OGH 22.11.2023, 7Ob158/23w
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. K* E*, geboren am * 2015, 2. P* E*, geboren am * 2017, Mutter N* B*, vertreten durch Mag. Sonja Aziz, Rechtsanwältin in Wien, Vater O* E*, vertreten durch Dr. Alice Epler, Rechtsanwältin in Wien, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht, GZ 44 R 328/23w (44 R 336/23x)-294, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Donaustadt vom , GZ 48 Ps 70/20p-272, und vom , GZ 48 Ps 70/20p-278, teilweise abgeändert wurden, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss (der im Umfang der Abweisung der Anträge der Mutter auf Übertragung der (vorläufigen) alleinigen – hilfsweise der gemeinsamen – Obsorge, Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien, Anhörung der Minderjährigen, Aussetzung des Beschlusses vom , Bekanntgabe der zukünftigen Wohnadresse der Minderjährigen, in Rechtskraft erwuchs) wird dahin abgeändert, dass
- Punkt 1. des Beschlusses des Erstgerichts vom (Auftrag an den Vater, vor einer allfälligen Ausreise mit dem minderjährigen P*, eine fachärztliche [zB kardiologische] Bestätigung vorzulegen, aus der erkennbar ist, dass sich hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Minderjährigen bei einer längeren Flugreise keine besonderen Bedenken ergeben) wiederhergestellt wird.
- die vorläufige Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung einschließlich der medizinischen Angelegenheiten beider Minderjähriger an die Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe ersatzlos, behoben wird.
Im Übrigen (Auftrag an den Vater, die Reisedokumente bei Gericht zu hinterlegen; Verbot bis auf weiteres Flugreisen mit dem minderjährigen P* zu unternehmen und die Minderjährigen voneinander zu trennen; Auftrag an die Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe und den Vater, eine schonende Kontaktanbahnung vorzunehmen) werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
[1] Die Eltern sind seit aufrecht verheiratet. Der Vater hielt sich ab März 2016 aus beruflichen Gründen als Mitarbeiter bei der UNO bzw CTBTO/UN in Österreich auf. Die Mutter sowie der minderjährige K* sind seit Mai 2017 in Österreich. Der minderjährige P* wurde in Österreich geboren. Alle Familienmitglieder sind Staatsangehörige der Republik K*. Beim Arbeitsverhältnis des Vaters handelte es sich von Anfang an um ein befristetes. Dafür wurde er als Lehrbeauftragter am technischen Universitätsinstitut der Universität von D* mit Erlass des Ministeriums für Hochschulwesen der Republik K* vom befristet – mit der Option auf Verlängerung – dienstfrei gestellt. Aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses zur UNO bzw CTBTO/UN erhielt er für sich und seine Angehörigen für die Dauer seiner Beschäftigung in Österreich „Legitimationskarten“, die allen Familienmitgliedern den Aufenthalt in Österreich ermöglichten. Beim minderjährigen P* wurde eine Sichelzellenanämie diagnostiziert, für die adäquate Behandlungsmöglichkeiten in K* bestehen. Ende des Jahres 2019 (nachdem bereits eine Verlängerung des Aufenthalts in Österreich stattgefunden hatte) teilte der Vater seiner Frau mit, dass sein Arbeitsverhältnis in Österreich ende und er gemeinsam mit seiner Familie in das Heimatland K* zurück übersiedeln müsse. Die Mutter brachte danach mehrfach zum Ausdruck, in Österreich bleiben zu wollen, was sie auch tat. Sie stellte für sich und die beiden Kinder einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG und § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG, der mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom abgewiesen wurde. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VVG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FBP festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach K* zulässig ist.
[2] Mit rechtskräftiger Entscheidung vom wurde der Vater der beiden Minderjährigen mit der alleinigen Obsorge betraut. Er beabsichtigt, mit ihnen nach K* zurückzukehren.
[3] Nach Rechtskraft dieser Obsorgeentscheidung beantragte die Mutter am , sie (vorläufig) mit der alleinigen – hilfsweise mit der gemeinsamen – Obsorge zu betrauen und dabei den Hauptaufenthalt der Minderjährigen in ihrem Haushalt festzulegen, dem Vater die Hinterlegung der Reisedokumente der Minderjährigen bei Gericht aufzutragen, ihm bis auf Weiteres zu verbieten, mit dem minderjährigen P* Flugreisen zu unternehmen und/oder die beiden Geschwister voneinander zu trennen und die Zuständigkeit zur Besorgung dieser Pflegschaftssache dem Bezirksgericht Innere Stadt Wien zu übertragen. Im Zuge einer medizinischen Untersuchung sei bei dem minderjährigen P* eine ventrikuläre Arrhythmie diagnostiziert und mit einer Therapie begonnen worden, die engmaschige Kontrollen in der Ambulanz des St. Anna Kinderspitals erforderten. Die Erkrankung bewirke beim Minderjährigen die Fluguntauglichkeit. Mit der Ausreise per Flugzeug sei daher unbedingt zuzuwarten, bis seine gesundheitliche Verfassung eine solche erlaube. Eine Trennung der Minderjährigen würde eine Gefährdung des Kindeswohls darstellen.
[4] Mit Antrag vom beantragte die Mutter weiters, die Minderjährigen anzuhören und zu ihrem Willen zu befragen sowie den Beschluss vom zur Vermeidung einer Kindeswohlgefährdung auszusetzen; dem Vater aufzutragen, vor einer allfälligen Ausreise mit den Minderjährigen, dem Kinder- und Jugendhilfeträger die Wohnadresse der Kinder in K* bekanntzugeben und dem Kinder- und Jugendhilfeträger sowie dem Vater aufzutragen, vor einer Übergabe der Minderjährigen eine schonende Kontaktanbahnung über die Kinder- und Jugendhilfe allenfalls durch ein Besuchscafé durchzuführen.
[5] Der Vater sprach sich gegen diese Anträge aus. Richtig sei, dass eine an ihn ergangene E-Mail des St. Anna Kinderspitals von einer Flugreise des minderjährigen P* abrate. Um seinen Sohn keiner gesundheitlichen Gefahr auszusetzen, sei er mit mehreren Kardiologen im Gespräch. Auch plane er nicht, seine beiden Kinder voneinander zu trennen.
[6] Mit Beschluss vom (ON 272) trug das Erstgericht dem Vater auf, vor einer allfälligen Ausreise mit dem minderjährigen P* dem Gericht eine fachärztliche (zB kardiologische) Bestätigung vorzulegen, aus der erkennbar sei, dass sich hinsichtlich des Gesundheitszustands des Minderjährigen bei einer längeren Flugreise keine besonderen Bedenken ergeben. Die übrigen Anträge der Mutter, sie mit der „vorläufigen“ alleinigen, hilfsweise mit der gemeinsamen Obsorge bei Bestimmung des hauptsächlichen Aufenthalts in ihrem Haushalt zu betreuen, wies es ebenso ab, wie den Antrag auf Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung dieser Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien. Zudem wies es den Antrag, dem Vater die gerichtliche Hinterlegung der Reisedokumente der Minderjährigen aufzuerlegen, bis auf Weiteres keine Flugreisen mit P* zu unternehmen und die beiden Geschwister nicht voneinander zu trennen, ab. Mit Beschluss vom (ON 278) wies das Erstgericht die Anträge der Mutter vom zur Gänze ab.
[7] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter gegen diese beiden Entscheidungen – die Abweisung des Antrags auf Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien blieb unangefochten – teilweise Folge. Es behob den Auftrag an den Vater, vor einer Ausreise eine ärztliche Bestätigung über die Flugtauglichkeit des minderjährigen P* vorzulegen ersatzlos. Die Abweisung auf Übertragung der (vorläufigen) alleinigen Obsorge an die Mutter bzw der gemeinsamen Obsorge an beide Eltern, bei gleichzeitiger Festlegung des Hauptaufenthalts der Minderjährigen bei deren Mutter bestätigte es ebenso wie die Abweisung der Anträge, die Minderjährigen zu ihrem Willen zu befragen, den Beschluss vom auszusetzen und dem Vater aufzutragen, vor einer allfälligen Ausreise mit den Minderjährigen deren Wohnadresse in K* bekanntzugeben. Im Übrigen änderte es die angefochtenen Beschlüsse dahin ab, dass es mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung einschließlich der Vertretung in medizinischen Angelegenheiten beider Minderjähriger vorläufig die Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, betraute, den Vater verpflichtete, umgehend die Reisedokumente beider Kinder bei Gericht zu hinterlegen, ihm bis auf Weiteres untersagte, Flugreisen mit dem minderjährigen P* zu unternehmen und/oder die Geschwister voneinander zu trennen. Weiters trug es der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe auf, unverzüglich eine schonende und den Bedürfnissen der Minderjährigen angepasste Kontaktanbahnung zwischen dem Vater und den Minderjährigen herbeizuführen.
[8] Im Umfang der Anordnung der Hinterlegung der Reisedokumente, des Auftrags auf Unterlassung von Flugreisen mit dem minderjährigen P* und/oder der Trennung der Minderjährigen sowie den Auftrag an die Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe, eine schonende und den Bedürfnissen der Kinder angepasste Kontaktanbahnung herbeizuführen, erkannte es der Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu.
[9] Gegen diesen Beschluss (ersatzlose Behebung des Auftrags zur Vorlage eines ärztlichen Attests, vorläufige Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung einschließlich der Vertretung in medizinischen Angelegenheiten an die Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Verpflichtung die Reisedokumente bei Gericht zu hinterlegen, Verbot Flugreisen mit dem minderjährigen P* zu unternehmen und/oder beide Geschwister zu trennen, Auftrag an die Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe, unverzüglich eine schonende Kontaktanbahnung herbeizuführen) wendet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, die Beschlüsse des Erstgerichts wiederherzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Die Mutter beantragt in der ihr freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den außerordentlichen Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm keine Folge zu geben.
[11] Die Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
[12] Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch berechtigt.
1. Folgende Rechtsausführungen sind voranzustellen:
[13] 2.1.1 Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete unterstützende Maßnahmen treffen (vgl auch § 107 Abs 3 AußStrG). Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen. Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes erforderlich ist (RS0048736 [T3]). Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen (4 Ob 110/20k).
[14] 2.1.2 Eine Gefährdung des Kinderwohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes, wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit, die soziale Integration oder wirtschaftliche Sphäre des Kindes, konkret gefährden (vgl RS0048633).
[15] 2.2.1 Es ist auch zulässig, im Rahmen von vorläufigen Maßnahmen die Obsorge den Eltern ganz oder teilweise zu entziehen und dem Kinder- und Jugendhilfeträger zu übertragen (4 Ob 110/20k mwN). Nach § 107 Abs 2 AußStrG kann das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einräumen oder entziehen.
[16] 2.2.2 Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens) notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind in dem Sinn reduziert, dass diese nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (RS0129538). Auch bei einer vorläufigen Entscheidung der Obsorge ist äußerste Zurückhaltung geboten, zumal auch eine vorläufige Entziehung der Obsorge einen Grundrechtseingriff bedeutet und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert (RS0130780 [T3]; 4 Ob 110/20k).
[17] 2.3.1 Nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls erforderlichen unterstützenden Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht die Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet oder Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden. Als derartige Maßnahmen kommen insbesondere in Betracht: 1. der verpflichtende Besuch einer Familien-, Eltern- oder Erziehungsberatung; 2. die Teilnahme an einem Erstgespräch über Mediation oder über Schlichtungsverfahren; 3. die Teilnahme an einer Beratung oder Schulung zum Umgang mit Gewalt und Aggression; 4. das Verbot der Ausreise mit dem Kind und 5. die Abnahme der Reisedokumente des Kindes.
[18] 2.3.2 Die in § 107 Abs 3 AußStrG geregelten Maßnahmen setzen (nur) die Erforderlichkeit zur Sicherung des Kindeswohls, aber keine Kindeswohlgefährdung im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB voraus (RS0129700). Das Gericht hat derartige Maßnahmen bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von Amts wegen – entweder im Obsorge- oder Kontaktregelungsverfahren oder im Verlauf der zwangsweisen Durchsetzung bestehender Obsorge- oder Kontaktregelungen – anzuordnen, ein Antrag ist dafür nicht notwendig (5 Ob 53/18g). Bei Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren. Die im Einzelfall angeordnete Maßnahme muss zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein. Der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person darf nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen (RS0129700 [T2]).
[19] 2.3.3 Die Anordnung anderer als im § 107 Abs 3 Z 1–5 AußStrG vorgesehener Maßnahmen ist angesichts ihrer demonstrativen Aufzählung zulässig, allerdings ist die nach dem Gesetzeswortlaut weitgehende Möglichkeit des Einsatzes derartiger Maßnahmen im Einzelfall zu begrenzen. Andere geeignete Maßnahmen im Sinn des § 107 Abs 3 AußStrG müssen nach ihrer Art und im Umfang aber auch in ihrer Qualität den gesetzlich angeordneten Maßnahmen gleichwertig sein. Die gesetzlich angeführten Maßnahmen betreffen solche, die (im weiteren Sinn) der Beratung (Z 1 und Z 3), der Streitschlichtung (Z 2) oder der Verhinderung einer unzulässigen Verbringung eines Kindes ins Ausland (Z 4 und Z 5) dienen sollen. Nur in diesem Rahmen können sich nach der gefestigten Rechtsprechung vom Gericht angeordnete Maßnahmen bewegen (5 Ob 53/18g).
[20] 3.1 Das Rekursgericht behob den Auftrag des Erstgerichts an den Vater, von einer allfälligen Ausreise mit dem minderjährigen P* dem Gericht eine fachärztliche Bestätigung über seine Flugtauglichkeit vorzulegen ersatzlos. Es erachtete das Verfahren des Erstgerichts als mangelhaft, weil kein Beweisverfahren durchgeführt worden war. Weiters sah es aufgrund vorliegender ärztlicher Bestätigungen vom und Anhaltspunkte für das Bestehen einer Fluguntauglichkeit und einer Gefährdung des Kindes bei einer Flugreise als gegeben. Es beurteilte die dem Vater aufgetragene Vorlage einer fachärztlichen Bestätigung als nicht ausreichend und trug dem Erstgericht raschestmöglich die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der pädiatrischen Kardiologie mit vorausgehender Befundaufnahme auf.
[21] 3.2 Aus welchem Grund die Einholung eines Gutachtens erforderlich und eine ärztliche Stellungnahme aus dem Fachgebiet der Kardiologie nicht ausreichend sein soll, wird seitens des Rekursgerichts nicht dargelegt und ist auch nicht nachvollziehbar. Der Minderjährige ist seit längerem im St. Anna Kinderspital in Behandlung, sodass den Bedenken des Rekursgerichts, der Vater könne mangels Kontakts zum Minderjährigen gar kein ärztliches Attest beibringen, schon durch die Vorlage einer entsprechenden Bestätigung der behandelnden Ärzte ganz einfach begegnet werden kann. Auch Gründe, aus denen sich Anlass für ein diesbezügliches amtswegiges Vorgehen des Erstgerichts ergeben könnten, zeigt die Entscheidung nicht auf.
[22] 4.1 Weiters übertrug (erstmals) das Rekursgericht im Bereich der Pflege und Erziehung (einschließlich der Vertretung in medizinischen Angelegenheiten) die Obsorge vorläufig dem Kinder- und Jugendhilfeträger. Hier hat das Rekursgericht wohl eine vorläufige Maßnahme nach § 107 Abs 2 AußStrG treffen wollen, ohne dies aber darzulegen.
[23] 4.2 Eine Entscheidung des Rekursgerichts darf grundsätzlich nur im Rahmen des Rekursbegehrens ergehen. In Verfahren, die von Amts wegen eingeleitet werden können, ist das Rekursgericht an das Rekursbegehren nicht gebunden; es kann infolge eines Rekurses über den gesamten Verfahrensgegenstand, über den das Erstgericht entschieden hat, entscheiden und den Beschluss auch zum Nachteil der anfechtenden Partei abändern (§ 55 Abs 2 AußStrG). Für Verfahren, die von Amts wegen eingeleitet werden können, statuiert § 55 Abs 2 letzter Satz, dass das Rekursgericht in diesem Fall den angefochtenen Beschluss auch zum Nachteil des Rekurswerbers abändern kann und insoweit das Verbot der reformatio in peius also nicht gilt (Klicka/Rechberger3 AußStrG § 55 Rz 2; Kodek in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG I2 § 55 [Stand rdb.at] Rz 5, 8).
[24] 4.3 Gegenstand des erstgerichtlichen Beschlusses war der Antrag der Mutter, die Obsorge auf sie – allein, hilfsweise gemeinsam mit dem Vater – zu übertragen. Da das Rekursgericht die Abweisung der Anträge durch das Erstgericht mangels Änderung der Umstände seit der (endgültigen) Übertragung der Obsorge auf den Vater bestätigte, wurde über diesen Verfahrensgegenstand des Erstgerichts abschließend entschieden. Insoweit verblieb schon kein Platz für eine (teilweise) „Abänderung der Obsorgeentscheidung“ zu Ungunsten des Vaters.
[25] 5.1 In Abänderung der erstgerichtlichen Entscheidung verpflichtete das Rekursgericht den Vater die Reisedokumente beider Kinder bei Gericht zu hinterlegen, untersagte ihm bis auf Weiteres Flugreisen mit dem minderjährigen P* zu unternehmen und/oder beide Geschwister vorübergehend zu trennen. Zuletzt trug es dem Kinder- und Jugendhilfeträger auf, eine schonende und den Bedürfnissen der Kinder angepasste Kontaktanbahnung zwischen dem Vater und den Kindern herbeizuführen.
[26] 5.2 Weder das Erstgericht noch das Rekursgericht führten ein Beweisverfahren über das in diesem Zusammenhang wechselseitig erstattete Vorbringen durch. Auch wurden keinerlei Feststellungen getroffen, sodass zum Erfordernis der beantragten Maßnahmen keine rechtliche Beurteilung vorgenommen und keine abschließende Entscheidung getroffen werden kann.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00158.23W.1122.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
AAAAF-67288