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OGH 29.03.2022, 10ObS25/22g

OGH 29.03.2022, 10ObS25/22g

Rechtssatz


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Normen
RS0133970
Bei humangenetischen Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose verbietet sich eine analoge Anwendung der Regeln über den Kostenersatz schon deshalb, weil der Gesetzgeber die Krankenbehandlung als „Pflichtleistung“ und die Vorsorge für die Erhaltung der Volksgesundheit als „Pflichtaufgabe“ unterschiedlichen Regelungsregimen unterworfen hat und deshalb keine planwidrige Regelungslücke vorliegt.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Thunhart sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kostenerstattung (830 EUR), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 75/21x-28, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 32 Cgs 12/20v-23, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts dahin abgeändert wird, dass es lautet:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 830 EUR zu zahlen, wird abgewiesen.“

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Die am geborene Klägerin wendete sich in ihrer 14. Schwangerschaftswoche am zur Abklärung des Risikos eines Down-Syndroms an ein privates Ärztezentrum, das in keiner Vertragsbeziehung zur Beklagten steht. Dort wurde ein „Combined-Test“ (OSCAR – One Stop Clinic for Assessment of Risk) und ein „Harmony-Test“ (NIPT – non invasive prenatal testing) durchgeführt, wofür die Klägerin 830 EUR zahlte.

[2] Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Kostenerstattung für die beiden Tests ab.

[3] Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin eine Kostenerstattung von 830 EUR und brachte dazu vor, dass ein „Combined-Test“ nur bis zur 14. Schwangerschaftswoche möglich sei und nur das private Ärztezentrum diesen Test kurzfristig angeboten habe.

[4] Die Beklagte wendete ein, dass für die Inanspruchnahme humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose bei einem Wahlarzt kein Kostenersatz vorgesehen sei.

[5] Das Erstgericht gab der Klage statt. Die Klägerin habe nach § 132c Abs 1 ASVG und § 4 der Verordnung BGBl 1981/274 Anspruch auf die Durchführung dieser Tests gehabt. Nach § 343a Abs 1 ASVG wäre zwischen dem Dachverband und der Österreichischen Ärztekammer ein Gesamtvertrag abzuschließen gewesen, der die Vergütung dieser Leistungen regelt, was aber nicht geschehen sei. Da auch der Satzung der Beklagten keine Tarife für die erbrachten Leistungen zu entnehmen seien, habe die Klägerin Anspruch auf volle Kostenerstattung.

[6] Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Auch das Berufungsgericht bejahte einen Kostenerstattungsanspruch, weil für die Durchführung humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnostik nach § 132c Abs 3 iVm § 132b Abs 2 ASVG „insbesondere“ Vertragspartner und eigene Einrichtungen der Versicherungsträger in Betracht kämen, wodurch die Inanspruchnahme eines Wahlarztes gerade nicht ausgeschlossen sei. Obwohl die durchgeführten Tests nicht als Krankenbehandlung zu qualifizieren seien, ergebe sich der Kostenersatzanspruch der Klägerin aus einer Analogie zu § 133 Abs 2 ASVG. Hinsichtlich der Höhe des Kostenersatzes differenzierte es zwischen dem „Combined-Test“ (OSCAR) und dem „Harmony-Test“ (NIPT). Während hinsichtlich des „Combined-Test“ eine grundsätzlich als Sachleistung (wenn auch nur im stationären Bereich) in Betracht kommende Leistung in Anspruch genommen worden sei, sei der „Harmony-Test“ dem „kassenfreien Raum“ zuzuordnen. Für den „Harmony-Test“ gebühre Kostenersatz in Form eines Kostenzuschusses (§ 131b ASVG anaolog). Enthalte die Satzung keine entsprechende – angemessene – Regelung, habe das Gericht einen Kostenzuschuss in Orientierung an für vergleichbare Leistungen vertraglich festgelegten Tarifen festzusetzen. Betreffend den „Harmony-Test“ normiere der hier analog anwendbare § 131 Abs 1 ASVG die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs unter Bezugnahme auf die dem Sozialversicherungsträger bei Inanspruchnahme der entsprechenden Vertragspartner entstehenden Kosten. Dementsprechend hänge der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin von der Höhe des Betrags ab, den die Beklagte bei Inanspruchnahme der Leistung in einer Vertragseinrichtung zu tragen gehabt hätte. Dazu fehlten jeweils die erforderlichen Feststellungen.

[7] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

[8] Gegen diesen Aufhebungsbeschluss richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, den Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und in der Sache zu entscheiden, dass das Klagebegehren abgewiesen wird. Die Klägerin hat sich am Rekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Rekurs ist zulässig und berechtigt.

[10] 1. Das Rekursverfahren betrifft die Frage, ob humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnostik bei einem Wahlarzt einen Kostenersatzanspruch gegenüber dem Träger der Krankenversicherung begründen.

[11] 2. Nach § 116 Abs 1 Z 1 ASVG trifft die Krankenversicherung ua Vorsorge für die Erhaltung der Volksgesundheit. Dazu gehören nach § 132c Abs 1 Z 1 ASVG auch humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose. Die Durchführung dieser Maßnahmen ist nach § 132c Abs 3 ASVG den Trägern der Krankenversicherung übertragen, wobei die Bundesministerin für Gesundheit, Familie und Jugend durch Verordnung den Kreis der hierfür „in Betracht kommenden Personen“ festlegen kann (§ 132c Abs 2 Z 2 ASVG). Nach § 4 Z 2 lit c der Verordnung über vordringliche Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit BGBl 1981/274 gehören Schwangere über 35 Jahren zu diesen Personen.

[12] 3. Humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose zählen damit zu den „Pflichtaufgaben“ der Krankenversicherungsträger (Ivansits, Das Recht der Prävention und Gesundheitsförderung in der österreichischen Sozialversicherung, DRdA 2015, 500 [503]; Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm [2015] § 132c ASVG Rz 1; Schober in Sonntag, ASVG12 [2021] § 132c ASVG Rz 1). Im Gegensatz zu den „Pflichtleistungen“ sind „Pflichtaufgaben“ ihrer Rechtsnatur nach freiwillige Leistungen, die zwar von den Versicherungsträgern erbracht werden sollen, auf die aber kein individueller Rechtsanspruch besteht (10 ObS 258/02t SSV-NF 17/17; 10 ObS 21/21t; Ivansits, DRdA 2015, 503 f). Im Gegensatz zu Krankenbehandlungen sind Vorsorgemaßnahmen für die Erhaltung der Volksgesundheit auch nicht im Leistungskatalog der Krankenversicherung nach § 117 ASVG enthalten. Nach den Vorgaben des Gesetzes hatte die Klägerin daher keinen individuellen Rechtsanspruch auf Durchführung dieser Maßnahmen.

[13] 4. Ob es zutrifft, dass nicht einklagbare „Pflichtaufgaben“ zu einklagbaren „Pflichtleistungen“ werden, sobald in einer nach § 132c Abs 2 Z 2 ASVG erlassenen Verordnung der Bundesministerin für Gesundheit, Familie und Jugend die Maßnahmen und der anspruchsberechtigte Personenkreis „konkret“ festgelegt werden, muss hier nicht beantwortet werden (so Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil, § 132c ASVG Rz 5; ablehnend Ivansits, DRdA 2015, 505). Die Verordnung über vordringliche Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit BGBl 1981/274 legt nämlich fest, dass Frauen über 35 Jahren für „pränatale Diagnose“ in Betracht kommen, sieht aber – ebenso wie das Gesetz – keinen Rechtsanspruch auf Durchführung einer konkreten Maßnahme vor.

[14] 5. Die Regeln über die Erstattung der Kosten bei der Inanspruchnahme von Wahlärzten in §§ 131 ff ASVG sind schon ihrem Wortlaut nach nur auf Krankenbehandlungen (ärztliche Hilfe, Heilmittel, Heilbehelfe) anzuwenden, nicht aber auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose. In der Literatur ist deshalb allgemein anerkannt, dass der Versicherte für Vorsorgemaßnahmen, die bei einem Wahlarzt durchgeführt wurden, keinen Kostenersatz beanspruchen kann (Grillberger in Grillberger/Mosler, Ärztliches Vertragspartnerrecht [2012] 257; Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil, § 132c ASVG Rz 6; Felten in Tomandl/Felten, SV-System [38. ErgLfg] Pkt 2.2.2.2.2. [197]).

[15] 6. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts verbietet sich eine analoge Anwendung der Regeln über den Kostenersatz auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose schon deshalb, weil der Gesetzgeber die Krankenbehandlung als „Pflichtleistung“ und die Vorsorge für die Erhaltung der Volksgesundheit als „Pflichtaufgabe“ unterschiedlichen Regelungsregimen unterworfen hat und deshalb keine planwidrige Regelungslücke vorliegt (Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil, § 132b ASVG Rz 5). Die Annahme eines Kostenersatzanspruchs des Versicherten für die Inanspruchnahme humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose bei einem Wahlarzt würde den Absichten des Gesetzgebers zuwiderlaufen, wonach gerade kein Rechtsanspruch des Versicherten auf Durchführung solcher Maßnahmen bestehen soll.

[16] 7. Nach § 132c Abs 3 iVm § 132b Abs 2 ASVG kommen für die Durchführung der humangenetischen Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose „insbesondere“ Vertragsärzte, Einrichtungen der Vertragsärzte und sonstiger Vertragspartner, Vertrags-Gruppenpraxen sowie eigene Einrichtungen in Betracht. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts kann daraus aber nicht abgeleitet werden, dass solche Maßnahmen auch von Wahlärzten durchgeführt werden könnten. Das ASVG bezeichnet mit „Vertragsärzte“ und „Vertragspartner“ nämlich durchwegs Personen und Einrichtungen, die aufgrund der mit den Versicherungsträgern abgeschlossenen Verträge Krankenbehandlungen durchführen, weshalb durch das Adverb „insbesondere“ bloß zum Ausdruck gebracht wird, dass im Bereich der Vorsorge auch Verträge mit Einrichtungen denkbar sind, die keine Krankenbehandlungen durchführen (Grillberger in Grillberger/Mosler, Vertragspartnerrecht 257).

[17] 8. Auch der Umstand, dass der Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und die Österreichische Ärztekammer nach § 343a Abs 1 ASVG einen Gesamtvertrag über die Durchführung und Vergütung der humangenetischen Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose abschließen sollen und jeder freiberuflich tätige Arzt und jede Gruppenpraxis nach § 343a Abs 2 ASVG Anspruch auf Abschluss eines Einzelvertrags im Sinne dieses Gesamtvertrags haben, ist ein Hinweis darauf, dass außerhalb solcher Verträge kein Kostenersatz beansprucht werden kann (Felten in Tomandl/Felten, SV-System [38. ErgLfg] Pkt 2.2.2.2.2. [197]).

[18] 9. Selbst wenn ein solcher Gesamtvertrag bislang nicht abgeschlossen worden sein sollte, kann daraus – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – kein Kostenersatzanspruch der Klägerin abgeleitet werden. Der Oberste Gerichtshof hat zwar zu 10 ObS 16/87 (SSV-NF 1/10) ausgesprochen, dass der Versicherte, der während eines vertragslosen Zustands die Pflichtleistung der Gesundenuntersuchung durch einen Privatarzt in Anspruch nimmt, in Analogie zu § 131a ASVG einen Kostenerstattungsanspruch hat, doch ist damit für den vorliegenden Fall nichts gewonnen, weil die Gesundenuntersuchung nach § 132b Abs 1 ASVG eine Pflichtleistung der Versicherungsträger darstellt, was auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose aber nicht zutrifft.

[19] 10. Im Ergebnis existiert keine Rechtsgrundlage, welche die Träger der Krankenversicherung zum Ersatz der Kosten einer bei einem Wahlarzt durchgeführten humangenetischen Vorsorgemaßnahme durch pränatale Diagnostik verpflichten würde.

[20] 11. Dem Rekurs der Beklagten ist daher dahin Folge zu geben, dass in der Sache zu Recht erkannt wird, das Begehren auf Ersatz der Kosten humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnostik abgewiesen wird.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00025.22G.0329.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
AAAAF-66332