OGH 22.03.2023, 7Ob39/23w
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Florian Legit, MBL, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Markus Heis, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 35.440,73 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 192/22z-33, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Die Klägerin hat bei der Beklagten einen Kaskoversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Raiffeisen Kraftfahrzeug-Kasko-Versicherung (ABK/RV) 2019 zugrunde liegen. Sie lauten auszugsweise:
„Artikel 7
Was ist vor bzw. nach Eintritt des Versicherungsfalles zu beachten?
(Obliegenheiten)
3. Als Obliegenheiten, deren Verletzung nach Eintritt des Versicherungsfalles die Freiheit des Versicherers von der Verpflichtung zur Leistung gemäß den Voraussetzungen und Begrenzungen des § 6 Abs 3 VersVG (siehe Anlage) bewirkt, werden bestimmt,
[...]
3.2. nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhaltes beizutragen.“
[2] Die Klägerin hatte am nach 23:00 Uhr einen Verkehrsunfall auf der Serfauser Landstraße, bei dem sie mit ihrem PKW zwei mal gegen die Leitplanke stieß. Dabei wurde ihr PKW beschädigt und die Leitplanke leicht verbogen.
[3] Die Klägerin begehrte von der Beklagten die Zahlung der Reparaturkosten ihres PKW.
[4] Die Beklagte wendete eine Obliegenheitsverletzung der Klägerin ein, weil diese verabsäumt habe, die nächstgelegene Polizeidienststelle von dem Unfall zu verständigen. Die Klägerin habe den Unfall auch grob fahrlässig herbeigeführt, was die Beklagte gemäß § 61 Abs 1 VersVG leistungsfrei sein lasse.
[5] Die Vorinstanzen verneinten sowohl eine Obliegenheitsverletzung als auch eine grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls und gaben dem Klagebegehren statt.
Rechtliche Beurteilung
[6] Die Beklagte zeigt mit ihrer außerordentlichen Revision keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:
[7] 1. Zu mit Art 7.3.2. ABK/RV 2019 identen Aufklärungsobliegenheiten („nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhaltes beizutragen“) gibt es eine ständige oberstgerichtliche Judikatur:
[8] 1.1. Der Versicherungsnehmer verletzt seine Aufklärungspflicht dann, wenn er einen von ihm verursachten Verkehrsunfall der nächsten Polizeidienststelle nicht meldet, sofern er zur sofortigen Anzeigeerstattung nach § 4 StVO verpflichtet ist und im konkreten Fall etwas versäumt wurde, das zur Aufklärung des Sachverhalts dienlich gewesen wäre. Die Übertretung des § 4 Abs 5 StVO ist für sich allein nicht schon einer Verletzung der Aufklärungspflicht gleichzuhalten. Es ist vielmehr notwendig, dass ein konkreter Verdacht in eine bestimmte Richtung durch objektives „Unbenützbarwerden“ (objektive Beseitigung) eines Beweismittels infolge Unterlassung der Anzeige im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Den konkreten Verdacht und die Unbenützbarkeit des Beweismittels muss der Versicherer behaupten und beweisen (RS0043520; 7 Ob 177/14a; 7 Ob 55/18s; 7 Ob 126/18g; 7 Ob 12/21x).
[9] 1.2. Eine Unfallmeldung kann nur unterlassen werden, wenn ausschließlich der den Unfall verursachende Lenker, der zugleich Versicherungsnehmer ist, verletzt oder sein eigenes Fahrzeug beschädigt wurde (RS0074483). Die Höhe des Schadens selbst ist ohne Bedeutung. Für die vorsätzliche Obliegenheitsverletzung genügt das allgemeine Bewusstsein des Versicherungsnehmers, dass er bei der Aufklärung des Sachverhalts nach besten Kräften aktiv werden muss (RS0080477). Dieses Bewusstsein ist mangels besonderer Entschuldigungsumstände bei einem Versicherungsnehmer, der selbst Kraftfahrer ist, bis zum Beweis des Gegenteils vorauszusetzen (7 Ob 55/18s mwN = RS0080477 [T18]).
[10] 1.3. Die Aufklärungsobliegenheit des Versicherungsnehmers soll nicht nur nötige Feststellungen über den Unfallablauf, die Verantwortlichkeit der Beteiligten und den Umfang des entstandenen Schadens ermöglichen, sondern auch die Klarstellung aller jener Umstände gewährleisten, die für allfällige Regressansprüche des Versicherers von Bedeutung sein können. Darunter fällt auch die objektive Prüfung der körperlichen Beschaffenheit des am Unfall beteiligten Versicherungsnehmers hinsichtlich einer allfälligen Alkoholisierung oder Übermüdung (RS0081010).
[11] 2. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, es sei der Beklagten nicht gelungen, eine konkrete Verdachtslage für eine Alkoholisierung oder Übermüdung der Klägerin zu beweisen, sodass bereits von einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheit nicht ausgegangen werden könne, hält sich im Rahmen dieser oberstgerichtlichen Judikatur und ist im Einzelfall nicht zu beanstanden:
[12] 2.1. Die festgestellte Übertretung des § 4 Abs 5 StVO durch die Klägerin allein schafft noch keine Verdachtslage für eine Alkoholisierung, zumal sie nach den erstgerichtlichen Feststellungen aufgrund der ihr offenbar unmittelbar danach bewusst gewordenen Gefährdung ihrer eigenen körperlichen Unversehrtheit unter Schock stand, weil die von ihr nach Auslenken wegen eines auf die Fahrbahn springenden Rehs touchierte Leitschiene der Absicherung einer stark abschüssigen Stelle diente. Dass die Klägerin in dieser Situation den Fokus ihrer Aufmerksamkeit nicht auf die – nur leicht – beschädigte Leitschiene – die sie zur Anzeige gemäß § 4 Abs 5 StVO verpflichtet hätte – gelegt hat, gereicht ihr nicht zum Nachteil.
[13] 2.2. Wenn das Berufungsgericht aufgrund der Feststellungen über die weiteren Begleitumstände des Unfalls, wonach die Klägerin im Schock beschloss umzukehren und dabei neuerlich gegen die Leitplanke stieß, am folgenden Tag aber Fotos von der Unfallstelle anfertigte und am nächsten Werktag ihren Versicherungsvertreter aufsuchte, der die eigene Servicehotline verständigte und ihr anbot, dies auch bei der Straßenmeisterei zu tun, keine konkrete Verdachtslage im Hinblick auf eine Beeinträchtigung der Klägerin gesehen hat, bedarf dies keiner Korrektur im Einzelfall.
[14] 3.1. Das Berufungsgericht ist – entgegen der Ansicht der Beklagten in ihrer Revision – auch nicht von einem falschen Beweismaß oder einer unrichtigen Verteilung der Beweislast ausgegangen. Nach ständiger Rechtsprechung hat die Verdachtslage der Versicherer zu beweisen (RS0043520) und nicht – wie die Beklagte argumentiert – der Versicherte einen von der Rechtsmittelwerberin vorausgesetzten Verdacht zu widerlegen. Erst eine so nachgewiesene Verdachtslage ist im Sinne der Rechtsprechung daraufhin zu untersuchen, ob „durch objektives Unbenützbarwerden (objektive Beseitigung) eines Beweismittels infolge Unterlassung der Anzeige im Nachhinein ein bestimmter Verdacht nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann“. Damit wird weder die Beweislast des Versicherungsnehmers, noch ein erhöhtes Beweismaß statuiert, was auch aus dem Folgesatz „Der konkrete Verdacht [...] muss vom Versicherer behauptet und bewiesen werden“ unmissverständlich hervorgeht.
[15] Es liegt insoweit auch keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens vor.
[16] 3.2. Die Klägerin hat daher gar keine Obliegenheitsverletzung zu verantworten. Die in der Revision weiters aufgeworfenen Fragen zum Kausalitätsgegenbeweis stellen sich damit nicht.
[17] 4. Zur Frage der fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls entfernt sich die Beklagte vom festgestellten Sachverhalt. Fest steht, dass die zweite Kollision unmittelbar nach dem Wendemanöver auf einen schockbedingten Fahrfehler der Klägerin und nicht auf den schlechten Zustand des Klagsfahrzeugs nach der ersten Kollision – was die Beklagte ihren diesbezüglichen Ausführungen in der Revision zugrundelegt – zurückzuführen war. Die Rüge ist damit nicht gesetzmäßig ausgeführt (RS0043312; RS0043603).
[18] 5. Die Revision war daher spruchgemäß zurückzuweisen.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00039.23W.0322.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
BAAAF-67373