OGH 14.02.2024, 9Ob76/23a
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Dr. Hargassner, Mag. Korn und Dr. Stiefsohn in der Erwachsenenschutzsache des R*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Betroffenen, vertreten durch Dr. Tanja Sporrer LL.M., Rechtsanwältin in Volders, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom , GZ 54 R 121/23z-45, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom , GZ 1 P 104/21p-39,bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Text
Begründung:
[1] Mit rechtskräftigem Beschluss des Erstgerichts vom wurde der Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter für den Betroffenen bestellt. Der Wirkungsbereich der gerichtlichen Erwachsenenvertretung für den Betroffenen umfasst die Verwaltung des Einkommens und Verfügungen über Girokonten, die Verwaltung der Verbindlichkeiten, die Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern und die Vertretung bei Mobilfunkverträgen.
[2] Am beantragte der Erwachsenenvertreter, die gerichtliche Erwachsenenvertretung dahin einzuschränken, dass der Betroffene innerhalb des Wirkungsbereichs des Erwachsenenvertreters hinsichtlich des Betriebs und der Zulassungsverpflichtung eines Kraftfahrzeugs frei verfügen und sich verpflichten kann. Begründend wurde ausgeführt, dass der Betroffene für seine Mobilität auf ein Kraftfahrzeug angewiesen und befähigt sei, den damit zusammenhängenden Pflichten, wie Abschluss einer Haftpflichtversicherung, Beantragung des „Pickerls“ und Kauf einer Vignette nachzukommen. Die kraftfahrrechtlichen Angelegenheiten mögen daher aus dem Wirkungsbereich des Erwachsenenvertreters herausgenommen werden,
[3] Das Erstgericht wies diesen Antrag ohne Durchführung eines weiteren Beweisverfahrens ab. Aus dem jüngst im Rahmen des Bestellungsverfahrens eingeholten Gutachten des Sachverständigen ergebe sich, dass beim Betroffenen eine psychische Erkrankung in Form einer leichten Intelligenzminderung vorliege. Eine leichte Intelligenzminderung entspreche einem mentalen Alter von 9 bis unter 12 Jahren (IQ-Bereich von 50–69). Bei Erwachsenen mit leichter Intelligenzminderung seien abstraktes Denken, die Exekutivfunktionen (wie Planen, Entwicklung von Strategien, Prioritäten setzen und kognitive Flexibilität), das Kurzzeitgedächtnis sowie die funktionelle Verwendung von schulischen Fertigkeiten (wie Lesen, Umgang mit Geld) beeinträchtigt. Im Vergleich zu Gleichaltrigen lasse sich eine im Konkreten verhaftete Herangehensweise an Probleme und Lösungen erkennen. Das soziale Urteilen sei für das Alter unreif und die Person könne leicht von anderen beeinflusst werden (Leichtgläubigkeit). Im alltagspraktischen Bereich könnten Betroffene für sich selbst sorgen, benötigten aber einige Unterstützung bei komplexen Alltagsaufgaben im Vergleich zu Gleichaltrigen. Im Erwachsenenalter umfasse die Unterstützung üblicherweise das Einkaufen im Lebensmittelgeschäft, die Beförderung, die Organisation von Haushalt und Kindererziehung, nährstoffreiche Speisenzubereitung, Bankgeschäfte und den Umgang mit Geld. Weiters benötigten die Personen Unterstützung, um gesundheitsbezogene und rechtliche Entscheidungen treffen und einen erlernten Beruf kompetent durchführen zu können. Der Betroffene sei aufgrund seiner leichten Intelligenzminderung bei komplexeren Aufgaben auf umfassende Hilfe angewiesen.
[4] Bei den kraftfahrrechtlichen Pflichten des Zulassungsbesitzers, wie die wiederkehrende Begutachtung eines Kraftfahrzeugs (§ 57a Abs 1 KFG), die Winterreifenpflicht (§ 103 Abs 1 Z 2 lit e KFG), die Auskunftserteilung über den Lenker (§ 103 Abs 2 KFG) und die Anzeige der Verlegung des Hauptwohnsitzes (§ 42 Abs 1 KFG), handle es sich um durchaus komplexe Alltagsaufgaben. Da der Betroffene diese nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermöge, lägen die Voraussetzungen für die vom Erwachsenenvertreter begehrte Einschränkung der Erwachsenenvertretung nicht vor.
[5] Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Rekursgericht dem Rekurs des Betroffenen, vertreten durch den Erwachsenenvertreter, nicht Folge. Nach dem im Bestellungsverfahren eingeholten Gutachten stehe fest, dass der Betroffene bei komplexen Alltagsaufgaben eine Unterstützung benötige, wozu unter anderem auch „die Beförderung“ falle. Es bestünde kein Zweifel daran, dass die vom Erstgericht beispielhaft aufgezählten Pflichten eines Zulassungsbesitzers komplexe Alltagsaufgaben darstellten. Der ordentliche Revisionsrekurs wurde nicht zugelassen.
[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen mit dem Abänderungsantrag, den Wirkungsbereich der bestellten Erwachsenenvertretung hinsichtlich der Vertretung in Bezug auf die kraftfahrrechtlichen Angelegenheiten einzuschränken; in eventu werde ein Aufhebungsantrag gestellt. Begründend wird ausgeführt, dass mangels ausreichender Feststellungen nicht nachvollziehbar sei, weshalb er für die „Beförderung“ eine Unterstützung benötige, bewältige er doch alle Aufgaben im Zusammenhang mit den kraftfahrrechtlichen Pflichten eines Zulassungsbesitzers seit vielen Jahren unbeanstandet. Die Einholung eines Ergänzungsgutachtens sei daher unabdingbar.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[8] 1. Das zentrale Anliegen des Erwachsenenschutzrechts besteht darin, die Autonomie einer schutzberechtigten Person möglichst umfassend zu wahren und dementsprechend die Selbstbestimmung im größtmöglichen Umfang so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Dementsprechend soll die betroffene Person vorrangig durch die erforderliche Unterstützung selbst in die Lage versetzt werden, ihre Angelegenheiten zu besorgen und am Rechtsverkehr teilzunehmen. Daraus ist der Grundsatz der Subsidiarität der Erwachsenenvertretung abzuleiten; die Selbstbestimmung hat grundsätzlich Vorrang vor der Bestellung eines Erwachsenenvertreters (4 Ob 173/23d Rz 1).
[9] 2. Die gerichtliche Erwachsenenvertretung ist gemäß § 246 Abs 3 Z 3 Satz 1 1. HS ABGB idF 2. ErwSchG zu beenden, wenn die übertragene Angelegenheit erledigt ist (Fall 1) oder die Voraussetzungen für die Bestellung nach § 271 ABGB weggefallen sind (Fall 2). Betrifft dies nur einen Teil der Angelegenheiten, so ist der Wirkungsbereich insoweit einzuschränken (§ 246 Abs 3 Z 3 Satz 1 2. HS ABGB). Nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Erwachsenenvertretung hat die Selbstbestimmung immer Vorrang vor der Bestellung eines Erwachsenenvertreters (vgl 4 Ob 173/23d Rz 1 mwN) und die – vom Willen der vertretenen Person – unabhängige Stellvertretung ist daher auch nur solange und so weitgehend wie unbedingt nötig aufrecht zu erhalten (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP 26).
[10] 3. Ob und wann eine Angelegenheit, für die der gerichtliche Erwachsenenvertreter bestellt wurde, einzuschränken ist, hängt sehr von der Art der zu besorgenden Angelegenheit ab (8 Ob 6/19v Pkt 3.2. = RS0132520 [T1]).
[11] 4. Nach § 242 Abs 1 ABGB idF 2. ErwSchG wird die Handlungsfähigkeit einer vertretenen Person durch eine Erwachsenenvertretung grundsätzlich nicht eingeschränkt. Damit hat der Gesetzgeber bewusst die Bestellung eines Erwachsenenvertreters von der Frage des Wegfalls der Handlungsfähigkeit des Betroffenen entkoppelt (3 Ob 87/19v Pkt II.2.3). Für die Rechtswirksamkeit einer konkreten Rechtshandlung ist daher maßgebend, ob die betroffene Person im jeweiligen Einzelfall die erforderliche Handlungsfähigkeit aufweist (4 Ob 115/19v Pkt 2.; Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht³ Rz 149 ff).
[12] 5.1. Da eine aufrechte Vertretung nicht zur Einschränkung der Handlungs- und Geschäftsfähigkeit führt, gehen die kraftfahrrechtlichen Pflichten eines vertretenen Zulassungsbesitzers grundsätzlich nicht auf den gesetzlichen Vertreter (im Sinne des § 1034 ABGB) über. Die Geschäftsfähigkeit beruht gemäß § 865 Abs 1 Satz 2 ABGB auf der Entscheidungsfähigkeit (§ 24 Abs 2 ABGB) des volljährigen Zulassungsbesitzers und wird bei Volljährigen gesetzlich vermutet. Bei der im Einzelfall zu beurteilenden Entscheidungsfähigkeit ist vor allem auf die Fähigkeit abzustellen, die Pflichten als Zulassungsbesitzer dem Gesetz entsprechend erfüllen zu können (Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht3 Rz 817).
[13] 5.2. Ist ein vertretener Zulassungsbesitzer jedoch nicht entscheidungsfähig, muss sein gesetzlicher Vertreter die Pflichten als Zulassungsbesitzer (etwa Einhaltung der Frist für die Begutachtung, Winterreifenpflicht) erfüllen, wenn sein Wirkungsbereich zB folgende Angelegenheiten umfasst: Verwaltung des beweglichen Vermögens, Verwaltung des Fuhrparks, Erfüllung der Aufgaben als Zulassungsbesitzer (Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht3 Rz 817a).
[14] 6. Die Pflichten des Zulassungsbesitzers eines Kraftfahrzeugs oder Anhängers sind in § 103 KFG geregelt. Diese Bestimmung ordnet ua an, dass der Zulassungsbesitzer dafür zu sorgen hat, dass das Fahrzeug den Vorschriften des KFG entspricht, dass für Fahrten das Verbandszeug, eine Warneinrichtung, während des Zeitraums vom 1. November bis 15. April die erforderlichen Winterreifen und Schneeketten bereitgestellt sind, weiters dass der Zulassungsbesitzer das Lenken seines Kraftfahrzeugs nur Personen überlässt, die über die erforderliche Lenkerberechtigung verfügen (Abs 1), er der Behörde die erforderlichen Lenkerauskünfte erteilt (Abs 2) und ihr auf Verlangen die einschlägigen Statistiken und Evidenzen zur Verfügung stellt (Abs 7).
[15] 7. Von den in § 103 KFG aufgezählten Angelegenheiten fällt im vorliegenden Fall jedenfalls die Verpflichtung zur Erteilung von Lenkerauskünften in den Wirkungsbereich des Erwachsenenvertreters („Vertretung vor Gerichten und Behörden“); die anderen Verpflichtungen insoweit, als sie mit finanziellem Folgen bzw Aufwand verbunden sind („Verwaltung des Einkommens und Verfügungen über Girokonten“). Der Wirkungskreis des Erwachsenenvertreters umfasst somit ua auch die Veranlassung nötiger Reparaturen und Überprüfungen sowie den Abschluss eines Versicherungsvertrags (vgl 10 Ob 12/13g Pkt 2.2.).
[16] 8. Die im KFG und in den aufgrund des KFG erlassenen Verordnungen dem Zulassungsbesitzer auferlegten Pflichten haben zu erfüllen, wenn a) der Zulassungsbesitzer geschäftsunfähig oder beschränkt geschäftsfähig ist, sein gesetzlicher Vertreter; dies gilt jedoch nicht hinsichtlich von Fahrzeugen, zu deren Lenken der Zulassungsbesitzer das vorgeschriebene Mindestalter erreicht hat, sofern seine Geschäftsfähigkeit nicht auch aus anderen Gründen beschränkt ist (§ 103 Abs 9 lit a KFG). Noch zur alten Rechtslage (vor dem 2. ErwSchG) wurde ausgesprochen, dass die Begriffe „geschäftsunfähig“ bzw „beschränkt geschäftsfähig“ nicht – in pauschaler Weise – alle unter Sachwalterschaft stehenden Betroffenen mit einschließen, sondern nur jene, die nicht in der Lage sind, den in § 103 KFG genannten Verpflichtungen eines Zulassungsbesitzers nachzukommen (10 Ob 12/13g Pkt 4.3.). Umgelegt auf die neue Rechtslage (§ 242 Abs 1 ABGB idF 2. ErwSchG) bedeutet dies, dass für die Rechtswirksamkeit einer konkreten Rechtshandlung maßgebend ist, ob die betroffene Person im jeweiligen Einzelfall die erforderliche Handlungsfähigkeit aufweist.
[17] 9.1. Mit dem Antrag, die Erwachsenenvertretung dahin einzuschränken, dass der Betroffene innerhalb des Wirkungsbereichs des Erwachsenenvertreters hinsichtlich des Betriebs und der Zulassungsverpflichtung eines Kraftfahrzeugs frei verfügen und sich verpflichten kann, will der Erwachsenenvertreter erreichen, dass die den Betrieb und die Zulassungsverpflichtung des Fahrzeugs betreffenden Angelegenheiten aus dem ihN übertragenen Wirkungskreis „Vertretung vor Gerichten und Behörden“ und „Verwaltung des Einkommens und Verfügungen über Girokonten“ ausscheiden.
[18] 9.2. Ob im vorliegenden Fall der Betroffene die erforderliche Handlungsfähigkeit aufweist, die in den Wirkungsbereich des Erwachsenenvertreters fallenden kraftfahrrechtlichen Angelegenheiten zu verrichten, kann mangels konkreter Feststellungen nicht abschließend beantwortet werden. Die – im Übrigen ohne Bezugnahme auf den tatsächlichen Wirkungsbereich des Erwachsenenvertreters und auf § 103 Abs 9 lit a KFG – erfolgte Antragsabweisung, mit der bloßen Begründung, der Betroffene benötige – so das im Bestellungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten – bei komplexen Alltagsaufgaben Unterstützung, wozu auch die „Beförderung“ falle, bildet keine geeignete aktuelle Sachverhaltsgrundlage. Was mit „Beförderung“ gemeint ist, bleibt unklar. Ebenso, wie sich die beim Betroffenen vorliegende Intelligenzminderung im Bezug auf die im Zusammenhang mit dem Betrieb des Kraftfahrzeugs fallenden Angelegenheiten auswirkt. Zum Vorbringen des Betroffenen, er sei in der Lage, seinen kraftfahrrechtlichen Pflichten als Zulassungsbesitzer nachzukommen und alle im Zusammenhang mit dem Betrieb des Kraftfahrzeugs fallenden Angelegenheiten selbständig wahrzunehmen, setzten sich die Vorinstanzen nicht auseinander.
[19] Da sich das Verfahren damit im Sinne des § 128 AußStrG ergänzungsbedürftig erweist, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2024:0090OB00076.23A.0214.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
MAAAF-67702