OGH 20.04.2022, 1Ob233/21b
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH, Linz, gegen die beklagten Parteien 1. P* GmbH & Co KG, *, und 2. V* AG, *, beide vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH, Salzburg, wegen Vertragsaufhebung und 55.436,33 EUR sA, in eventu 15.000 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 3 R 108/21d-18, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom , GZ 5 Cg 159/20g-14, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
[1] Mit Kaufvertrag vom erwarb der Kläger bei der Erstbeklagten um 67.990 EUR ein Neufahrzeug eines bestimmten Modells. Das Fahrzeug ist mit einem Benzinmotor des Typs E* mit 2,0 Liter Hubraum ausgestattet, der eine Leistung von 185 kW/252 PS aufweist und nach Euro 6b akkreditiert ist. Beim Ankauf wurde über Stickstoffwerte und CO2-Werte nicht gesprochen.
[2] Für das Fahrzeug ist eine Schadstoff-Emission von 29,1 mg/km NOx und 159 g/km CO2 spezifiziert. Diese Spezifikation entspricht bei einem Benzinmotor dem Verbrauch von 7 Litern pro 100 km. Dieser Verbrauchswert bezieht sich ausschließlich auf den Betrieb im (standardisierten) NEFZ-Zyklus. Tatsächlich beträgt der Verbrauch dieses Fahrzeugs, das der Kläger in etwa gleichteilig im Stadtverkehr und für Überland- bzw Autobahnfahrten verwendet, beim Fahrverhalten des Klägers durchschnittlich 9,5 Liter pro 100 km. Dieser Verbrauch ist dem Kläger zu hoch, weswegen er mit dem Fahrzeug auch nicht zufrieden ist. Er müsste es aber seiner Ansicht nach „nicht unbedingt“ zurückgeben.
[3] Der Kläger hatte vor dem gegenständlichen Fahrzeug bereits zwei Fahrzeuge desselben Modells, zuletzt ein Modell mit einem 3-Liter-Dieselmotor und 6 Zylinder. Der Durchschnittsverbrauch dieses Fahrzeugs lag bei 10 Liter pro 100 km. Ob der Kläger beim Kauf seines nunmehrigen Fahrzeugs davon ausging, im Vergleich zum Vormodell einen geringeren Verbrauch zu erzielen, konnte nicht festgestellt werden. Bei einem Benzinmotor ist es prinzipiell unmöglich, einen ebenso niedrigen Verbrauch zu erreichen wie bei einem Dieselmotor. Der Kläger tätigte den Ankauf weder aus Gründen des Umweltschutzes noch wegen bestimmter Abgaswerte. Er entschied sich deshalb für dieses Fahrzeugmodell, weil er immer einen SUV gefahren ist.
[4] Beim Fahrzeug wurde kein Update wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung durchgeführt. Es war auch nicht von einem Rückruf aufgrund einer derartigen Abschalteinrichtung erfasst. Ein Rückruf für dieses Fahrzeug seitens des (deutschen) Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) besteht nicht. Es verfügt über eine aufrechte Typengenehmigung und eine aufrechte nationale Zulassung. Ein Verlust dieser Genehmigung/Zulassung ist nicht zu erwarten. Das Fahrzeug ist verkehrssicher und verkehrstauglich. Fahrverbote für Benzin-Fahrzeuge gibt es keine. Für das gegenständliche Fahrzeug besteht auch keine eingeschränkte Benutzbarkeit wegen der Abgaskonstruktion.
[5] Der Kläger begehrt mit seiner am eingebrachten Klage die Aufhebung des Kaufvertrags und Rückzahlung des um ein Benutzungsentgelt verminderten Kaufpreises in der Höhe von 55.436,33 EUR sA (Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs), in eventu Zahlung von 15.000 EUR sA und Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige aus dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Motortyp E* resultierende Schäden. Er stützt diese Ansprüche auf Gewährleistung (Wandlung, in eventu Preisminderung), Irrtum, List und Schadenersatz.
[6] Durch einen Zeitungsbericht aus August 2020 habe er Kenntnis erlangt, dass auch bei den von der Zweitbeklagten entwickelten Benzinmotoren unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut seien. Es handle sich um Manipulationen im Bereich des Automatikgetriebes. Am Prüfstand werde ein anderes Schaltprogramm im Automatikgetriebe genutzt als im realen Fahrbetrieb, um den CO2-Ausstoß künstlich zu senken. Mit Hilfe eines durch den Lenkwinkel ausgelösten Schaltprogramms – nämlich „schnelleres Hochschalten“ – werde der NOx- und auch der CO2-Ausstoß im Vergleich zum Realbetrieb niedrig gehalten. Der im Fahrzeug des Klägers verbaute Benzinmotor sei daher vom „Abgasmanipulationsskandal“ betroffen. Zumindest die NOx-Werte würden nicht den Angaben im Typenschein entsprechen. Das Fahrzeug sollte der Abgasnorm Euro 6 entsprechen und einen NOx-Wert von 0,00291 g/km aufweisen. Wegen der im Zusammenhang mit dem NOx-Ausstoß unzulässigen Abschalteinrichtung entspreche das Fahrzeug nicht dem erforderlichen und erwartbaren Zustand. Er sei beim Ankauf des Fahrzeugs irrtümlich davon ausgegangen, dass die EG-Typengenehmigung für das Fahrzeug nicht durch eine unzulässige Abschalteinrichtung erschlichen worden sei, das Fahrzeug den gesetzlichen Vorgaben entspreche und er ein Qualitätsprodukt erwerbe. In Kenntnis der Manipulation hätte er das Fahrzeug nicht erworben. Sein Schaden liege im Erwerb eines – infolge der verbauten unzulässigen Abschalteinrichtung mangelhaften – Fahrzeugs, das er bei Kenntnis der wahren Umstände nicht gekauft hätte, und das nunmehr einen um 30 % geminderten Verkehrswert habe. Ein Entzug der Zulassung sei nicht ausgeschlossen. Die Zweitbeklagte habe den Antrieb für das Fahrzeug entwickelt, sei Herstellerin des Motors und habe ihn durch bewusst unrichtige Angaben in den Verkaufsunterlagen des Fahrzeugs vorsätzlich in die Irre geführt und geschädigt.
[7] Die Beklagten wendeten ein, dass das mit einem Ottomotor ausgestattete Fahrzeug des Klägers nicht von einem im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik stehenden verbindlichen Rückruf des KBA betroffen sei und keine als unzulässig eingestufte Abschalteinrichtung im Sinn des Art 5 VO (EG) Nr 715/2007 enthalte. Ein Mangel und Schaden wie auch ein Irrtum des Klägers lägen somit nicht vor. Auch eine Betriebseinschränkung bzw -untersagung oder ein Entzug der Typengenehmigung drohe nicht. Das im Fahrzeug verbaute Automatikgetriebe verfüge über sieben verschiedene Fahrstufen und sei kein Bestandteil des Emissionskontrollsystems, sodass auch deshalb keine unzulässige Abschalteinrichtung anzunehmen sei. Wie jedes Automatikgetriebe wechsle auch das konkret verbaute Getriebe eigenständig zwischen den verschiedenen Fahrstufen, und zwar unabhängig vom konkreten Fahrzustand. Das dynamische Schaltprogramm „ersetze“ den Fahrer und bestimme die Schaltpunkte in Abhängigkeit von dessen Fahrstil sowie den sonstigen Fahrbedingungen. Es erkenne unterschiedliche Fahrsituationen (zB Befahren von Steigungen oder Kurven) und passe die Fahrstufen entsprechend an. Unterschiedliche Getriebeschaltprogramme für den Rollenprüfstand und sonstige Fahrzustände seien nicht verbaut. Das Schaltprogramm sei sowohl im NEFZ als auch im realen Fahrbetrieb aktiv, sodass es auf dem Prüfstand weder beim NOx- noch CO2-Ausstoß zu emissionsrelevanten Abweichungen vom Verhalten im normalen Straßenbetrieb komme. Im realen Straßenverkehr bestimme der Fahrer den Kraftstoffverbrauch durch die Wahl der Strecke und seinen Fahrstil. Die Zweitbeklagte habe den im Fahrzeug verbauten Motor weder entwickelt noch hergestellt; sie sei auch nicht Herstellerin des Fahrzeugs und habe auf den Kläger und dessen Kaufentscheidung auch in keiner Weise eingewirkt. Gewährleistungsansprüche und Ansprüche wegen Irrtums seien verjährt.
[8] Das Erstgericht wies das Haupt- sowie die Eventualbegehren ab. Das vom Kläger erworbene Fahrzeug verfüge über eine aufrechte Typengenehmigung sowie eine nationale Zulassung und sei weder von einem zwingenden noch freiwilligen Rückruf durch das KBA betroffen. Anhaltspunkte dafür, dass im Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung wie vom Kläger vermutet, verbaut sei, seien im Beweisverfahren nicht hervorgekommen. Das Fahrzeug verfüge über alle gewöhnlich vorausgesetzten Eigenschaften eines Kraftfahrzeugs. Weder drohe der Verlust der Zulassung noch der Verlust der Typisierung. Ein Wertverlust sei ebenfalls auszuschließen. Es fehle jeder Hinweis darauf, dass das Fahrzeug wegen der darin verbauten Abgaskonstruktion nicht benutzbar oder nur eingeschränkt benutzbar wäre. Eine Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs und ein daraus resultierender Schaden des Klägers sei ebenso zu verneinen wie ein Irrtum des Klägers in Bezug auf dessen Qualität.
[9] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verneinte die vom Kläger geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Verfahrens in erster Instanz, weil die beantragte Vermessung des Fahrzeugs am Rollprüfstand zum Nachweis, dass im Fahrzeug eine Prüfstandserkennung zur Anwendung komme, die am Prüfstand ein anderes Schaltprogramm des Automatikgetriebes einsetze, um durch „schnelleres Hochschalten“ geringere Emissionen zu erreichen, unterblieben sei. Zwar liege entgegen der Ansicht des Erstgerichts kein unzulässiger Erkundungsbeweis vor, weil der Beweisantrag und das Beweisthema vor dem Hintergrund des in der Klage und im vorbereitenden Schriftsatz erstatteten Vorbringens zu sehen und damit hinreichend konkretisiert sei. Danach solle die Zweitbeklagte einen sauberen Testmodus entwickelt haben, der durch Erkennung des Prüfzyklus ein anderes Schaltprogramm im Automatikgetriebe aktiviere, das bei realen Fahrbedingungen nicht zum Einsatz komme und durch schnelleres Hochschalten bewirke, dass der NOx-Ausstoß und auch der CO2-Ausstoß im Vergleich zum Realbetrieb künstlich niedrig gehalten würden, wobei die Abschaltung über den Lenkwinkel deaktiviert werde. Dieser Beweisantrag sei jedoch rechtlich ohne Relevanz, weil das (Automatik-)Getriebe und seine unterschiedlichen Fahrstufen kein Teil des „Emissionskontrollsystems“ eines Fahrzeugs sei. Das im Fahrzeug verbaute dynamische Schaltprogramm sei daher keine „Abschalteinrichtung“ im Sinn des Art 3 Z 10 der VO (EG) Nr 715/2007. Eine Software, die über den Lenkwinkel den Prüfstandsbetrieb des Fahrzeugs erkenne und das Schaltprogramm beeinflusse, damit es – früher als im normalen Fahrbetrieb üblich – hochschalte, könne demnach nicht als „unzulässige Abschalteinrichtung“ qualifiziert werden. Soweit der Kläger seiner Rechtsrüge eine unzulässige Abschaltvorrichtung zugrunde lege, sei sie nicht ordnungsgemäß ausgeführt, weil sich dem festgestellten Sachverhalt keine Anhaltspunkte für eine solche Manipulation entnehmen ließen. Auch das Vorliegen von Feststellungsmängeln könne vor diesem Hintergrund nicht erkannt werden. Beim Kauf eines Pkw könnten (Labor-)Verbrauchswerte auch nicht mit einer zugesagten Eigenschaft für den „Realbetrieb“ gleichgesetzt werden, weil der konkrete Verbrauch neben der Dauer des Beobachtungszeitraums etwa auch vom Fahrverhalten und den gewählten Fahrstrecken abhänge. Mit der Angabe eines (Labor-)Verbrauchswerts werde daher keine Angabe (oder Zusage) des Verbrauchs im Realbetrieb gemacht, sodass der Kläger auch keine Ansprüche aus dem im Vergleich mit den Laborangaben höheren tatsächlichen Verbrauch ableiten könne.
[10] Die Revision erklärte das Berufungsgericht für zulässig, weil zu der Frage, ob eine in einem Fahrzeug verbaute Software, die über den Lenkwinkel den Prüfstandsbetrieb des Fahrzeugs erkenne und das Schaltprogramm beeinflusse, damit es – früher als im normalen Fahrbetrieb üblich – hochschalte, eine „unzulässige Abschalteinrichtung“ im Sinn der VO (EG) 715/2007 sei, höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
[11] Die von den Beklagten beantwortete Revision des Klägers ist zur Klarstellung zulässig; sie ist im Sinn ihres Eventualantrags, mit dem der Kläger die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen begehrt, auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[12] 1.1 Der Kläger wendet sich in seinem Rechtsmittel in erster Linie gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die von ihm behauptete Programmierung des dynamischen Schaltprogramms zur Steuerung des Automatikgetriebes keine (unzulässige) Abschalteinrichtung im Sinn von Art 3 Z 10 iVm Art 5 Abs 2 der VO (EG) 715/2007 sei, und zeigt damit zutreffend die Erforderlichkeit einer Ergänzung des Verfahrens auf.
[13] 1.2 Das Berufungsgericht hat die Klageabweisung im Wesentlichen mit der Begründung bestätigt, dass auf tatsächlicher Ebene keine Anhaltspunkte für die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung hervorgekommen seien, was aber nur Bestand haben kann, wenn seine Rechtsauffassung, die vom Kläger beschriebene Software – unterstellt man, dass sie im Fahrzeug des Klägers tatsächlich in Verwendung ist – stellt keine unzulässige Einrichtung dar, um die Leistung des Emmissionskontrollsystems mit dem Zweck zu verbessern, die Zulassung für das Fahrzeug zu erlangen, zutrifft.
[14] 1.3 Die Frage, ob Art 3 Z 10 VO (EG) 715/2007 dahin zu verstehen ist, dass auch eine Programmierung wie sie vom Kläger für sein Fahrzeug behauptet wird, eine Abschalteinrichtung im Sinn dieser Bestimmung darstellt, war noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des EuGH. Wirft die Auslegung des primären oder abgeleiteten Gemeinschaftsrechts in einem solchen Fall Zweifelsfragen auf, ist – jedenfalls, wenn ein nationales Gericht in letzter Instanz einschreitet – nach Art 267 AEUV die Rechtssache dem EuGH zwingend vorzulegen, es sei denn, die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair“-Doktrin).
[15] 1.4 Das Rechtsmittel des Klägers erfordert daher vorweg die Prüfung, ob die von ihm behauptete Programmierung zur Steuerung des dynamischen Schaltprogramms unzweifelhaft im Sinn der „acte clair“-Doktrin als „Abschalteinrichtung“ iSd VO (EG) Nr 715/2007 auszuschließen ist und damit auch eine Software, die über den Lenkwinkel den Prüfstandsbetrieb des Fahrzeugs erkennt und die Schaltvorgänge des Automatikgetriebes beeinflusst, von vornherein nicht als unzulässige Abschalteinrichtung in Betracht kommen kann.
[16] 2.1 Die Begriffsbestimmung des Art 3 der VO (EG) Nr 715/2007 definiert in seiner Ziffer 10 eine Abschalteinrichtung als ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
[17] Art 5 Abs 1 und 2 der Verordnung ergänzen dazu, dass der Hersteller das Fahrzeug derart ausrüstet (= auszurüsten hat), dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht (Abs 1). Nach Absatz 2 dieser Bestimmung ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig, es sei denn, a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist, c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.
[18] 2.2 In der Entscheidung zu C-693/18 hat sich der EuGH mit der Auslegung des Art 3 Z 10 der VO (EG) Nr 715/2007 auseinandergesetzt und zu dem darin enthaltenen Begriff des „Konstruktionsteils“ festgehalten, dass sich dieser Begriff sowohl auf die mechanischen Teile als auch auf die ihre Aktivierung steuernden elektronischen Teile erstreckt, soweit sie auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirken und dessen Wirksamkeit verringern (Rn 64). Er kam zum Ergebnis, dass eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software, die auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit verringert, ein solches „Konstruktionsteil“ im Sinne von Art 3 Nr 10 der VO (EG) Nr 715/2007 ist (Rn 66). Unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ fallen nach dieser Entscheidung sowohl die Technologien und die Strategie mit denen die Emissionen nach ihrer Entstehung im Motor verringert werden sollen, als auch diejenigen, mit denen ihre Entstehung begrenzt werden soll (Rn 85). Eine Software, die – wie die vom EuGH im Anlassverfahren beurteilte – das Öffnen eines Abgasrückführungsventils steuert, um die Höhe der Fahrzeugemissionen anhand der von ihr ermittelten Fahrbedingungen zu verändern und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nur unter Bedingungen gewährleistet, die denen der Zulassungstests entsprechen, stellt eine Abschaltungseinrichtung im Sinn von Art 3 Nr 10 Z 10 der VO (EG) Nr 715/2007 dar. Eine solche Einrichtung ist selbst dann eine Abschalteinrichtung, wenn die Verbesserung der Leistung des Emissionskontrollsystems punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann (Rn 99).
[19] 2.3 Bereits die Generalanwältin hat unter Rn 101 ihrer Schlussanträge zu C-693/18 ausgeführt, dass der Mechanismus, der die Kontrolle der Emissionen ermöglicht nicht unbedingt im Abgassystem im engeren Sinn liegen müsse und der Begriff des „Emissionskontrollsystems“ weit auszulegen sei, um den Zielen der VO (EG) Nr 715/2007 zu entsprechen. Der EuGH ist in seiner Entscheidung zu C- 693/18 dieser Argumentation gefolgt und hat seinen Ausführungen ebenfalls ein weites Verständnis dieses Begriffs zugrunde gelegt und gelangte zum Ergebnis, dass darunter auch jede Technologie und Strategie fallen, mit denen bereits die Entstehung von Emissionen begrenzt werden soll (Rn 85). Abschalteinrichtung im Sinn von Art 3 Z 10 VO (EG) Nr 715/2007 ist nach diesem Verständnis auch jede Einrichtung (Software), die den Ablauf der in der Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern, um so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen (Rn 102). Auch eine Programmierung, die unter diesen Bedingungen bereits das Entstehen von Emissionen reduziert, kann darunter fallen, wenn es sich um ein System handelt, mit dessen Hilfe die in der Verordnung festgelegten Grenzwerte im Zulassungsverfahren eingehalten werden sollen, um so die Zulassung des Fahrzeugs zu erlangen.
[20] 2.4 Eine Software, die die Parameter eines solchen Zulassungsverfahrens erkennt und durch Schaltabläufe im Automatikgetriebe so steuert, dass sich damit ein Emissionsverhalten erreichen lässt, das im Normalbetrieb nicht zu erreichen ist, nimmt letztlich Einfluss auf das Motormanagement und kann so bereits das Entstehen von Emissionen verringern. Gibt es eine solche Programmierung und soll damit erreicht werden, dass die in der Verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden, um die Zulassung für ein Fahrzeug zu erlangen, ist nach Ansicht des Senats keineswegs unzweifelhaft im Sinn der „acte clair-Doktrin“, dass es sich dabei um keine „Abschaltvorrichtung“ gemäß Art 3 Z 10 VO (EG) Nr 715/2007 handelt, die nach Art 5 der Verordnung nicht zulässig wäre. Der Oberste Gerichtshof wäre daher grundsätzlich zur Vorlage dieser Frage an den EuGH verpflichtet.
[21] 3.1 Nach Ansicht des erkennenden Senats ist vor einer Vorlage nach Art 267 AEUV an den EuGH im vorliegenden Fall zunächst in tatsächlicher Hinsicht abzuklären, ob die vom Kläger seinem Vorbringen zugrunde gelegte Programmierung des dynamischen Schaltsystems tatsächlich existiert, sowie welche Auswirkungen damit gegebenenfalls auf das Emissionsverhalten in Bezug auf die in der VO (EG) Nr 715/2007 genannten Grenzwerte verbunden sind.
[22] 3.2 Das Erstgericht hat seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt, dass keine „Anhaltspunkte dafür, dass beim gegenständlichen Fahrzeug eine unzulässige Abschaltvorrichtung eingebaut ist, bestehen […]“. Es bezog sich dabei auf die Ausführungen des Sachverständigen, der zu der vom Kläger behaupteten Programmierung aber nicht abschließend Stellung genommen und auf die Notwendigkeit einer Messung der Emissionen des Fahrzeugs zur Abklärung dieser Frage verwiesen hat. Dazu legte er eine Methodik dar, die der Kläger in seinem Beweisantrag aufgriff.
[23] 3.3 Das Berufungsgericht verneinte eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens, weil die beantragte Beweisaufnahme unterblieb, allein aus rechtlichen Erwägungen, denen eine Auslegung der VO (EG) 715/2007 zugrunde liegt, die aus den dargelegten Gründen aber einer vorhergehenden Befassung des EuGH bedürfte.
[24] 3.4 Das Verfahren erweist sich damit als ergänzungsbedürftig. Es fehlen aussagekräftige Feststellungen dazu, ob in dem vom Kläger angekauften Fahrzeug – wie von ihm behauptet – eine Software verbaut ist, die über den Lenkwinkel den Prüfstandbetrieb des Fahrzeugs erkennt und das Schaltprogramm beeinflusst, damit es – früher als im normalen Fahrbetrieb üblich – hochschaltet, gegebenenfalls welche Auswirkungen damit auf das Emissionsverhalten in Bezug auf die in der Verordnung genannten Grenzwerte verbunden sind. Diese Ergänzungsbedürftigkeit betrifft auch das Vorbringen, unabhängig vom Vorliegen einer „formell“ als Abschaltvorrichtung zu qualifizierenden Maßnahme würden die bekanntgegebenen Normverbrauchswerte auch im ordnungsgemäßen (NEFZ-)Prüfstandsbetrieb (ohne Verwendung der Abschalteinrichtung) um mehr als 10 % überschritten, was sowohl einen Sachmangel als auch eine Irreführung bewirke.
[25] 4.1 Das Verfahren erweist sich auch nicht aus den von den Beklagten in ihrer Revisionsbeantwortung angestrengten Überlegungen als spruchreif:
[26] 4.2 Allgemein anerkannt ist, dass § 874 ABGB als Schadenersatzgrundlage nicht nur dann in Betracht kommt, wenn zwischen dem listig Irregeführten und dem Irreführenden ein Vertragsverhältnis besteht. § 874 ABGB verpflichtet auch den selbst nicht vertragsbeteiligten Dritten zum Schadenersatz, wenn er den Vertrag durch List bewirkt hat (RS0016298; Bollenberger/P. Bydlinski in KBB6 § 874 ABGB Rz 1; Rummel in Rummel/Lukas4 § 874 ABGB Rz 3; Riedler in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 874 Rz 5; Pletzer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 874 Rz 10). Der Kläger hat sich unter anderem darauf berufen, von beiden Beklagten listig in die Irre geführt worden zu sein. Eine Beurteilung dieser Frage kann erst erfolgen, wenn geklärt ist, ob die von ihm behauptete Software mit dem vorgebrachten Effekt tatsächlich verbaut ist.
[27] 4.3 Es trifft zwar zu, dass dem Geschädigten bei einem Begehren auf Schadenersatz regelmäßig der Beweis für den Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Schädigers und dem Eintritt des Schadens obliegt (RS0022664 [T4]). Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn es sich bei dem schadensauslösenden Ereignis um eine Unterlassung handelt (RS0022664 [T5]; RS0022900). So wurde die Kausalität des angeblichen vorsätzlich irreführenden Verhaltens für den geltend gemachten Schaden etwa verneint, wenn der Käufer eines Fahrzeugs den Vertrag bei Kenntnis der von ihm beanstandeten Umstände zu den selben Bedingungen abgeschlossen hätte, sodass er auch bei Aufklärung über die Täuschungshandlung nicht anders gestellt wäre als es tatsächlich der Fall war (vgl 5 Ob 62/18f). Im vorliegenden Fall steht zwar fest, dass der Kläger das Fahrzeug nicht aus Gründen des Umweltschutzes oder wegen bestimmter Abgaswerte gekauft hat, sondern dafür andere Motive ausschlaggebend waren. Dass der Kläger den Kaufvertrag zu denselben Bedingungen geschlossenen hätte, wäre er in Kenntnis der nunmehr von ihm vorgebrachten Programmierung des dynamischen Schaltsystems gewesen (deren tatsächliches Vorhandensein ohnedies noch nicht feststeht), kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden (vgl 1 Ob 198/20d; 1 Ob 33/22t). Eine gänzliche Klageabweisung aus diesem Grund kommt auf Basis der derzeit vorliegenden Sachverhaltsgrundlage daher nicht in Betracht.
[28] 5. Die Revision erweist sich daher mit ihrem Aufhebungsantrag als berechtigt.
[29] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 50 Abs 1 ZPO.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00233.21B.0420.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
AAAAF-66533