OGH 23.11.2023, 9Ob40/23g
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner, Mag. Korn, MMag. Sloboda und Dr. Thunhart in der Pflegschaftssache des mj J*, geboren * 2016, wohnhaft im Haushalt seiner Mutter S*, diese vertreten durch Mag. Thomas Kaumberger, Rechtsanwalt in Pressbaum, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom , GZ 16 R 109/23b-496, mit welchem der Beschluss des Bezirksgerichts Baden vom , GZ 10 Ps 282/16t-487, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die in Ansehung der Entziehung der Obsorge des Vaters (Teil des Spruchpunkts 1. des erstgerichtlichen Beschlusses) und der Entscheidung über das Kontaktrecht (Spruchpunkt 2. des erstgerichtlichen Beschlusses) sowie der Zurückweisung des Rekurses der Mutter durch das Rekursgericht, soweit er sich gegen Spruchpunkt 3. des erstgerichtlichen Beschlusses richtete, als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Umfang der Entziehung der Obsorge der Mutter im Bereich der gesamten Pflege und Erziehung samt gesetzlicher Vertretung in diesen Bereichen für den mj J*, geboren * 2016 und der Übertragung auf den Kinder- und Jugendhilfeträger, Magistrat E*, aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
[1] Der 6-jährige J* ist das Kind von S* und J*, die die gemeinsame Obsorge für den Minderjährigen vereinbart haben.
[2] Seit der Trennung der Eltern im Juni 2019 lebt J* bei seiner Mutter. In der Folge fanden vereinzelte Kontakte von J* zu seinem Vater im Beisein der Mutter und Nachbarn statt. Nach Durchführung eines Clearings bei der Familiengerichtshilfe fanden von bis begleitete Kontakte statt.
[3] Mit Beschluss des Erstgerichts vom wurde vorläufig eine stufenweise Erweiterung der Kontakte bis hin zu begleiteten Übergaben durch die Familiengerichtshilfe wöchentlich im Ausmaß von je vier Stunden festgelegt. Sowohl dem Vater als auch der Mutter wurde die Absolvierung einer Erziehungsberatung aufgetragen. Bereits ab dem Zeitpunkt des ersten angeordneten Kontakts im Rahmen einer begleiteten Übergabe () verweigerte die Mutter die Umsetzung des Beschlusses. Aufgrund der Weigerung der Mutter, dieses (unbegleitete) Kontaktrecht mit begleiteten Übergaben einzuhalten, wurden bereits insgesamt sechs Ordnungsstrafen über sie verhängt.
[4] Von bis fanden begleitete Besuchskontakte statt.
[5] Mit Beschluss vom sprach das Erstgericht aus, dass die Obsorge beider Elternteile aufrecht bleibt und legte ein – konkret ausgestaltetes – Kontaktrecht des Vaters fest, und zwar zunächst in begleiteter Form im Kinderschutzzentrum E* und danach in begleiteter Form im Haushalt des Vaters, wobei ein kontinuierlicher Rückzug der Besuchsbegleiterin aus dem Kontakt stattfinden sollte; dies in der Folge im Rahmen einer begleiteten Übergabe zunächst für einige Stunden und danach 14-tägig mit einer Übernachtung.
[6] Darüber hinaus stellte das Erstgericht zusammengefasst folgenden Sachverhalt fest:
[7] Seit August 2021 ist bei der Mutter eine Unterstützung der Erziehung in Form einer Familienintensivbetreuung mit dem Ziel installiert, die Gründe, warum die Mutter unbegleitete Kontakte von J* zum Vater verweigert, aufzuarbeiten, damit Kontakte zwischen Sohn und Vater regelmäßig stattfinden können. Die Unterstützungsmaßnahmen werden von der Mutter zwar grundsätzlich angenommen, erfolgreich umgesetzt werden konnten sie bislang aber nicht. Die Mutter ist nach wie vor der Meinung, dass die Ablehnung des Kindes alleine auf den Vater zurückzuführen sei und auf längere Zeit Maßnahmen zur Verbesserung dessen psychischer Gesundheit (zB Männerberatung, Erziehungsberatung) erforderlich seien, um unbegleitete Kontakte in Betracht ziehen zu können. Trotz wiederholter Versuche war es den involvierten Institutionen und beigezogenen Fachkräften nicht möglich, bei der Mutter die notwendige Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft zu bewirken. Angeordnete Besuchskontakte konnten daher in der Folge nicht stattfinden.
[8] Die Mutter und J* teilen den Alltag miteinander und haben dadurch eine wesentlich engere (zeitliche und räumliche) Bindung zueinander als der Vater und J*. Die Mutter übt daher auch den größeren emotionalen Einfluss auf ihren Sohn aus. Ihre Erziehungshaltungen wiegen derzeit gewichtiger als jene des Vaters. Die Mutter-Kind-Beziehung ist positiv und die Mutter zeigt große Bemühungen um ihr Kind. Dennoch besteht ein passiver Beziehungskonflikt, der sich im Interventionsbereich befindet. Mangels möglicher Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil kann bei J* keine gesunde Selbstwert-, Beziehungs- und Geschlechts-identitätsentwicklung erfolgen. Bei fortgesetztem mangelndem Kontakt zum Vater nimmt man J* die Chance auf eine gesunde Persönlichkeits-, Männlichkeits- und Geschlechtsentwicklung. Die Mutter sieht den Schutz von J* vor dem Vater als entwicklungspsychologisch vorrangiger an als die Autonomie und die Intensivierung der Vater-Sohn-Kontakte. Die Mutter kann eine (emotionale) Trennung von J* kaum vollziehen. Das bei der Mutter nicht korrigierbare Bild eines „bedrohlichen Vaters“ wird auf J* übertragen und in seine Persönlichkeit integriert, auch dann, wenn die Mutter positiv über den Vater spricht. Die Ablehnung und Dämonisierung des Vaters wird für J* zum Bestandteil des eigenen Selbstbildes und des eigenen Männlichkeitsbildes. Unter diesen Bedingungen erlebt sich das Kind selbst als bedrohlich und nicht liebenswert. Nur ein wieder positiv besetztes inneres Bild des Kindes vom Vater kann hier korrigierend wirken. Da es diesbezüglich aber kein Bemühen der Mutter oder deren Familie gibt, wird dadurch eine Entwicklungsschädigung des Kindes in Kauf genommen.
[9] Beim Vater liegt eine eingeschränkte Empathiefähigkeit in Bezug auf die Mutter vor. Er verfügt aber über die grundsätzliche Fähigkeit, feinfühlig und bedürfnisorientiert mit J* zu interagieren. Die Bedingungen im Haushalt des Vaters sind aktuell positiv und entwicklungsförderlich. Eine Übersiedlung des Kindes zum Vater wäre aber dennoch mit enormen Risiken behaftet und könnte unter Umständen zu einem schweren Trauma des Kindes führen.
[10] J* befindet sich aktuell in einer psychologischen Betreuung. Der Kinder- und Jugendhilfeträger befürwortet jedoch einen neutralen, weder von der Mutter noch vom Vater bestimmten Therapieplatz.
[11] J* verweigert nunmehr gänzlich den Kontakt zum Vater ohne das Vorhandensein eines aktuellen erlebnisbasierten Vorfalls. Die Ablehnung der Mutter gegenüber dem Vater und der bei der Mutter dadurch hervorgerufene Stress übertragen sich auf den Sohn. Es besteht bei ihm ein irrationaler Angst- und Stresszustand. Der letzte persönliche Kontakt zwischen J* und seinem Vater fand am statt. Auch die mit Beschluss vom angeordneten wöchentlichen Videotelefonate fanden nicht regelmäßig statt. Die Angst von J* hat sich mittlerweile in irrationaler Art auf die Person der Besuchsbegleiterin, die bislang eine Vertrauensperson für ihn darstellte, ausgeweitet.
[12] Wenn sich das unmittelbare Umfeld des Kindes nicht entsprechend ändert, wird eine Therapie erfolgsgering bleiben. Eine mögliche Anpassung an derartige Mangelerfahrungen im familiären Umfeld kann durch die Nichterfüllung zentraler Entwicklungsbedürfnisse zu schweren innerpsychischen Schäden führen. Anfänge psychischer Problematiken sind bei J* bereits erkennbar.
[13] Eine Aufrechterhaltung von Kontakten des Kindes zum Vater bei einem Verbleib des Kindes in der Obhut der Mutter führt derzeit zu einer Aufrechterhaltung eines besorgniserregenden emotionalen Stresszustands bei J*, dies bedingt durch die diesbezüglichen Erziehungsdefizite bei der Mutter. Da die Mutter selbst keine entwicklungsfördernden Bedingungen für J* schafft, die seine irrationalen Ängste minimieren, ist der Stresszustand des Kindes nur dadurch zu senken, dass die von der Mutter und J* angstbesetzten Vaterkontakte derzeit entfallen.
[14] Am beantragte der Kinder- und Jugendhilfeträger die „Einleitung von Phase 2“ laut Gutachten der Sachverständigen Mag. P* vom (Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger). Begründend wurde ausgeführt, dass die bislang installierten Maßnahmen zur Annäherung des Kindes an den Vater großteils gescheitert seien und vom involvierten Helfersystem vermehrt eine starke und unnatürliche Entfremdung des Kindes zum Vater beobachtet werde. Es sei davon auszugehen, dass die Mutter dem Kind auch jene Hilfen und Unterstützungsmöglichkeiten verwehre, die dem Kindeswohl und somit der Aufarbeitung der Vaterthematik förderlich seien. Die derzeit dem Kind gewährte psychologische Unterstützung, insbesondere in Anwesenheit der Mutter, sei in keiner Weise zielführend.
[15] Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus. J* lehne den Vater wegen dessen mangelnder Empathie ab. Er sei besorgt, der Vater werde ihn abholen und der Mutter wegnehmen. Sie sei stets bemüht, positiv auf ihren Sohn einzuwirken. J* fühle sich einem Druck ausgesetzt, den er nicht länger ertragen könne. Tatsächlich zeige sich, dass J* nunmehr bereits ruhiger geworden sei, weil die wöchentliche Belastung mit der Familienintensivbetreuung und Kontaktanbahnungen nicht mehr für ihn auszuhalten gewesen sei. Eine Obsorgeübertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger sei völlig sinnlos und stelle jedenfalls nur eine Schikane ihr gegenüber dar. Sie habe sich bisher immer sehr kooperativ und kommunikativ verhalten. J* werde von ihr bestens gepflegt und Notfallinterventionen seien mit Sicherheit nicht notwendig. J* sei weder aggressiv noch depressiv, sondern habe sich sozial und sprachlich sehr gut entwickelt.
[16] Der Vater sprach sich (nur) gegen eine Aussetzung der Kontakte aus, weil sein Sohn für eine gesunde Entwicklung beide Elternteile benötige.
[17] Mit dem angefochtenen Beschluss entzog das Erstgericht den Eltern die Obsorge für den minderjährigen J* im Bereich der gesamten Pflege und Erziehung samt gesetzlicher Vertretung in diesen Bereichen und übertrug diese dem Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat E*) zur Gänze (Spruchpunkt 1.) Es setzte das Kontaktrecht des Vaters zum Minderjährigen aus und ermächtigte diesen, in wöchentlichen Abständen Videobotschaften an J* zu übermitteln, wobei die konkrete diesbezügliche Ausgestaltung dem Kinder- und Jugendhilfeträger obliegt. Es trug der Mutter auf, dem Vater im Abstand von zwei Monaten Fotos und einen kurzen Situations- und Entwicklungsbericht betreffend J* (relevante Informationen, wie zB über Freizeitaktivitäten, Befinden im Kindergarten bzw in weiterer Folge Schule etc) zu übermitteln (Spruchpunkt 2.). Diesem Beschluss erkannte es vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu (Spruchpunkt 3.).
[18] Seine Entscheidung begründete es unter Bezugnahme auf § 181 Abs 1 ABGB damit, dass es der Mutter zwar gelinge, eine ausreichende Grundversorgung zu gewährleisten, sie es jedoch nicht schaffe, entlastende Maßnahmen für J* zu setzen und dadurch eine Annäherung des Kindes an den Vater zu ermöglichen. Es widerspreche dem Kindeswohl, wenn die Mutter es zulasse, dass sich J* zunehmend vom Vater abwende. Die Beibehaltung der aktuellen Obsorgesituation würde das Verhalten der Mutter bestätigen und ihr wenig Anlass geben, zur Verbesserung der Beziehung zwischen Sohn und Vater beizutragen. Es bedürfe jedenfalls einer entsprechenden Entscheidungskompetenz des Kinder- und Jugendhilfeträgers, unter anderem, was die konkrete Ausgestaltung der notwendigen therapeutischen Maßnahmen als auch die Abwicklung und Ausgestaltung der von der Sachverständigen empfohlenen Übermittlung von Videobotschaften des Vaters an J* anlange. Insbesondere sei der von der Mutter an den Therapeuten erteilte Therapieauftrag sowie die Auswahl des Therapeuten einer Prüfung zu unterziehen und die notwendigen diesbezüglichen Schritte zu setzen. Weiters erscheine fraglich, ob langfristig die Anwesenheit der Mutter bei den Therapieeinheiten von J* dem notwendigen Therapieziel, nämlich J* einen positiven Zugang zum Vater zu ermöglichen, förderlich sei.
[19] Mit dem in seinen Spruchpunkten 1. und 3. angefochtenen Beschluss wies das Rekursgericht den Rekurs der Mutter gegen Spruchpunkt 3. zurück und gab dem Rekurs im Übrigen nicht Folge. Es teilte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts hinsichtlich der Übertragung der Obsorge des Kindes an den Kinder- und Jugendhilfeträger bei Beibehaltung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts von J* im Haushalt der Mutter. Richtig sei zwar, dass die Mutter die Hauptbezugsperson für J* sei, eine gute Grundversorgung für ihren Sohn gewährleiste und eine Übersiedlung des Kindes in den Haushalt des Vaters derzeit mit dem hohen Risiko eines schweren Trennungstraumas behaftet wäre. Die Übertragung der Obsorge auf den Kinder- und Jugendhilfeträger sei aber notwendig, weil die Mutter ihr nicht korrigierbares bedrohliches Bild vom Vater auf J* übertrage und dies zu einer erheblichen Schädigung dessen Entwicklung führe. Der Mutter gelinge es nicht, entwicklungsfördernde Bedingungen für J* zu schaffen und entlastende Maßnahmen zu setzen, die seine irrationalen Ängste minimierten. Dass die bisherige psychologische Therapie keinen Erfolg gebracht habe, zeige sich bereits darin, dass sich die irrationale Angst des Kindes in den letzten Monaten immer mehr verstärkt habe, sodass dieses nunmehr jeglichen Kontakt zum Vater ablehne. Die Beibehaltung der derzeitigen Obsorgeregelung entspreche daher nicht mehr dem Kindeswohl. Dem Kinder- und Jugendhilfeträger solle mit der Übertragung der Obsorge eine Entscheidungskompetenz in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der notwendigen therapeutischen Maßnahmen zukommen, um den Therapieauftrag sowie die Auswahl des Therapeuten einer Prüfung unterziehen und die notwendigen diesbezüglichen Schritte setzen zu können.
[20] Der ordentliche Revisionsrekurs wurde mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zugelassen.
[21] Der Vater erhob gegen diesen Beschluss kein Rechtsmittel.
[22] Mit ihrem dagegen gerichteten außerordentlichen Revisionsrekurs bekämpft die Mutter die Entziehung der Obsorge über ihren Sohn J* und deren Übertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger.
[23] Der Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat E*) strebt in seiner vom Senat freigestellten Revisionsrekursbeantwortung die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung an.
Rechtliche Beurteilung
[24] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[25] 1. Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und dem Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete sichernde oder unterstützende Maßnahmen treffen. Durch eine Verfügung nach § 181 ABGB darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes erforderlich ist (§ 182 ABGB). Eine Änderung der Obsorgeverhältnisse ist nur als ultima ratio unter Anlegung eines strengen Maßstabs zulässig und sie darf nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (1 Ob 151/22w Rz 1; vgl RS0048712; RS0048699; RS0047841). Zuvor hat das Gericht daher alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können (RS0132193). Denn nur, wenn bei einer im Interesse des Kindes gebotenen Beschränkung der Obsorge die jeweils gelindesten Mittel angewandt werden, wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt (RS0132193 [T4]; vgl RS0048736 [T3]).
[26] 2. Bei einer Obsorgeentscheidung handelt es sich um eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung (RS0048632 [T8]). Diese kann zum einen nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlage beruht (RS0106312), zum anderen setzt ein Obsorgewechsel eine Zukunftsprognose über seinen Einfluss auf das Kind voraus (RS0048632). Ein Obsorgewechsel hat zu unterbleiben, wenn keine sichere Prognose über dessen Einfluss auf das Kind vorliegt (RS0048632 [T2, T3, T6]). Er ist nur dann vorzunehmen, wenn besondere Umstände dafür sprechen, dass die durch die Persönlichkeit, den Charakter, die pädagogischen Fähigkeiten und die wirtschaftlichen Verhältnisse des in Erwägung gezogenen neuen Pflegeberechtigten und Erziehungsberechtigten den Pflegebefohlenen eröffneten Möglichkeiten aller Voraussicht nach zu einer beachtlichen Verbesserung ihrer Lage und Zukunftserwartungen führen werden (RS0047903 [T8]).
[27] 3. Im vorliegenden Fall ist die Erziehungsfähigkeit der Mutter insofern eingeschränkt, als sie ihr Bild eines „bedrohlichen Vaters“ auf ihren Sohn J* überträgt und ihm damit die Chance auf eine gesunde Persönlichkeits-, Männlichkeits- und Geschlechtsentwicklung nimmt. Der Mutter gelingt es nicht, entwicklungsfördernde Bedingungen für J* zu schaffen und entlastende Maßnahmen zu setzen, die seine irrationalen Ängste minimieren. Die bisherigen – von der Mutter initiierten – Therapien erbrachten keinen Erfolg.
[28] 4. Für den Senat ist zwar aufgrund des festgestellten Sachverhalts nachvollziehbar, dassdem Kinder- und Jugendhilfeträger die Entscheidungskompetenz in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der notwendigen therapeutischen Maßnahmen zukommen soll, um in die Lage versetzt zu werden, den Therapieauftrag sowie die Auswahl des Therapeuten für J* einer Prüfung zu unterziehen und die notwendigen diesbezüglichen Schritte zu setzen. Nachvollziehbar ist auch die – mit Unterstützung des Kinder- und Jugendhilfeträgers – Übermittlung von Videobotschaften an den Vater. All diese Maßnahmen verfolgen ja das Ziel, das (derzeit ausgesetzte) Kontaktrecht zum Vater wiederherzustellen, und damit J* zu einer kindgerechten Entwicklung zu verhelfen.
[29] 5. Die Mutter hat sich – trotz Verhängung von Geldstrafen – nicht gesetzeskonform verhalten, weil sie von sich aus nicht alles ihr Zumutbare unternommen hat, um in aktiver Weise dem Vater den persönlichen Verkehr mit dem Kind (selbst gegen dessen Willen) zu ermöglichen, sondern hat das Kind negativ gegen den Vater beeinflusst und durch ihr Verhalten in der Vergangenheit die Ausübung des Kontaktrechts durch den Vater nahezu verunmöglicht. Nicht verständlich ist jedoch, weshalb ihr die Obsorge über ihr Kind im Bereich der Pflege und Erziehung samt gesetzlicher Vertretung entzogen und zur Gänze dem Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen werden soll. Der festgestellte Sachverhalt lässt weder erkennen, weshalb die Entziehung der Obsorge (bei Beibehaltung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts von J* in ihrem Haushalt!) dem Kindeswohl dient (Zukunftsprognose), noch ob allfällige gelindere Mittel ausreichen, um die derzeit dem Kindeswohl widersprechenden Umstände einer Änderung zuzuführen. Dabei kommen etwa weitere – allenfalls andersartige – Unterstützungsmaßnahmen nach § 31 Bgld KJHG in Betracht oder allenfalls die Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung in Angelegenheiten des Kontaktrechts und der notwendigen Psychotherapie für das Kind (vgl 2 Ob 136/18s betreffend schulische Angelegenheiten).
[30] 6. Im Übrigen wird zu prüfen sein, ob nicht andere nahestehende Personen oder sonst besonders geeignete Personen mit der (Teil-)Obsorge zu betrauen sind, weil der Kinder- und Jugendhilfeträger gemäß § 213 ABGB insofern nur subsidiär in Frage kommt (vgl RS0123509).
[31] 7. Da der festgestellte Sachverhalt nicht ausreicht, um der Mutter endgültig die Obsorge über J* im Bereich der Pflege und Erziehung samt gesetzlicher Vertretung in diesen Bereichen zu entziehen und zur Gänze dem Kinder- und Jugendhilfeträger zu übertragen, erweist sich das Verfahren insofern als ergänzungsbedürftig.
[32] In Stattgebung des Revisionsrekurses der Mutter waren die Entscheidungen der Vorinstanzen daher aufzuheben.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2023:0090OB00040.23G.1123.000 |
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Fundstelle(n):
DAAAF-67676