mehreren Vorabentscheidungen mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Zession von Ansprüchen des unmittelbar Geschädigten dem Neugläubiger einen Aktivgerichtsstand nach Art 13 Abs 2 EuGVVO an seinem eigenen Sitz eröffnet.
[33] (a) In der Rechtssache C-347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse, waren die Schadenersatzansprüche der verletzten Lenkerin durch Legalzession aufdie klagende Sozialversicherungsträgerin übergegangen. Der EuGH verneinte einen Aktivgerichtsstand (damals noch nach der Vorgängerbestimmung Art 11 Abs 2 EuGVVO 2001). Er begründete dies damit, dass im Sinn der Vorhersehbarkeit Ausnahmen vom allgemeinen Beklagtengerichtsstand restriktiv auszulegen seien (Rn 36 ff). Die besonderen Zuständigkeiten in Versicherungssachen würden laut den Erwägungsgründen dem Schutz der schwächeren Partei dienen und dürften daher nicht auf nicht schutzbedürftige Personen ausgedehnt werden (Rn 40 f). Im vorliegenden Fall sei die Klägerin weder wirtschaftlich schwächer noch rechtlich weniger erfahren als die Beklagte, weil sich zwei gewerblich Tätige des Versicherungssektors gegenüberstünden (Rn 42). In einem obiter dictum stellte der EuGH aufgrund eines Einwands der spanischen Regierung klar, dass etwa einem Erben eines Verkehrsunfallopfers als Legalzessionar und zugleich schwächerer Partei sehr wohl der Aktivgerichtsstand zugute komme (Rn 44).
[34] (b) Für den zur Entgeltfortzahlung verpflichteten Dienstgeber des Verkehrsunfallopfers als Legalzessionar bejahte der EuGH in der Rechtssache C-340/16, KABEG den Aktivgerichtsstand nach Art 11 Abs 2 EuGVVO 2001. Der Dienstgeber sei Geschädigter und könne an seinem Sitz klagen (Rn 37). Dies gelte zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit unabhängig von der Größe und Rechtsform des Dienstgebers, hier einer Körperschaft öffentlichen Rechts (Rn 35). Der EuGH stellt bei der Prüfung der Schutzwürdigkeit also ganz klar auf eine schematische Betrachtung und nicht die wirtschaftliche oder rechtliche Potenz der konkreten Parteien ab (Tereszkiewicz, Begriff eines Geschädigten in Versicherungssachen nach Brüssel Ia-Verordnung, GPR 2018, 280; Nordmeier, Kein Klägergerichtsstand nach Brüssel Ia-VO gegen den Versicherer für den gewerblichen Rechtsnachfolger des Verkehrsunfallgeschädigten, NZV 2018, 566; Schnichels/Lenzing/Stein, Die Entwicklung des europäischen Zivilprozessrechts im Bereich der EuGVVO im Jahr 2018, EuZW 2019, 885).
[35] Damit folgte er im Ergebnis zwar dem Generalanwalt, der unter Berufung auf C-89/91, ShearsonLehman Hutton, zum Verbrauchergerichtsstand einen Aktivgerichtsstand für alle Neugläubiger befürwortet hatte, die nicht selbst im Versicherungssektor tätig sind (Schlussanträge GA Bobek vom zu C-340/16, KABEG, ECLI:EU:C:2017:396 Rn 70, 72). Der EuGH definierte den Kreis schutzwürdiger Neugläubiger jedoch nicht allgemeingültig (Staudinger in Rauscher, EuZPR/EuIPR5 [2021] Art 13 Brüssel Ia-VO Rn 19; Armbrüster, Die jüngere Entwicklung des europäischen Privatversicherungsrechts bis Mitte 2019 – Teil 2, EuZW 2019, 757).
[36] (c) In der jüngsten Entscheidung zu dieser Rechtsfrage verneinte der EuGH zwar den Aktivgerichtsstand für einen Neugläubiger nach rechtsgeschäftlicher Abtretung (C-106/17, Hofsoe, zu Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012). Er begründete das aber ausschließlich damit, dass die gewerbliche Tätigkeit des Neugläubigers in der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen Versicherungen bestehe, weswegen er nicht den besonderen Schutz des Aktivgerichtsstands für die schwächere Partei genieße (Rn 43, 47). Ein solcher besonderer Schutz sei in den Beziehungen zwischen Gewerbetreibenden des Versicherungssektors, von denen keiner als der gegenüber dem anderen Schwächere angesehen werden kann, nicht gerechtfertigt (Rn 42). Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger ein Kleingewerbe ausübe (Rn 45).
[37] Die Anwendung von Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 scheiterte daher nicht daran, dass der Kläger einen rechtsgeschäftlich abgetretenen Anspruch geltend machte; entscheidend war vielmehr die mangelnde (typische) Schutzbedürftigkeit.
[38] 4.2.2. Das Schrifttum sieht den Kreis schutzwürdiger Neugläubiger auch durch die beiden jüngsten EuGH-Entscheidungen zu Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 noch nicht eindeutig definiert (Staudinger in Rauscher, EuZPR/EuIPR5 Art 13 Brüssel Ia-VO Rn 21 ff; Staudinger/Papadopoulos, Zum Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten gem. Art 13 Abs 2 iVm Art 11 Abs 1 b EuGVVO, VersR 2018, 978; Riedmeyer, Internationale Zuständigkeit für Klagen bei Unfällen in der EU, r+s SH 4/2011, 91, 95; Nordmeier, Kein Klägergerichtsstand nach Brüssel Ia-VO gegen den Versicherer für den gewerblichen Rechtsnachfolger des Verkehrsunfallgeschädigten, NZV 2018, 566; Stadler/Krüger: EuGH-Rechtsprechung zur EuGVVO aus den Jahren 2017–2019, ZEuP 2020, 856; Piontek in Prölss/Martin, VVG31 Art 11 EuGVVO Rn 3).
[39] (a) Einigkeit besteht zwar darin, dass nicht jedem Neugläubiger ohne Weiteres ein Aktivgerichtsstand an seinem eigenen Sitz offen steht (für viele: zB Gottwald in MüKoZPO5 [2017] Art 13 Brüssel Ia-VO Rn 6; Schlosser in Schlosser/Hess, EuZPR4 [2015] Art 11 EuGVVO Rn 1). Es werden jedoch verschiedene Kriterien für die Schutzwürdigkeit herangezogen.
[40] (b) Zahlreiche Autoren verstehen die Entscheidung C-106/17, Hofsoe, als pauschale Absage hinsichtlich des forum actoris für alle gewerblich tätigen Zessionare. Damit sei etwa auch Kfz-Werkstätten, Gutachtern oder Mietwagenunternehmen als Neugläubigern eine Klage am Sitz des Alt- oder des Neugläubigers verwehrt. Abgesehen von den Fällen besonderer Schutzwürdigkeit hätten Neugläubiger nach einer Zession folglich am allgemeinen Gerichtsstand am Sitz des beklagten Haftpflichtversicherers oder am Ort des schädigenden Ereignisses zu prozessieren (Loacker, Die Haftpflichtversicherung vor dem EuGH: Überblick über jüngere Entwicklungen, VersR 2020, 1209; Riedmeyer/Bouwmann, EuGH-Rechtsprechung zur Unfallregulierung und zur KH-Richtlinie, DAR 2019, 541; Riedmeyer, Internationale Zuständigkeit für Klagen bei Unfällen in der EU, r+s SH 2011, 91; Staudinger/Papadopoulos, Zum Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten gem Art 13 Abs 2 iVm Art 11 Abs 1 b EuGVVO, VersR 2018, 978; Staudinger in Rauscher, EuZPR/EuIPR5 Art 13 Brüssel Ia-VO Rn 22; Staudinger in Buse/Staudinger, MüKoStVR III [2018] IZVR/IPR Rn 57).
[41] (c) Andere Autoren halten jeden Neugläubiger für schutzwürdig und daher zur Klage an seinem eigenen Wohnsitz befugt, der nicht selbst gewerbsmäßig im Versicherungssektor tätig ist (Paulus in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen Art 13 EuGVVO Rn 23 [61. EL Januar 2021]; Stadler in Musielak/Voit/Stadler, ZPO18 [2021], EuGVVO Art 13 Rn 2).
[42] (d) Als differenzierteres Abgrenzungskriterium wurde vorgeschlagen, dass es sich beim Neugläubiger nicht um einen „Vielprozessierer“ handeln dürfe. Nach dieser Ansicht sind neben Versicherungsunternehmen beispielsweise auch Inkassounternehmen und gewerbliche Schuldenbetreiber nicht schutzwürdig und müssen daher am Domizil des Beklagten oder am Ort des Schadensereignisses klagen (Tereszkiewicz, Begriff eines Geschädigten in Versicherungssachen nach Brüssel Ia-Verordnung, GPR 2018, 280; vgl auch Dörner, „One-shotter“ gegen „repeat player“ – Zum Verständnis der Art 13 II und 11 I b EuGVVO, IPRax 2018, 158; zustimmend: Stadler/Krüger: EuGH-Rechtsprechung zur EuGVVO aus den Jahren 2017–2019, ZEuP 2020, 856; idS offenbar auch Wagner, Aktuelle Entwicklungen in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, NJW 2018, 1793 und Saenger/Dörner, ZPO9 [2021] Art 13 EuGVVO Rn 4).
[43] 4.2.3. Diese Frage ist allerdings durch eine jüngst ergangene Entscheidung des EuGH weitgehend geklärt. Denn er hat zur Zulässigkeit von Gerichtsstandsklauseln unter Verweis auf C-106/17, Hofsoe, klargestellt, dass er bei der Beurteilung der Schutzbedürftigkeit iSd ErwGr 18 der EuGVVO 2012 nicht darauf abstellt, ob eine Partei überhaupt gewerblich tätig ist, sondern darauf, ob sie im Versicherungssektor gewerblich tätig ist (C-803/18, AAS Balta Rn 45 f; hier zur Auslegung von Art 15 Nr 5 und Art 16 Nr 5 EuGVVO; konkret bejahte er die Schutzwürdigkeit eines Unternehmens für Bewachungs- und Sicherheitsdienstleistungen und verneinte daher die Zulässigkeit von Gerichtsstandsklauseln). Dies ergibt sich im Übrigen schon aus der bereits zitierten Formulierung in Rn 42 von C-106/17, Hofsoe, wonach der besondere Schutz der versicherungsrechtlichen Regelungen (offenkundig: nur) dann nicht gerechtfertigt ist, wenn beide Parteien im (weit verstandenen) Versicherungssektor tätig sind.
[44] 4.2.4. Letzteres trifft zwar, wie sich aus C-106/17, Hofsoe, ergibt, für Unternehmen zu, die gewerbsmäßig ihnen abgetretene versicherungsrechtliche Ansprüche durchsetzen. Das ist hier aber nicht der Fall: Der Unternehmensgegenstand der Klägerin liegt weder im Versicherungssektor noch in einem Bereich, der ihr besondere Routine bei der gerichtlichen Geltendmachung von Versicherungsansprüchen verschafft, wie es etwa beim Inkassounternehmer Hofsoe der Fall war. Vielmehr diente eine Abtretung nur dazu, der Klägerin als wirtschaftlich Geschädigter – soweit das nach dem anwendbaren Recht erforderlich ist – auch den materiell-rechtlichen Ersatzanspruch zu verschaffen. Die Klägerin wäre daher – nach den im Schrifttum entwickelten Abgrenzungskriterien – auch bei materiell-rechtlicher Relevanz der Abtretung als schutzwürdig iSv ErwGr 18 der EuGVVO 2012 und der Rechtsprechung des EuGH anzusehen. An der Anwendbarkeit von Art 13 Abs 2 EuGVVO 2012 besteht damit kein Zweifel.
[45] 4.2.5. Dazu kommt im konkreten Fall, dass sowohl die Klägerin als auch die Altgläubigerin ihren Sitz in Österreich haben. Eine Vervielfachung von Gerichtsständen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten und damit eine Beeinträchtigung der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln der EuGVVO ist damit in diesem Fall ausgeschlossen.
[46] 5. Aus den angeführten Gründen ist die angefochtene Entscheidung zu bestätigen.
[47] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 Abs 1, § 50 ZPO.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2021:E133192 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
ZAAAF-68444