OGH 22.03.2023, 7Ob46/23z
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. L* J*, geboren * 2008, 2. S* J*, geboren * 2010, und 3. F* J*, geboren * 2017, *, Mutter: I* V*, MSc, *, vertreten durch Mag. Isabella Jorthan, Rechtsanwältin in Wien, Vater: F* J*, BSc, *, vertreten durch Mag. Jakob Weinrich, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 62/23b-353, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1. Die Mutter bekämpft nicht die Abweisung ihres Antrags, sie erneut (zusammen mit dem Vater) mit der Obsorge für den älteren Sohn L* zu betrauen.
[2] 2. Entziehung der (Mit-)Obsorge der Mutter für die Tochter S* und den jüngeren Sohn F* und Betrauung des Vaters mit der alleinigen Obsorge:
[3] 2.1. Ist die Obsorge endgültig geregelt, kann nach § 180 Abs 3 ABGB ein Elternteil bei Gericht eine Neuregelung der Obsorge beantragen, wenn sich die Verhältnisse maßgeblich geändert haben. Die nachträgliche Änderung einer bestehenden Obsorgeregelung setzt zwar keine Gefährdung des Kindeswohls voraus, es muss aber eine gewichtige Veränderung der für die Obsorgeentscheidung relevanten Umstände eingetreten sein, die eine Neuregelung der Obsorge geboten erscheinen lassen (1 Ob 138/20f mwN). Entscheidungen über die Obsorge sind stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu treffen, es kommt ihnen daher typischerweise keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zu, sofern nicht tragende Grundsätze oder das Kindeswohl verletzt wurden (vgl RS0007101; RS0115719). Dass das hier der Fall gewesen wäre, zeigt die Revisionsrekurswerberin nicht auf.
[4] 2.2. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Elternteile setzt nach ständiger Rechtsprechung (RS0128812) ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist notwendig, dass Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen besprochen werden, die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend beurteilt werden und sich die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile nicht regelmäßig widersprechen (5 Ob 3/23m mwN). Zu beurteilen ist daher, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RS0128812).
[5] Die nach diesen Grundsätzen gebotene Beurteilung, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit zu erwarten ist, kann ebenfalls nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen und wirft im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf (RS0128812 [T5, T15, T19]). Eine ausnahmsweise zur Wahrung des Kindeswohls aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts zeigt die Revisionsrekurswerberin nicht auf.
[6] 2.3. Der elterliche Konflikt dauert seit zweieinhalb Jahren an. Auch die räumliche Trennung hat nicht zu einer Beruhigung geführt. Zwischen den Eltern fehlt die Kommunikationsbasis bzw sie ist kaum vorhanden. Die hoch konflikthafte Beziehung der Eltern hat die Tochter in einen Loyalitätskonflikt gestürzt und dazu geführt, dass sie dem jeweiligen Elternteil das von diesem Gewünschte vermittelt. So hat die Tochter beispielsweise die Mitteilung, dass sie die Hälfte der Zeit bei ihrer Mutter verbringen möchte, nur deshalb verfasst, weil dies die Mutter so wollte. Seit dem vorangegangenen Beschluss des Erstgerichts, mit dem dieses die gemeinsame Obsorge der Eltern bei hauptsächlicher Betreuung der beiden Minderjährigen im Haushalt des Vaters aufrecht erhielt, hat sich die Situation in keiner Weise beruhigt. Die Situation hat sich insoweit verschlechtert, als nunmehr in Kauf genommen wird, dass den Kindern wegen der bloßen Klärung der Frage der Kontakte Polizeieinsätze zugemutet werden. Die Beamten stellten bei diesen Einsätzen bereits eine „emotionale Instabilität“ der Tochter fest.
[7] Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass vor dem Hintergrund des mehr als zweieinhalb Jahre anhaltenden elterlichen Konflikts, der – in Anwesenheit der Kinder – in mehreren Polizeieinsätzen gegipfelt habe, nunmehr nicht mehr davon gesprochen werden könne, dass eine Verbesserung der Gesprächssituation und die Herstellung einer ausreichenden Kommunikation erwartet werden könne, sodass die gemeinsame Obsorge aufzuheben und infolge des (bestehenden) hauptsächlichen Aufenthalts der Kinder bei ihrem Vater dieser mit der alleinigen Obsorge zu betrauen ist, ist nicht korrekturbedürftig. Abgesehen davon, dass die Mutter die Therapie, die sie macht, im Revisionsrekurs nicht nennt und im erstinstanzlichen Verfahren angab, sich aufgrund ihrer Einkommenssituation eine Elternberatung nicht leisten zu können, zeigt sie auch nicht auf, welche konkrete Maßnahme nach § 107 Abs 3 AußStrG geeignet sein könnte, eine Verbesserung der Gesprächssituation herbeizuführen und eine ausreichende Kommunikationsbasis herzustellen. Mit ihren Ausführungen zur fehlenden Information des Vaters über den künftigen Volksschulbesuch des Sohnes im Herbst 2023 zeigt exemplarisch die fehlende Kommunikation zwischen den Eltern auf. Eine Kindeswohlgefährdung durch die Verletzung dieser Informationspflicht des Vaters vermag sie nicht darzulegen.
[8] Soweit sie auf weitere – nicht aktenkundige – Verletzungen der Informationspflicht des Vaters betreffend die Tochter Bezug nimmt, steht diesen Behauptungen das Neuerungsverbot entgegen (§ 66 Abs 2 AußStrG).
[9] 2.4. Als wichtiges Kriterium bei der Beurteilung des Kindeswohls erwähnt § 138 Z 5 ABGB die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit der Meinungsbildung. Der Wille des Kindes bildet somit ein relevantes Kriterium (RS0048820), wobei die Rechtsprechung im Regelfall ab dem 12. Lebensjahr von der Urteilsfähigkeit eines Kindes bezüglich einer Obsorgezuteilung ausgeht (RS0048820 [T9]). Entgegen der Behauptung der Revisionsrekurswerberin wurde die 12-jährige Tochter befragt. Eine Äußerung des (nunmehr) 6-jährigen Sohnes war nicht erforderlich.
[10] 3. Damit ist der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen, ohne dass dies einer weiteren Begründung bedürfte (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. L* J*, geboren * 2008, 2. S* J*, geboren * 2010 und 3. F* J*, geboren * 2017, *, Mutter: I* V*, MSc, *, vertreten durch Mag. Isabella Jorthan, Rechtsanwältin in Wien, Vater: F* J*, BSc, *, vertreten durch Mag. Jakob Weinrich, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, wegen Obsorge, im Verfahren über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 62/23b-353, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revisionsrekursbeantwortung des Vaters wird zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter der Pflegebefohlenen wurde bereits mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom zurückgewiesen. Die ohne (Abwarten einer) Mitteilung im Sinn des § 71 Abs 2 AußStrG erstattete Revisionsrekursbeantwortung des Vaters, die am beim Obersten Gerichtshof einlangte, ist nicht nur zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht notwendig (§ 508a Abs 2 Satz 2 ZPO analog; RS0113633); sie ist nach Abschluss des Verfahrens auch nicht mehr sachlich zu behandeln ([] 1 Ob 57/19t mwN; vgl RS0113633 [T1, T5]).
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00046.23Z.0322.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
UAAAF-67384