VwGH 22.01.2021, Ra 2020/20/0438
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssätze
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Normen | AVG §58 AVG §60 VwGG §42 Abs2 Z3 VwGVG 2014 §17 VwGVG 2014 §29 Abs1 VwGVG 2014 §29 Abs2 VwGVG 2014 §29 Abs4 |
RS 1 | Die Nichteinhaltung der Bestimmungen über die mündliche Verkündung nach § 29 Abs. 2 VwGVG 2014 ("mit den wesentlichen Entscheidungsgründen"), über die Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach den §§ 58 und 60 AVG iVm § 17 VwGVG 2014, und/oder über die Verpflichtung zur Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung nach § 29 Abs. 4 VwGVG 2014 stellt eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Für eine Aufhebung eines Erkenntnisses oder Beschlusses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften ist es nach § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG weiterhin erforderlich, dass das VwG bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis oder Beschluss hätte kommen können, es muss also die "Relevanz" des Verfahrensfehlers vorliegen. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2019/14/0558 B RS 4 |
Normen | |
RS 2 | In der Regel wird die Relevanz von Mängeln der Begründung der mündlich verkündeten Entscheidung wegfallen, wenn eine schriftliche Ausfertigung vorliegt, die diese Mängel behebt. Lediglich in Ausnahmefällen wird ohne Bedachtnahme auf den näheren Inhalt der schriftlichen Ausfertigung davon auszugehen sein, dass ein für das Ergebnis des Verfahrens relevanter Verfahrensmangel gegeben ist. Wenn etwa zwischen der Verkündung der Entscheidung und ihrer schriftlichen Ausfertigung ein Richter- bzw. Besetzungswechsel stattgefunden hat und dem Protokoll über die mündliche Verkündung gar keine Entscheidungsgründe entnommen werden können, kann nicht mehr überprüft werden, ob der die schriftliche Ausfertigung unterfertigende ("neue") Richter zusätzliche Begründungselemente anführt, die ohne seine Teilnahme an der Verhandlung auch einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz gemäß § 48 Abs. 1 VwGVG 2014 bedeuten würden (zur Aufhebung des Erkenntnisses aus diesem Grund vgl. ). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2019/14/0558 B RS 7 (hier: ohne den letzten Satz) |
Normen | BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z2 BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z3 MRK Art8 |
RS 3 | Es ist nur von untergeordneter Bedeutung, ob die vom Fremden ins Treffen geführte Beziehung als "Familienleben" oder als "Privatleben" zu qualifizieren ist, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind (vgl. ; , Ra 2020/14/0191). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, in der Rechtssache der Revision des H J in G, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116/17-19, gegen das am mündlich verkündete und am schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L510 2140994-1/18E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.
2 Mit dem Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem am mündlich verkündeten und am schriftlich ausgefertigten Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Das Bundesverwaltungsgericht begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers keine Glaubwürdigkeit zukomme, bei einer Rückkehr keine Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK drohe und die Rückkehrentscheidung in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig eingreife.
4 Der Revisionswerber erhob gegen dieses Erkenntnis Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , E 2132/2020-14, ablehnte und sie mit Beschluss vom , E 2132/2020-17, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Die Nichteinhaltung der Bestimmungen über die mündliche Verkündung nach § 29 Abs. 2 VwGVG („mit den wesentlichen Entscheidungsgründen“) und über die Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach den §§ 58 und 60 AVG iVm. § 17 VwGVG stellt grundsätzlich eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Für eine Aufhebung eines Erkenntnisses oder Beschlusses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften ist es nach § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG erforderlich, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis oder Beschluss hätte kommen können, es muss also die „Relevanz“ des Verfahrensfehlers gegeben sein (vgl. bis 0560).
9 Wenn der Revisionswerber Mängel in der Begründung des mündlich verkündeten Erkenntnisses ins Treffen führt, übersieht er, dass die Relevanz von Mängeln der Begründung der mündlich verkündeten Entscheidung in der Regel wegfällt, wenn eine schriftliche Ausfertigung ergangen ist, die diese Mängel behebt. Lediglich in - hier nicht vorliegenden - Ausnahmefällen wird ohne Bedachtnahme auf den näheren Inhalt der schriftlichen Ausfertigung davon auszugehen sein, dass ein für das Ergebnis des Verfahrens relevanter Verfahrensmangel gegeben ist (vgl. neuerlich - auch zu den Ausnahmefällen - bis 0560).
10 Soweit sich die Zulässigkeitsbegründung der Revision auf die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts bezieht, ist ihr entgegenzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. , mwN).
11 Dass das Bundesverwaltungsgericht die Unterschiede in den Angaben des Revisionswerbers zu den behaupteten Akteuren seiner Verfolgung und zur behaupteten Verletzung in einer unvertretbaren Weise gewürdigt hätte, zeigt die Revision nicht auf. Eine solche Unvertretbarkeit wird auch mit dem Hinweis auf vom Revisionswerber vorgelegte „medizinische Unterlagen“ nicht dargetan, weil diese zwar geeignet sein mögen, eine Verletzung zu belegen, nicht aber Aufklärung über die Frage, im Zuge welcher Ereignisse der Revisionswerber die Verletzungen erlitten haben mag, und damit über die Nachvollziehbarkeit des Fluchtvorbringens des Revisionswerbers zu geben (vgl. zur Frage der Eignung medizinischer Sachverständigengutachten als Beweis für behauptetes Fluchtvorbringen ; , Ra 2018/20/0090; , Ra 2019/20/0286, jeweils mwN).
12 Soweit die Revision das Ergebnis der vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK für unzutreffend erachtet, ist festzuhalten, dass diese nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. ; , Ra 2020/20/0297, mwN).
13 Entgegen dem Revisionsvorbringen bezog das Bundesverwaltungsgericht sämtliche zu berücksichtigende Umstände - darunter auch die ehrenamtliche Tätigkeit des Revisionswerbers und eine Einstellungszusage - in seine Interessenabwägung ein. Es ist nicht zu sehen, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Gewichtung dieser Umstände, die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aufgestellten Leitlinien missachtet oder in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte.
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen beschränkt, sondern umfasst auch andere faktische Familienbindungen, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. ; , Ra 2019/18/0382, mwN).
15 Letztlich ist es nur von untergeordneter Bedeutung, ob die vom Revisionswerber ins Treffen geführte Beziehung als „Familienleben“ oder als „Privatleben“ zu qualifizieren ist, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind (vgl. ; , Ra 2020/14/0191).
16 Soweit sich die Revision auf die tatsächlichen Verhältnisse beruft, entfernen sich ihre Behauptungen (wonach der Revisionswerber und seine Lebensgefährtin „einen Hochzeitstermin im August 2020 in Aussicht“ hätten, sich „jeden Tag sehen“ würden und diese „Art des Zusammenlebens“ jenem in einem gemeinsamen Haushalt gleichkomme) vom festgestellten Sachverhalt, wonach der Revisionswerber und seine „Freundin“ derzeit nicht in einem gemeinsamen Haushalt lebten, weil es „Probleme mit dem Sohn der Freundin“ gegeben habe und sie „zur Zeit ... deshalb etwas weniger Kontakt“ hätten (zum Fehlen einer Rechtsfrage iSd. Art. 133 Abs. 4 B-VG, wenn sich die Revision vom festgestellten Sachverhalt entfernt, vgl. ).
17 Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht zutreffend auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs hingewiesen, wonach es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-Verfahrensgesetz maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. , mwN).
18 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am
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Normen | AVG §58 AVG §60 BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z2 BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z3 MRK Art8 VwGG §42 Abs2 Z3 VwGVG 2014 §17 VwGVG 2014 §29 Abs1 VwGVG 2014 §29 Abs2 VwGVG 2014 §29 Abs4 VwGVG 2014 §48 Abs1 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200438.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
DAAAF-48067