OGH 19.07.2023, 3Ob89/23v
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen L* L*, geboren am * 2021, in vorläufiger Obsorge seiner Tante Z* L*, Slowakei, über den Revisionsrekurs der Mutter R* L*, vertreten durch Dr. Florian Perschler, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 93/23d-68, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom , GZ 29 Ps 6/22a-46, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
[1] Das nunmehr 15 Monate alte Kind wurde der Mutter am (richtig) abgenommen, als sie sich mit dem Kind am Wiener Westbahnhof aufhielt und einen verwirrten Eindruck machte. Aus diesem Anlass stellte der Kinder- und Jugendhilfeträger (Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Soziale Arbeit mit Familien, Regionalstelle *) den Antrag auf Übertragung der Obsorge in den Bereichen Pflege und Erziehung. In der Folge beantragte zunächst die mütterliche Großmutter und sodann auch die mütterliche Tante die Übertragung der Obsorge für das Kind.
[2] Mit Beschluss vom übertrug das Erstgericht die Obsorge einstweilen auf die mütterliche Tante.
[3] Am beantragte die Mutter, die alleinige Obsorge bei ihr zu belassen. Zudem beantragte sie die Einräumung von Kontakten zu ihrem Kind.
[4] Das Erstgericht sprach aus, dass die Obsorge für das Kind in Hinkunft der mütterlichen Tante alleine zustehe. Zudem regelte es die Kontakte der Mutter zum Kind dahin, dass diese berechtigt sei, das Kind alle 14 Tage im Ausmaß von ein bis zwei Stunden im Beisein der mütterlichen Tante außerhalb deren Wohnung zu kontaktieren. Die Übernahme des Kindes durch die Mutter widerspräche aktuell dem Wohl des Minderjährigen. Zum einen lägen die erforderlichen Voraussetzungen dafür nicht vor und zum anderen fühle sich die Mutter nach ihren eigenen Angaben nicht in der Lage, das Kind selbständig zu versorgen. Zum Kontaktrechtsantrag halte es das Erstgericht für unerlässlich, dass der Minderjährige weiterhin Kontakt zu seiner Mutter halte.
[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung in der Obsorgefrage. Darüber hinaus gab es dem (in diesem Sinn verstandenen) Rekurs der Tante Folge und wies den Antrag der Mutter, ihr ein Kontaktrecht zum Kind einzuräumen, ab. Die Mutter habe selbst angegeben, dass sie seit 2008 an einer paranoiden Schizophrenie leide und sich ihre finanzielle Lage stabilisieren müsse, bevor sie das Kind alleine betreuen könne. Zudem gehe sie selbst davon aus, dass das Kind bei der Tante gut betreut werde. Der Kontaktrechtsantrag der Mutter sei abzuweisen. Da diese versuchen könnte, das Kind der obsorgeberechtigten Tante zu entziehen, sei eine Besuchsbegleitung erforderlich, die mit Wirkung für das Ausland (Slowakei) nicht angeordnet werden könne. Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.
[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.
[7] Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde (nach Freistellung durch den Obersten Gerichtshof) nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig und gemäß dem Aufhebungsantrag der Mutter auch berechtigt.
Zur Obsorge:
[9] 1. Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts kommt dem Erstgericht kein unbeschränktes Beweisaufnahmeermessen zu. Vielmehr müssen die Tatsacheninstanzen nachvollziehbar darlegen, dass aus den von ihnen verwendeten Beweismitteln eine ausreichende und verlässliche Entscheidungsgrundlage (hier) für den Entzug der Obsorge (siehe dazu 4 Ob 216/19x mwN) sowie für die Abweisung des Kontaktrechtsantrags (siehe dazu 3 Ob 19/23z mwN) wegen aktueller Gefährdung des Kindeswohls gewonnen werden konnte (vgl 3 Ob 201/22p mwN).
[10] Dementsprechend erfordert eine Entscheidung über die Entziehung der Obsorge, die einen tiefgreifenden Einschnitt in die Eltern-Kind-Beziehung bedeutet, eine sorgfältig erhobene Tatsachengrundlage, aus der sich aufgrund des anzulegenden strengen Maßstabs (vgl RS0048699; RS0047841) mit der nötigen Sicherheit eine konkrete und aktuelle Gefahrenlage für das Kindeswohl ableiten lässt. Es müssten daher insbesondere zu den Fragen der Erziehungsfähigkeit und des Gesundheitszustands (hier) der Mutter sowie zur Betreuungs- und Gefährdungssituation für das Kind konkrete Feststellungen getroffen werden, die eine verlässliche Beurteilung zur aktuellen und zur erwartbaren Kindeswohlgefährdung zulassen (siehe dazu 4 Ob 216/19x).
[11] 2.1 Im Anlassfall fußt die Entscheidung der Vorinstanzen im Wesentlichen auf der Begründung, dass die Mutter in der Tagsatzung vom selbst angegeben habe, seit 2008 an einer paranoiden Schizophrenie zu leiden und das Kind erst dann alleine pflegen und erziehen zu können, wenn sich ihre finanzielle Lage stabilisiert habe. Da sich aus dem Akt keine gegenteiligen Anhaltspunkte ergäben, seien diese Angaben der Mutter der Entscheidung zugrunde zu legen. Das Erstgericht habe zwar ein Sachverständigengutachten zur Erziehungsfähigkeit der Mutter in Aussicht genommen, die Mutter habe ein solches Gutachten aber nicht beantragt.
[12] 2.2 Tatsächlich hat die Mutter schon in der Tagsatzung vom keinen Zweifel daran gelassen, dass sie bereit und gewillt ist, sowohl ihre gesundheitlichen Probleme (durch eine geeignete Therapie) in den Griff zu bekommen als auch ihr persönliches Umfeld (durch eine ausreichend große Wohnung und eine feste Arbeit) zu stabilisieren, um ihren Sohn alleine betreuen zu können. Nach den von der Mutter vorgelegten Unterlagen kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass ihr dies auch gelungen ist. Dieses Vorbringen der Mutter hat das Rekursgericht ohne Begründung unberücksichtigt gelassen. Das Argument des Rekursgerichts, dass es nicht nur um die Erziehungsfähigkeit der Mutter, sondern um das Wohl des Kindes gehe, greift ebenfalls zu kurz, weil die Erziehungsfähigkeit ein maßgebender Faktor für die Beurteilung des Kindeswohls (hier der Kindeswohlgefährdung) ist. Es ist auch nicht allein entscheidend, ob das Kind derzeit von der Tante gut betreut wird und bereits eine Beziehung zu dieser aufgebaut hat. Vielmehr muss aufgrund der Tatsachengrundlage der Schluss gerechtfertigt sein, dass die Betreuung durch die Mutter das Kindeswohl gefährdet.
[13] 2.3 Für eine mangelnde oder in relevanter Weise eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Mutter sowie für eine aktuelle Gefahr für die persönliche oder soziale Entwicklung des Minderjährigen bieten die bisherigen Feststellungen keine ausreichende Grundlage. Eine konkrete Gefährdung der Interessen des Minderjährigen, die die Entziehung der Obsorge als ultima ratio unumgänglich machen würde, lässt sich aus den Feststellungen demnach nicht ableiten. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgebot anstelle der endgültigen Entziehung der Obsorge geeignete gelindere Mittel zur Verfügung stehen (vgl auch dazu 4 Ob 216/19x), ist gänzlich unterblieben.
Zum Kontaktrecht:
[14] 3.1 Die Beurteilung, ob eine aktuelle Gefährdungssituation besteht, die die vollständige Aussetzung der Besuchskontakte (hier) zur Mutter rechtfertigt, muss ebenfalls auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhen.
[15] 3.2 Der Entscheidung des Rekursgerichts zum abgewiesenen Kontaktrechtsantrag der Mutter liegt dessen Befürchtung zugrunde, dass die Mutter – „trotz der allenfalls vorliegenden Stabilisierung ihrer Situation“ – versuchen könnte, das Kind im Rahmen der Besuchskontakte der obsorgeberechtigten Tante zu entziehen und das Kind zu entführen. Dieser Annahme liegt der Vorfall vom zugrunde, der für die vorläufige Übertragung der Obsorge auf die mütterliche Tante maßgebend war. Die Mutter hatte sich damals nach ihrem auffälligen Verhalten am Wiener Westbahnhof geweigert, das Kind an die Wiener Kinder- und Jugendhilfe zu übergeben. Um eine „Kindesentführung“ handelte es sich dabei freilich nicht.
[16] Darauf, ob sich die persönliche Situation der Mutter tatsächlich stabilisiert hat und welche Auswirkungen eine solche Stabilisierung gegebenenfalls auf den Umgang der Mutter mit dem Kind hat, ist das Rekursgericht nicht eingegangen. Der Hinweis auf die „vorliegende Konstellation“ ist nicht durch Tatsachen untermauert.
[17] Zudem geht das Rekursgericht davon aus, dass die aus seiner Sicht notwendige Besuchsbegleitung im Ausland nicht angeordnet werden kann, unterlässt aber die in einem solchen Fall erforderliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob das gänzliche Unterbleiben des persönlichen Kontakts zum Kind dem Kindeswohl mehr entspricht als eine unbegleitete Kontaktrechtsausübung (vgl dazu 4 Ob 78/20d; 3 Ob 19/23z).
[18] 4. Insgesamt fehlte es sowohl für die Beurteilung der Obsorgefrage als auch des Kontaktrechts an einer ausreichenden Tatsachengrundlage insbesondere zum aktuellen Gesundheitszustand und persönlichem Umfeld der Mutter sowie zu ihrer Erziehungsfähigkeit und zur aktuellen Gefährdungssituation für das Kind. Die Mutter hat auch ausreichend schlüssig dargelegt, dass sich ihre persönlichen Umstände im Vergleich zu jenen bis Mitte 2022 in relevanter Weise geändert haben, was im Interesse des Wohles des Kindes zu berücksichtigen ist (vgl RS0122192; RS0006893; 4 Ob 246/18g).
[19] Mangels Entscheidungsreife waren die Entscheidungen der Vorinstanzen in Stattgebung des Revisionsrekurses der Mutter aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird vor allem das vom Erstgericht bereits in Aussicht genommene psychiatrische Sachverständigen-gutachten einzuholen sein.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2023:0030OB00089.23V.0719.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
EAAAF-66831