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OGH 22.03.2023, 7Ob11/23b

OGH 22.03.2023, 7Ob11/23b

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin S* S*, geboren * 1995, *, vertreten durch den Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, * (Bewohnervertreterin Mag. A* N*), dieser vertreten durch Dr. Katharina Bleckmann, Rechtsanwältin in Salzburg, Einrichtungsleiterin A* H*, vertreten durch Mag. Daniel Schöpf und andere, Rechtsanwälte in Salzburg, über den Revisionsrekurs der Einrichtungsleiterin gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom , GZ 22 R 291/22f-26, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Thalgau vom , GZ 3 Ha 1/22k-14, berichtigt mit Beschluss vom , GZ 3 Ha 1/22k-17, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

A. Der Revisionsrekurs wird, soweit er sich gegen die Zulässigerklärung der freiheitsbeschränkenden Maßnahme in Form der Verabreichung von Seroquel XR 50 mg wendet, zurückgewiesen.

B. Im Übrigen wird dem Revisionsrekurs Folge gegeben und der angefochtene Beschluss dahin abgeändert, dass er – einschließlich seiner in Rechtskraft erwachsenen Teile – insgesamt zu lauten hat:

„I. Der Antrag auf Unzulässigerklärung der an S* S* vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen durch die Verabreichung von

1. Seroquel 25 mg Bedarfsmedikation nach § 19a HeimAufG,

2. Abilify 5 bzw 10 mg Dauermedikation nach § 19a HeimAufG,

3. Quetialan XR 50 mg ret Dauermedikation nach § 11 HeimAufG,

4. Quetiapin 100 mg Dauermedikation nach § 19a HeimAufG,

wird abgewiesen.

II. Die freiheitsbeschränkende Maßnahme in Form von Seroquel XR 50 mg als Dauermedikation wird nachträglich für zulässig erklärt.

III. Die Kosten des Verfahrens trägt der Bund. Ein wechselseitiger Kostenersatz findet nicht statt.“

Text

Begründung:

[1] Die Bewohnerin lebt seit dem in einer Einrichtung im Sinn des § 2 Abs 1 HeimAufG für Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen. Dort wird sie ständig betreut und gepflegt. Sie leidet an einer schweren angeborenen Intelligenzminderung (F72.1), einem epileptischen Anfallsleiden und einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Folgen ihrer schweren Intelligenzminderung sind Verhaltensstörungen; es kommt zu impulsiven Durchbrüchen, bei denen sie mit dem Kopf gegen den Boden oder die Wand schlägt. Mit ihrem Krankheitsbild geht auch eine erhebliche und ernstliche Selbstgefährdung möglicherweise auch Fremdgefährdung einher.

[2] Ab wurde der Bewohnerin Seroquel XR 50 mg ret 1-0-1 verordnet und verabreicht. Am wurde eine Medikamentenumstellung vorgenommen. Statt Seroquel XR 50 mg und Abilify 10 mg wurde zunächst Quetiapin 100 mg in der Dosierung 1-1-0-0 verordnet und am verabreicht. In der Folge wurde die Dosierung auf 1/2-1/2-0-0 geändert. Ebenfalls am wurde Quetialan XR 50 mg ret verordnet, welches wie folgt verabreicht wurde: vom (11:00 Uhr) bis (12:59 Uhr) 1-0-1-0; seit (13:00 Uhr): 1-1-0-0.

[3] Bei diesen Medikamenten handelt es sich jeweils um atypische Neuroleptika. Im Allgemeinen wird diese Substanzklasse vorwiegend zur Behandlung von psychischen Erkrankungen, beispielsweise paranoider Schizophrenie und schizoaffektiver Störungen verwendet, aber auch zur Behandlung von Impulskontrollstörungen. Der Hauptzweck des Einsatzes der Medikamente liegt in der Behandlung der Psychopathologie im Rahmen der Grunderkrankung; eine sedierende Komponente steht nicht im Vordergrund. Die schwere Intelligenzminderung der Bewohnerin kann für sich genommen medikamentös nicht behandelt werden. Der Zweck der genannten Medikation liegt darin, die auftretenden Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen der Grunderkrankung – also der geistigen Behinderung schweren Grades im Sinn der schweren Intelligenzminderung – hintanzuhalten und zu behandeln und der Bewohnerin, soweit es ihren Fähigkeiten entspricht, eine Teilnahme am sozialen Leben zu ermöglichen.

[4] Durch die neuroleptische Therapie hat sich bei der Bewohnerin die Störung der Impulskontrolle und ihr Gesundheitszustand wesentlich gebessert, ohne dass durch die genannten Medikamente eine sedierende Komponente auftritt oder sich ihr Bewegungsdrang vermindert. Die Bewohnerin kann sich trotz der laufenden Medikation bewegen und ihrem Bewegungsdrang nachkommen. Die Therapie mit typischen Neuroleptika ist bei der hier vorliegenden Störung der Impulskontrolle als Teil eines umfassenden Therapiekonzepts notwendig.

[5] Am beantragte der Verein – soweit noch von Interesse –, die Medikationen Seroquel XR 50 mg ret, Quetiapin 100 mg und Quetialan XR 50 mg für unzulässig zu erklären.

[6] Das Erstgericht wies den Antrag auf Überprüfung ab. Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG liege nicht vor, weil es der Bewohnerin nicht unmöglich sei, ihren Aufenthalt nach ihrem Willen frei zu verändern.

[7] Das Rekursgericht änderte diese Entscheidung ab und erklärte die Verabreichung von Quetiapin 100 mg und Quetialan XR 50 mg ret als freiheitsbeschränkende Maßnahme für unzulässig. Die freiheitsbeschränkende Maßnahme durch Verabreichung von Seroquel XR 50 mg ret erklärte es nachträglich für zulässig. Aus dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen folge, dass der primäre Zweck eine Dämpfung des Bewegungsdrangs sei, nämlich der Impulsstörungen, die sich in Schlägen mit dem Kopf gegen Wand und Boden äußern. Diese Schläge würden eine Kommunikationsfunktion darstellen, indem die Bewohnerin damit Aufmerksamkeit suche sowie ihren Unmut oder auch ihre Aggressionen ausdrücke. Die Gesamtsituation führe jedenfalls dazu, dass es sich bei den Verabreichungen der Medikamente um Freiheitsbeschränkungen handle, die für ihre Zulässigkeit die Voraussetzungen des HeimAufG erfüllen müssten. Diese seien hinsichtlich der Medikamente Quetiapin 100 mg und Quetialan XR 50 mg ret nicht gegeben, weil es aufgrund einer mangelhaften Dokumentation bereits an den formellen Voraussetzungen fehle. Betreffend das Medikament Seroquel XR 50 mg ret liege hingegen eine entsprechende Dokumentation vor.

[8] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Einrichtungsleiterin mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Der Verein beantragt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm keine Folge zu geben.

Zu A:

Rechtliche Beurteilung

[10] § 19a HeimAufG räumt – wie auch § 16 HeimAufG – dem Einrichtungsleiter in seinem Abs 3 eine Rechtsmittellegitimation nur gegen Beschlüsse ein, mit denen die Freiheitsbeschränkung für unzulässig erklärt wird. Der gegen die Zulässigerklärung der freiheitsbeschränkenden Maßnahme gerichtete Revisionsrekurs war daher zurückzuweisen.

Zu B:

[11] Im Übrigen ist der Revisionsrekurs aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch berechtigt.

[12] 1.1 Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmitteln oder durch deren Anordnung unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871).

[13] 1.2 Es kann nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmittel wie Einsperren oder Festbinden des Bewohners oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Bewohner nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RS0106974).

[14] 1.3 Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist dann zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar, also primär (7 Ob 77/14w mwN) die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht hingegen im Fall von unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung therapeutischer Ziele ergeben können (RS0121227). Die Beurteilung, ob aus diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung der einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente vorhanden war und ist (RS0123875).

[15] 1.4 Dient der primäre Zweck des Medikamenteneinsatzes der Unterbindung von Unruhezuständen, des Bewegungsdrangs und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Unruhe etc), dann ist die medikamentöse Therapie als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (7 Ob 67/19g).

[16] 1.5 Der Oberste Gerichtshof hat aber bereits klargestellt, dass aus diesen Grundsätzen abzuleiten ist, dass auch im Zusammenhang mit einem Medikament, das sedierend wirken soll, eine Freiheitsbeschränkung nur dann vorliegt, wenn beim betroffenen Bewohner ein Ausmaß an Beruhigung eintritt, das ihm eine Ortsveränderung unmöglich macht bzw erschwert, sei es, dass er körperlich nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt zur Fortbewegung in der Lage ist, sei es, weil sein Impuls zur Fortbewegung verringert ist (7 Ob 59/20g mzwN). Dies bedeutet, dass für das Vorliegen einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung die intendierte Bewegungseinschränkung auch in einem feststellbaren Ausmaß eintreten muss (7 Ob 59/20g).

[17] 2. Nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen tritt durch die gegenständlich verabreichten Medikamente keine sedierende Wirkung ein und der Bewegungsdrang wird nicht vermindert. Bereits aus diesem Grund liegt insoweit keine Freiheitsbeschränkung nach § 3 HeimAufG vor. Dem Revisionsrekurs war daher im Umfang der zulässigen Bekämpfung Folge zu geben.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00011.23B.0322.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
CAAAF-67244