OGH 23.01.2024, 1Ob115/23b
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Ibrahim Erman, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, und die Nebenintervenientin auf Seite der beklagten Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Robert Starzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 8.850,34 EUR, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom , GZ 14 R 66/23p-28, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 68 Cg 31/22m-18, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird abgeändert und der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei deren mit 1.865,47 EUR (darin 310,91 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Klägerin war 2020 in Wien an einem Verkehrsunfall mit einem Polizeifahrzeug beteiligt. Sie begehrte in einem Vorverfahren von der Republik Österreich (Bund) als Fahrzeughalter sowie der hier beigetretenen Nebenintervenientin als gegnerischem Haftpflichtversicherer den Ersatz des ihr dadurch entstandenen Schadens von 17.700,68 EUR (eine weitere Nebenforderung von 13,20 EUR ist nicht relevant). Ihren Anspruch stützte sie auf das Alleinverschulden des gegnerischen Lenkers, das EKHG sowie „auf jeden erdenklichen Rechtsgrund“, wobei sie auch vorbrachte, dass das Beklagtenfahrzeug beim Unfall das Blaulicht eingeschaltet gehabt habe. Das im Vorverfahren in erster Instanz angerufene Landesgericht sprach aus, dass die Klageforderung mit 8.850,34 EUR [50 % von 17.700,68 EUR] und eine vom Bund eingewandte Gegenforderung mit 4.155,80 EUR zu Recht bestehe, weshalb es der Klägerin 4.694,54 EUR zuerkannte und ihr Mehrbegehren von 13.019,34 EUR abwies. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.
[2] Nunmehr begehrt die Klägerin vom Bund 8.850,34 EUR, also die Hälfte ihrer im Vorverfahren erhobenen und dort als nicht zu Recht bestehend angenommenen Forderung von 17.700,88 EUR. Sie stützt sich auf eine Amtshaftung der Beklagten, weil ihre Organe den Unfall bei einer Dienstfahrt schuldhaft verursacht hätten. Es bestehe keine Identität mit jenem Anspruch, über den im Vorverfahren – dort ausschließlich auf Grundlage des EKHG – entschieden worden sei.
[3] Die Beklagte und die auf ihrer Seite beigetretene Nebenintervenientin wandten ein, dass sich die Klägerin bereits im Vorverfahren (auch) auf eine Amtshaftung gestützt habe, weshalb eine Identität des Anspruchs vorliege. Die Klage sei daher zurückzuweisen.
[4] Das Erstgericht wies den Einwand der entschiedenen Rechtssache ab. Die Klägerin habe im Vorprozess zwar ein Verschulden des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs behauptet, sich aber nicht auf dessen Organstellung berufen. Sie habe keine Amtshaftung, sondern nur eine Haftung des Bundes nach dem EKHG geltend gemacht. Über Amtshaftungsansprüche sei im Vorverfahren auch nicht entschieden worden.
[5] Das Rekursgericht wies die Klage wegen entschiedener Rechtssache zurück und ließ den Revisionsrekurs zu.
[6] Die Klägerin habe sich im Vorverfahren auf keine Anspruchsgrundlage beschränkt und mit ihrer Bezugnahme auf eine Einsatzfahrt des Beklagtenfahrzeugs einen amtshaftungsrechtlich relevanten Sachverhalt vorgebracht. Eine Überprüfung ihres Vorbringens unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung sei daher „nicht ausgeschlossen“ gewesen. Die gemeinsame Geltendmachung von Ansprüchen nach dem EKHG und dem AHG sei zulässig, weil das angerufene Landesgericht auch für letztere zuständig gewesen sei. Daran ändere es nichts, dass die Klägerin nicht bereits in ihrer Klage ein Organhandeln (eine Einsatzfahrt) behauptet habe, weil durch ihr nachträgliches Vorbringen – ungeachtet der Unzuständigkeit des Verfahrensrichters für Amtshaftungsansprüche nach der Geschäftsverteilung – eine wirksame Klageänderung erfolgt sei. Der nunmehr erhobenen Klage stehe daher das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Rechtssache entgegen.
[7] Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil zu einer Klageänderung, mit der ein Ersatzanspruch erstmals (auch) auf eine Amtshaftung gestützt wird, obwohl die Rechtssache beim Landesgericht „bei einem nach der Geschäftsverteilung nicht mit Amtshaftungssachen befassten Richter verbleibt“, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der dagegen erhobene – von der Beklagten und der Nebenintervenientin beantwortete – Revisionsrekurs der Klägerin ist zulässig, weil das Rekursgericht die Klage zu Unrecht wegen entschiedener Rechtssache zurückwies. Das Rechtsmittel ist demnach auch berechtigt:
[9] 1. Liegt ein rechtskräftiges Urteil vor, kann derselbe Anspruch zwischen denselben Parteien nicht mehr gerichtlich geltend gemacht werden (Einmaligkeitswirkung; ne bis in idem; RS0041115). Eine dennoch eingebrachte Klage ist zurückzuweisen (RS0039968 [T3]). Identität des Anspruchs liegt vor, wenn das neue Begehren inhaltlich auf dieselbe Leistung, Feststellung oder Rechtsgestaltung gerichtet ist, die bereits Gegenstand des rechtskräftigen Vorerkenntnisses war, und die zur Begründung des Begehrens vorgetragenen rechtserzeugenden Tatsachen dieselben sind, auf die sich auch die rechtskräftige Entscheidung gründet, sodass sie zwangsläufig dieselbe rechtliche Beurteilung zur Folge haben müssen (RS0041229). Die Wirkung der materiellen Rechtskraft einer Entscheidung wird nach § 411 ZPO grundsätzlich durch den Urteilsspruch bestimmt. Sie erstreckt sich aber insoweit auch auf die Entscheidungsgründe, als sie zu dessen Individualisierung notwendig sind (RS0112731; RS0000300).
[10] 2. Die materielle Rechtskraft einer Entscheidung schneidet nur die Geltendmachung jener vom Kläger relevierten Rechtsgründe ab, über die vom Gericht entschieden wurde (RS0039843 [T10]). Ein identer Entscheidungsgegenstand wird also nur insoweit durch den Entscheidungsantrag und die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen bestimmt, als darüber im Vorverfahren auch erkannt wurde (RS0039347 [insb T26]). Dies gilt insbesondere für die Verneinung eines Anspruchs, bei der sich die Rechtskraftwirkung auf den vom Gericht zur Abweisung herangezogenen Sachverhalt – die dafür maßgeblichen Gründe – beschränkt (RS0039255 [T2]).
[11] 3. Dass die materielle Rechtskraft nur soweit reicht, als der Vorentscheidung bestimmte Tatsachen und Rechtsnormen zugrunde lagen, entspricht auch der rechtswissenschaftlichen Literatur. Demnach kommt es darauf an, welchen Anspruch das Gericht als erhoben ansah und worüber es entschied (Klicka in Fasching/Konecny3 § 411 ZPO Rz 64 f). Maßgeblich ist der vom Gericht herangezogene Sachverhalt und die aus dessen rechtlicher Qualifikation abgeleitete – im Spruch zum Ausdruck gebrachte – Rechtsfolge (Klicka aaO Rz 67; Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka5 § 411 ZPO Rz 6; Brenn in Höllwerth/Ziehensack ZPO-Taschenkommentar [2019] § 411 Rz 11). Fasching (Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts² [1990] Rz 1514) differenziert demnach zwischen dem – nur nach dem Parteivorbringen zu beurteilenden – Streitgegenstand iSd § 226 ZPO und dem materiell rechtskräftigen Urteilsgegenstand als vom Gericht rechtlich qualifiziertes Sachbegehren, das durch den der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt individualisiert wird.
[12] 4. Im Vorverfahren beurteilte das Erstgericht den Ersatzanspruch der Klägerin (ebenso wie das dort angerufene Berufungsgericht) nur nach dem EKHG, wobei es seinem Urteil – wie sich aus einer Einsicht in den Akt ergibt (RS0121557 [T5, T9]) – ua folgende Erwägungen zugrundelegte:
„Über Ansprüche [...], die ein Verschulden des Organs voraussetzen, kann nur der nach § 9 AHG zuständige Senat (des Landesgerichts) entscheiden [...]. Ist daher der Anspruch des Geschädigten nur nach den Bestimmungen des EKHG zu prüfen, fällt das Verschulden des befugten Lenkers als Organ aus den Haftungskriterien der §§ 9 und 11 EKHG heraus und ist bei der Beurteilung der Haftung nicht zu berücksichtigen; ein Organverschulden bei rechtswidrigem Verhalten kann nur im Rahmen des Amtshaftungsverfahrens geltend gemacht werden, damit der Ausschließlichkeitscharakter des AHG nicht durch die Bestimmungen des EKHG umgangen wird. […] Daraus folgt: das Verschulden des Beklagtenlenkers [...] kann hier nicht berücksichtigt werden.“
[13] 5. Die Gerichte haben es daher im Vorprozess ausdrücklich abgelehnt, auch über den vom Kläger (jedenfalls zuletzt) geltend gemachten Amtshaftungsanspruch zu entscheiden. Ob das richtig war, ist hier nicht zu beurteilen. Auf dieser Grundlage ist aber unerheblich, ob dieser Anspruch von Anfang an Streitgegenstand des Vorprozesses war oder ob er – wie vom Rekursgericht im vorliegenden Verfahren angenommen – durch Klageänderung zum Streitgegenstand wurde. Entscheidend ist vielmehr, dass der Anspruch jedenfalls nicht Gegenstand der Sacherledigung (Urteilsgegenstand) war und daher auch nicht von der Einmaligkeitswirkung der Rechtskraft erfasst ist. Fragen einer allfälligen Präklusion von Vorbringen (vgl RS0041321) stellen sich schon deswegen nicht, weil der Kläger ohnehin ein Vorbringen zur Amtshaftung erstattet hatte. Damit kann offen bleiben, ob ihn insofern eine prozessuale Diligenzpflicht traf (vgl dazu allgemein 10 ObS 210/03k; 3 Ob 216/16k = RS0041321 [T9]).
[14] 6. Da das Rekursgericht – worauf die Rechtsmittelwerberin hinwies – unberücksichtigt ließ, dass das Klagebegehren im Vorverfahren nur insoweit als nicht zu Recht bestehend angenommen wurde, als es auf das EKHG gestützt worden war, bedarf dessen Entscheidung aus diesem Grund einer Korrektur. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben und die erstinstanzliche Entscheidung, mit der die Prozesseinrede verworfen wurde, wiederherzustellen.
[15] 7. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens im Zwischenstreit über die Prozesseinrede (vgl RS0035955) beruht auf §§ 41, 50 ZPO, wobei die der Beklagten beigetretene Nebenintervenientin nicht zum Kostenersatz herangezogen werden kann (RS0035816). Eine Pauschalgebühr fiel für das Revisionsrekursverfahren nicht an (vgl Anm 1 TP 3 GGG). Für den Revisionsrekurs steht auch nur der einfache Einheitssatz zu, weil § 23 Abs 9 RATG nur für das Berufungsverfahren gilt. In zweiter Instanz bestand für die Klägerin keine Notwendigkeit, zu den Rekursen der Beklagten und ihrer Nebenintervenientin gesonderte Rekursbeantwortungen zu erstatten, weil ihr bei Erstattung der ersten Rekursbeantwortung (zum Rekurs der Beklagten) der Rekurs der Nebenintervenientin bereits zugestellt worden war (RS0036159 [T5]). Ihr Mehraufwand infolge der Beantwortung zweier Rekurse ist durch den Streitgenossenzuschlag abgegolten (RS0036159 [T2]).
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Ibrahim Erman, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, und die Nebenintervenientin auf Seite der beklagten Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Robert Starzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 8.850,34 EUR sA, über den Antrag der klagenden Partei auf Berichtigung des Beschlusses des Obersten Gerichtshofs vom , AZ 1 Ob 115/23b, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Kostenentscheidung des Beschlusses des Obersten Gerichtshofs vom , AZ 1 Ob 115/23b, wird dahin berichtigt, dass sie zu lauten hat:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei deren mit 1.865,47 EUR (darin 310,91 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen“.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] Bei der Bestimmung der Kosten wurde der beim Revisionsrekurs verzeichnete Streitgenossenzuschlag nicht berücksichtigt. Diese offenkundige Unrichtigkeit ist gemäß § 419 ZPO zu berichtigen.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00115.23B.0123.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
TAAAF-66505