OGH 25.10.2022, 2Ob127/22y
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der M*, geboren am *, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Betroffenen, vertreten durch Dr. Markus Gilhofer, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 108/22y-250, womit infolge des Rekurses der Betroffenen der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom , GZ 5 P 34/16z-244, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Die Betroffene hat die Kosten ihres Revisionsrekurses selbst zu tragen.
Text
Begründung:
[1] Für die Betroffene ist seit März 2017 ein (endgültiger) Sachwalter für die Vertretung vor Gerichten, Behörden, Sozialversicherungsträgern und gegenüber privaten Vertragspartnern sowie die Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten bestellt. Vom Wirkungskreis ausgenommen ist aber die Verwaltung der nach Leistung der Fixkosten verbleibenden Einkünfte.
[2] Das Erstgericht holte zuletzt im April 2018 ein Sachverständigengutachten ein, nach dessen Inhalt die Betroffene emotional und affektiv instabil ist sowie über eine veränderte, unkorrigierbare Erlebnisverarbeitung verfügt. Es bestehe ein Unvermögen zum Perspektivenwechsel im Rahmen einer anhaltenden wahnhaften Störung und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, der Betroffenen fehle Krankheits- und Problemeinsicht. Eine Besserung des Zustandsbilds sei „im aktuellen Setting“ nicht zu erwarten.
[3] Seit 2018 stellte die Betroffene mehrere Anträge auf Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung, die das Erstgericht nach Einholung einer Äußerung der Erwachsenenvertreterin, aber ohne Durchführung weiterer Erhebungen mit der Begründung des Fehlens einer Änderung im Krankheitsbild abwies.
[4] Am beantragte die Betroffene erneut die Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung unter erkennbarem Hinweis darauf, dass sie „sehr gesund“ sei und ihr die Erwachsenenvertreterin nicht genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stelle.
[5] Die Erwachsenenvertreterin gab in ihrer Äußerung bekannt, dass der Betroffenen monatlich 1.000 EUR zur (freien) Verfügung stünden. Die Betroffene habe ohne Wissen der Erwachsenenvertreterin ein Smartphone für ihre Tochter gekauft und in diesem Zusammenhang einen Mobilfunk-Vertrag abgeschlossen.
[6] Weitere Erhebungen führte das Erstgericht nicht durch.
[7] Das Erstgericht wies den neuerlichen Antrag auf Beendigung des Erwachsenenschutzverfahrens mit der Begründung ab, dass die Betroffene weitwendige, schwer verständliche Eingaben mache, in denen sich ihre Argumente wiederholten. Das 2018 eingeholte Gutachten zeige, dass eine Besserung des Krankheitsbilds im aktuellen Setting nicht zu erwarten und auch bislang nicht eingetreten sei. Das ergebe sich sowohl aus den Schreiben der Betroffenen als auch der Äußerung der Erwachsenenvertreterin. Auch das aktuelle Schreiben der Betroffenen zeige, dass ihre psychische Situation unverändert sei.
[8] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Betroffenen nicht Folge. Deren zahlreiche Eingaben stützten die Einschätzung des Sachverständigen aus 2018, wonach eine Besserung des Zustandsbilds nicht zu erwarten sei. Man ersehe aus den Schreiben, dass die Betroffene ihre Angelegenheiten nicht überblicken könne und nicht krankheitseinsichtig sei. Es lägen daher sämtliche Voraussetzungen des § 271 ABGB weiterhin vor.
[9] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Betroffenen, die die Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Die gerichtliche Erwachsenenvertreterin hat trotz Freistellung keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
[11] Die Betroffene argumentiert, dass sich das Rekursgericht nicht mit den Voraussetzungen nach § 271 Z 2 bis 4 ABGB auseinandergesetzt habe; insbesondere wäre zu prüfen gewesen, ob die Betroffene in der Lage und bereit sei, selbst einen Vertreter zu wählen. Es gäbe keine fundierte Stellungnahme eines Sachverständigen, wonach die Betroffene ihre Angelegenheiten nach wie vor nicht überblicken könne. Das Rekursgericht habe die Eingaben der Betroffenen nur einseitig gewürdigt.
Dazu hat der erkennende Senat erwogen:
Rechtliche Beurteilung
[12] 1. Nach § 1503 Abs 9 Z 10 ABGB ist die der Betroffenen vor dem bestellte Sachwalterin nunmehr als deren gerichtliche Erwachsenenvertreterin anzusehen. Nach Z 14 leg cit hat das Gericht nach dem für alle gerichtlichen Erwachsenenvertretungen im Sinn der Z 10 von Amts wegen ein Erneuerungsverfahren einzuleiten. Wenn bis zum kein Erneuerungsverfahren eingeleitet wird, dann endet die gerichtliche Erwachsenenvertretung im Sinn der Z 10 jedenfalls mit diesem Datum.
[13] Nach § 246 Abs 1 Z 6 ABGB idF 2. ErwSchG (BGBl I 2017/59) endet eine gerichtliche Erwachsenenvertretung spätestens mit dem Ablauf von drei Jahren nach Beschlussfassung erster Instanz über die Bestellung, sofern sie nicht erneuert wird.
[14] Ein Erneuerungsverfahren nach § 1503 Abs 9 Z 14 ABGB hat das Erstgericht bisher nicht eingeleitet.
[15] 2. Die gerichtliche Erwachsenenvertretung ist gemäß § 246 Abs 3 Z 3 ABGB zu beenden, wenn die übertragene Angelegenheit erledigt ist (Fall 1) oder die Voraussetzungen für die Bestellung nach § 271 ABGB weggefallen sind (Fall 2). Betrifft dies nur einen Teil der Angelegenheiten, so ist der Wirkungsbereich gemäß dem 2. Halbsatz von § 246 Abs 3 Z 3 Satz 1 ABGB insoweit einzuschränken.
[16] Nach § 271 ABGB ist einer volljährigen Person insoweit ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter zu bestellen, als
1. sie bestimmte Angelegenheiten aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgen kann,
2. sie dafür keinen Vertreter hat,
3. sie einen solchen nicht wählen kann oder will und
4. eine gesetzliche Erwachsenenvertretung nicht in Betracht kommt.
[17] 3. Über die Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung ist – wie aus § 128 Abs 1 AußStrG ersichtlich – ein eigenes Verfahren zu führen. Das Verfahren über die Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung unterliegt gemäß § 16 Abs 1 AußStrG dem Untersuchungsgrundsatz (8 Ob 6/19v Punkt 5.1.). Es obliegt im Beendigungsverfahren allerdings (ausschließlich) dem Gericht zu entscheiden, ob es weitere Erhebungsmaßnahmen für erforderlich hält. Die Beauftragung des Erwachsenenschutzvereins mit einer Abklärung, die Einholung eines Sachverständigengutachtens und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sind nicht zwingend erforderlich (6 Ob 186/18y = RS0132309; vgl Zierl/Schweighofer/Wimberger, Erwachsenenschutzrecht² Rz 540 f).
[18] 4. Die Betroffene zeigt im außerordentlichen Revisionsrekurs im Ergebnis zutreffend auf, dass die Vorinstanzen keine ausreichende Sachverhaltsgrundlage zur Entscheidung über den Beendigungsantrag erarbeitet haben. Trotz der wiederholten Antragstellung durch die Betroffene reicht es im Hinblick auf den fast vier Jahre umfassenden Zeitraum zwischen letztmaliger Einholung eines Gutachtens und Beschlussfassung in erster Instanz im konkreten Einzelfall nicht aus, die Ablehnung der Beendigung des Erwachsenenschutzverfahrens – abgesehen von der Einholung einer Stellungnahme der Erwachsenenvertreterin – ohne Durchführung von Erhebungsschritten ausschließlich mit dem Hinweis auf das sich aus den Eingaben der Betroffenen vorgeblich ergebende „unveränderte“ Krankheitsbild zu begründen.
[19] Überdies weist die Betroffene zutreffend darauf hin, dass sich den Entscheidungen der Vorinstanzen keine nähere Auseinandersetzung mit der Frage entnehmen lässt, ob sämtliche Voraussetzungen des § 271 ABGB weiterhin vorliegen.
[20] Eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen ist damit unumgänglich.
[21] 5. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren nach Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage neuerlich über den Beendigungsantrag der Betroffenen zu entscheiden haben.
[22] Zweckmäßiger Weise könnte das Erstgericht allerdings sogleich unter einem ein Erneuerungsverfahren iSd § 1503 Abs 9 Z 14 ABGB unter Beachtung der in § 128 Abs 3 Z 1 AußStrG als zwingend erforderlich angeführten Verfahrensschritte (Abklärung durch einen Erwachsenenschutzverein; Verschaffen eines persönlichen Eindrucks) durchführen.
[23] 6. Die Vertretungskosten hat die Betroffene gemäß § 128 Abs 1 iVm § 124 AußStrG selbst zu tragen (4 Ob 75/20p; 7 Ob 136/19d mwN).
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00127.22Y.1025.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
MAAAF-66610