VwGH 22.12.2020, Ra 2020/18/0326
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssätze
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Normen | AsylG 2005 §8 Abs1 MRK Art3 |
RS 1 | Ob sehr außergewöhnliche Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EGMR als Hindernis, den Fremden in ein bestimmtes Land abzuschieben, vorliegen, ist eine von der Asylbehörde zu beurteilende Rechtsfrage (vgl. insoweit zur Zumutbarkeit einer Überstellung nach Art. 3 MRK das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/19/0809). Diese Beurteilung setzt aber nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Falle einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraus (vgl. hiezu das zitierte hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/01/0918, mit Hinweis auf die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren I2 (1998), 801, wiedergegebene hg. Rechtsprechung zur Beurteilung von Fachfragen durch Sachverständige). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie 2008/01/0312 E RS 1 |
Norm | AVG §52 Abs1 |
RS 2 | Das VwG hat in der Regel einen Sachverständigen beizuziehen, wenn ihm dies notwendig erscheint (vgl. , mwN). Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann "notwendig" iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das entscheidende Organ selbst nicht verfügt (vgl. ). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/18/0008 B RS 1 |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag der G, geboren 1984, vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Salztorgasse 2/6, der gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W278 2007510-2/20E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), erhobenen Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, den Beschluss gefasst:
Spruch
Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird dem Antrag stattgegeben.
Begründung
1 In der gegenständlichen Asylangelegenheit verband die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige der Mongolei, ihre Revision mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und brachte im Wesentlichen vor, der sofortige Vollzug der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wäre für sie aus näher genannten Gründen mit einem unverhältnismäßigen Nachteil verbunden.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab zu diesem Antrag innerhalb der gesetzten Frist keine Stellungnahme ab.
3 Gemäß § 30 Abs. 2 erster Satz VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag eines Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses oder mit der Ausübung der durch das angefochtene Erkenntnis eingeräumten Berechtigung für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.
4 Im vorliegenden Fall hat die Revisionswerberin in ihrem Antrag unverhältnismäßige Nachteile dargelegt, die mit dem sofortigen Vollzug des Abschiebetitels verbunden wären. Dass der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung zwingende oder zumindest überwiegende öffentliche Interessen entgegenstünden, ist nicht zu erkennen.
5 Dem Antrag war deshalb stattzugeben.
Wien, am
Entscheidungstext
Entscheidungsart: Erkenntnis
Entscheidungsdatum:
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der G K, vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Salztorgasse 2/6 (Einvernehmensrechtsanwalt gemäß § 14 ElRAG: Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11), gegen Spruchpunkt 3.A) des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom , W278 2007510-2/20E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seines Spruchpunktes 3.A), soweit dieser die Revisionswerberin betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige der Mongolei, reiste im Jahr 2013 ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Jahr 2014 reiste ihr minderjähriger Sohn nach Österreich ein, im Jahr 2017 kam ihre Tochter in Österreich zur Welt. Der Antrag der Revisionswerberin wurde vollinhaltlich abgewiesen, ihrer dagegen erhobenen Beschwerde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) stattgegeben und die Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
2 Im zweiten Rechtsgang wies das BFA diesen Antrag - nun zusammen mit jenem ihrer Kinder - mit Bescheid vom erneut zur Gänze ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung der Revisionswerberin in die Mongolei fest und gewährte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise.
3 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte die Revisionswerberin vor, das BFA habe sich nicht ausreichend mit ihrer Krankheit und deren Behandelbarkeit in der Mongolei auseinandergesetzt. Es fehlten Feststellungen zur Verfügbarkeit der medizinischen Behandlung und deren Kosten. Die Revisionswerberin benötige eine Interferon-Therapie bzw. eine antiretrovirale Medikation.
4 Das BVwG wies diese Beschwerde mit Spruchpunkt 3.A) des angefochtenen Erkenntnisses zusammen mit den Beschwerden der beiden minderjährigen Kinder der Revisionswerberin nach Durchführung einer Verhandlung, im Zuge derer die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Gewährung von Asyl zurückgezogen wurde, vollinhaltlich ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. Unter einem wurde auch die Beschwerde des Lebensgefährten der Revisionswerberin vollinhaltlich abgewiesen.
5 Seiner Begründung legte das BVwG - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz - die Feststellungen zugrunde, dass die Revisionswerberin an einer chronischen Hepatitis B, einer chronischen Hepatitis D und an einer Leberzirrhose leide. Sie erhalte Medikamente gegen die Hepatitis B; die Hepatitis D sei in Österreich nicht behandelbar, weshalb regelmäßige ärztliche Kontrollen, regelmäßige Blutabnahmen und Ultraschalluntersuchungen notwendig seien.
6 Zur medizinischen Versorgung stellte das BVwG fest, dass die medizinische Versorgung in der Mongolei mit Europa nicht zu vergleichen und oft technisch und hygienisch problematisch sei. Es hätten vor allem in Städten - auch internationale - Kliniken eröffnet, die zu einer Verbesserung der Situation zumindest in der Hauptstadt geführt hätten. Das sozialistische System einer allgemeinen Gesundheitsversorgung sei nur unzureichend reformiert worden. Nicht alle westlichen Medikamente - insbesondere Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen - seien in der Mongolei erhältlich. Grundsätzlich decke die staatliche Krankenversicherung die Kosten, jedoch gebe es hohe Selbstbehalte, von denen Frauen und Kinder als fragile Gruppen aber ausgenommen seien. Korruption sei im medizinischen Versorgungssystem weit verbreitet. Die geographischen Gegebenheiten und die geringe Bevölkerungsdichte führten auch zu Unterschieden und Herausforderungen im Gesundheitswesen. Das Netz der medizinischen Notfallversorgung am Land sei besonders dünn. Die schlechte Qualität der Gesundheitsversorgung am Land zwinge die Bevölkerung zu teuren Anfahrten in die Zentren und die Hauptstadt, um spezialisierte Behandlungen zu erhalten.
7 Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Krankheit nicht vorliege, zumal eine Lebertransplantation nicht umgehend erforderlich sei, sondern lediglich die letztmögliche Therapieoption darstelle. Dabei stützte sich das BVwG auf einen, von der Revisionswerberin im Verfahren vorgelegten Ambulanzbericht der Hepatologie des Landeskrankenhauses Feldkirch vom . Auch stehe eine medikamentöse Behandlung von Hepatitis D in Österreich selbst nicht zur Verfügung. Die medizinische Versorgung sei in der Mongolei grundsätzlich gesichert und Frauen seien jedenfalls krankenversichert. Daraus sei abzuleiten, dass die Revisionswerberin Zugang zur notwendigen Behandlung auch im Falle einer Rückkehr erhalten werde und die Kosten durch die staatliche Krankenversicherung gedeckt würden. Zur Behandelbarkeit der diagnostizierten Hepatitis B werde auf eine vom BFA ins Verfahren eingeführte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom verwiesen.
8 Schließlich führte das BVwG im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass sich im Verfahren nicht ergeben habe, dass die Krankheiten der Revisionswerberin akut lebensbedrohlich und die benötigten Behandlungen und Medikamente in der Mongolei nicht verfügbar seien. Die Revisionswerberin könne während der Behandlung auch auf die Unterstützung ihrer Mutter und ihres Lebensgefährten zählen.
9 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , E 1134/2020-7, ablehnte und die Beschwerde über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom , E 1134/2020-9, zur Behandlung an den Verwaltungsgerichtshof abtrat.
10 In weiterer Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision erhoben. Die Entscheidungen des BVwG hinsichtlich der beiden Kinder und des Lebensgefährten der Revisionswerberin wurden nicht in Revision gezogen.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit auf das Wesentliche zusammengefasst vor, das BVwG habe gegen seine Begründungspflicht verstoßen, weil es sich nicht hinreichend mit dem Vorbringen der Revisionswerberin zu ihrem Gesundheitszustand auseinandergesetzt und diesen verkannt habe. Die Revisionswerberin leide an einer chronischen Hepatitis B-Infektion und einer chronischen Hepatitis D; das sei eine schwere chronische lymphofollikuläre periportale Hepatitis mit zumindest bereits fokaler Zirrhose. Das BVwG habe seiner Beurteilung des Gesundheitszustandes der Revisionswerberin eine unzureichende Interpretation der von ihr vorgelegten ärztlichen Befunde zugrunde gelegt, ohne über den nötigen Sachverstand zu verfügen. Das BVwG habe seine Begründung zur Behandelbarkeit der Krankheit der Revisionswerberin auch auf unzureichende Länderberichte gestützt.
13 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder suizidgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. etwa , mwN).
15 Ob derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen, ist eine von der Behörde bzw. vorliegend dem BVwG zu beurteilende Rechtsfrage. Diese Beurteilung setzt aber nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Falle einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraus (vgl. bis 0371, mwN).
16 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt zur Begründungspflicht von Entscheidungen in ständiger Rechtsprechung, dass das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. , mwN).
17 Die Revision rügt mit Verweis auf einen näher dargestellten Ambulanzbericht zu Recht, dass das BVwG keinen medizinischen Sachverständigen beigezogen hat:
18 Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann „notwendig“ iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das entscheidende Organ selbst nicht verfügt (vgl. etwa , mwN).
19 Auf der Basis der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorhandenen ärztlichen Befunde, die auf eine schwere Erkrankung der Revisionswerberin hinwiesen, aktuell eine regelmäßige Kontrolle des Krankheitsverlaufes als notwendig erachteten, um eine Evaluierung des Zustandes der Revisionswerberin im Hinblick auf eine Lebertransplantation als letztmögliche Therapie vorzunehmen, lässt sich nicht nachvollziehen, dass das BVwG sich ohne medizinischen Sachverständigen in der Lage vermeinte, ein reales Risiko der Verletzung von Art. 3 EMRK bei Rückkehr der Revisionswerberin in die Mongolei verneinen zu können. Vielmehr hätte das BVwG unter Beiziehung von Sachverständigen das Ausmaß der Erkrankungen der Revisionswerberin, die diesbezüglichen Behandlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten in Österreich - und in der Mongolei - sowie die Intensität des damit für die Revisionswerberin verbundenen Leidens sowie eine allfällige Verkürzung der Lebenserwartung genauer erheben müssen.
20 Im Übrigen weisen auch die Länderberichte zum Zustand und Umfang der medizinischen Versorgung nicht die erforderliche Aktualität auf (vgl. , mwN).
21 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang seines Spruchpunktes 3.A), soweit dieser die Revisionswerberin betrifft, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Norm | VwGG §30 Abs2 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180326.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
AAAAF-48055