VwGH 30.07.2020, Ra 2020/08/0092
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssatz
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Normen | |
RS 1 | Allein daraus, dass durch Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2010, 2011 und 2012 Einkünfte des Notstandshilfebeziehers aus Gewerbebetrieb ausgewiesen wurden, konnte noch nicht darauf geschlossen werden, dass der Notstandshilfebezieher im (gesamten) Zeitraum dieser Jahre selbständig erwerbstätig gewesen ist (vgl. ; , Ro 2014/08/0028). Hinsichtlich des Bestehens einer Pflichtversicherung nach dem GSVG, die Arbeitslosigkeit nach § 12 Abs. 1 Z 2 AlVG jedenfalls ausschließen würde (vgl. , mwN), wären das AMS bzw. das Bundesverwaltungsgericht an einen dazu ergangenen rechtskräftigen Bescheid des Sozialversicherungsträgers gebunden gewesen. Dagegen besteht keine Bindung an die beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger geführten Versicherten-Daten oder an bloße Mitteilungen des Versicherungsträgers. Liegt kein rechtskräftiger Bescheid über die Pflichtversicherung vor, ist das Bestehen der Pflichtversicherung daher als Vorfrage im Sinn des § 38 AVG vom AMS bzw. vom Bundesverwaltungsgericht selbst zu beurteilen (vgl. ; , 2012/08/0136; jeweils mwN). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag des A, vertreten durch Dr. Gerald Perl, Rechtsanwalt in 2230 Gänserndorf, Bahnstraße 50, der gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W229 2142842-1/13E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Gänserndorf), erhobenen Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, den Beschluss gefasst:
Spruch
Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird dem Antrag nicht stattgegeben.
Begründung
1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wurde der Bezug der Notstandshilfe des Revisionswerbers für näher genannte Zeiträume in den Jahren 2010 bis 2012 widerrufen und der Revisionswerber zur Rückzahlung des unberechtigt empfangenen Bezuges in der Höhe von € 12,958,40 verpflichtet.
2 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Seinen mit der Revision verbundenen Antrag, der Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, begründet der Revisionswerber damit, dass durch die Rückforderung des Überbezuges sein Unterhalt beeinträchtigt wäre.
3 Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag des Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.
4 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass der Revisionswerber - unabhängig vom notwendigen Fehlen eines zwingenden öffentlichen Interesses - in seinem Aufschiebungsantrag zu konkretisieren hat, worin für ihn ein unverhältnismäßiger Nachteil gelegen wäre. Es ist also erforderlich, dass im Antrag konkret dargelegt wird, aus welchen Umständen sich der behauptete unverhältnismäßige Nachteil ergibt. Folglich hat der Revisionswerber den ihm drohenden unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Nachteil durch nachvollziehbare Dartuung der konkreten wirtschaftlichen Folgen auf dem Boden seiner gleichfalls konkret anzugebenden gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse darzustellen. Erst eine solche ausreichende Konkretisierung ermöglicht die vom Gesetz gebotene Interessenabwägung (vgl. etwa , mwN).
5 Diesen Anforderungen wird der vorliegende Antrag, der keine Darstellung der konkreten wirtschaftlichen Lage des Revisionswerbers bzw. der ihm konkret durch die Rückzahlung drohenden Folgen enthält, nicht gerecht. Der Antrag war daher schon deshalb abzuweisen.
Wien, am
Entscheidungstext
Entscheidungsart: Erkenntnis
Entscheidungsdatum:
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Strohmayer sowie die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des A N in O, vertreten durch Dr. Gerald Perl, Rechtsanwalt in 2230 Gänserndorf, Bahnstraße 50, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W229 2142842-1/13E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Gänserndorf), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - in Bestätigung eines Bescheides bzw. einer Beschwerdevorentscheidung der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Gänserndorf (im Folgenden: AMS) - den Bezug des Revisionswerbers von Notstandshilfe in den Zeiträumen bis , bis , bis , bis , bis , bis , bis , bis und bis gemäß § 24 Abs. 2 iVm. § 38 AlVG widerrufen und ihn gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Leistung von € 12.958,40 verpflichtet.
2 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht - soweit hier wesentlich - aus, der Revisionswerber habe in den Jahren 2010, 2011 und 2012 in den Zeiträumen, hinsichtlich derer nunmehr der Widerruf der Leistung ausgesprochen worden sei, Notstandshilfe bezogen. Aus rechtskräftigen Einkommensteuerbescheiden ergebe sich, dass der Revisionswerber Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Jahr 2010 von € 61.212,65, im Jahr 2011 von € 58.397,48 und im Jahr 2012 von € 26.100,-- erzielt habe. Entsprechend sei er auch nachträglich von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft in diesen Jahren in die Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG einbezogen worden. Der Revisionswerber sei in den Jahren 2010, 2011 und 2012 durchgehend selbstständig erwerbstätig gewesen. Seine gegenteiligen Behauptungen habe er in der Beschwerde und im Vorlageantrag nicht konkretisiert.
3 Die Höhe des Einkommens des Revisionswerbers in den Jahren 2010, 2011 und 2012 habe jeweils die in § 12 Abs. 6 iVm. § 36a AlVG festgelegten Grenzen der Geringfügigkeit überschritten. Nach § 12 Abs. 1 Z 2 AlVG werde Arbeitslosigkeit auch bereits durch das Bestehen seiner Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG ausgeschlossen. Die Leistung sei daher zu widerrufen gewesen. Da das erzielte Einkommen jeweils den Rückforderungsbetrag überstiegen habe, sei der Revisionswerber nach § 25 Abs. 1 dritter Satz zur Rückzahlung der gesamten unberechtigt empfangenen Leistung verpflichtet. Von der Durchführung der vom Revisionswerber beantragten mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, weil der festgestellte Sachverhalt durch das Ermittlungsverfahren des AMS geklärt sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
5 Zur Zulässigkeit und Begründung der außerordentlichen Revision wird geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei von der (näher genannten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Erfordernis der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 24 Abs. 1 VwGVG abgewichen. Der entscheidungswesentliche Sachverhalt - nämlich die (durchgehende) Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit durch den Revisionswerber in den Jahren 2010, 2011 und 2012 - sei im Verfahren strittig gewesen.
6 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
7 Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.
8 Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK (vgl. , mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer - bei der Geltendmachung von „civil rights“ in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden - mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa , mwN).
9 Im vorliegenden Fall war strittig, ob der Revisionswerber in den Jahren 2010, 2011 und 2012 der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem GSVG unterlegen ist bzw. sonst eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, die nach § 12 AlVG Arbeitslosigkeit ausschließt (vgl. zum Begriff der Arbeitslosigkeit in Zusammenhang mit einer selbständigen Erwerbstätigkeit etwa ). Der Revisionswerber ist in seiner Beschwerde bzw. in seinem Vorlageantrag der Annahme, er sei in den genannten Jahren (durchgehend) selbständig erwerbstätig gewesen, entgegengetreten.
10 Dazu ist darauf hinzuweisen, dass allein daraus, dass durch Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2010, 2011 und 2012 Einkünfte des Revisionswerbers aus Gewerbebetrieb ausgewiesen wurden, noch nicht darauf geschlossen werden konnte, dass der Revisionswerber im (gesamten) Zeitraum dieser Jahre selbständig erwerbstätig gewesen ist (vgl. ; , Ro 2014/08/0028). Hinsichtlich des Bestehens einer Pflichtversicherung nach dem GSVG, die Arbeitslosigkeit nach § 12 Abs. 1 Z 2 AlVG jedenfalls ausschließen würde (vgl. , mwN), wären das AMS bzw. das Bundesverwaltungsgericht an einen dazu ergangenen rechtskräftigen Bescheid des Sozialversicherungsträgers gebunden gewesen. Dagegen besteht keine Bindung an die beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger geführten Versicherten-Daten oder an bloße Mitteilungen des Versicherungsträgers. Liegt - wie im vorliegenden Fall - kein rechtskräftiger Bescheid über die Pflichtversicherung vor, ist das Bestehen der Pflichtversicherung daher als Vorfrage im Sinn des § 38 AVG vom AMS bzw. vom Bundesverwaltungsgericht selbst zu beurteilen (vgl. ; , 2012/08/0136; jeweils mwN).
11 Das Bundesverwaltungsgericht war daher im vorliegenden Fall verpflichtet, auf der Grundlage geeigneter Tatsachenfeststellungen über alle relevanten Umstände der in Frage kommenden Erwerbstätigkeit das Vorliegen einer Pflichtversicherung des Revisionswerbers nach dem GSVG bzw. gegebenenfalls deren Beginn und Ende bzw. das Vorliegen einer selbständigen Erwerbstätigkeit selbst zu beurteilen (vgl. nochmals VwGH Ro 2014/08/0028). Seine dazu angestellte Beweiswürdigung hätte das Bundesverwaltungsgericht unter Beachtung der einander widersprechenden Behauptungen der Parteien auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gründen müssen.
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
13 Vor diesem Hintergrund konnte die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 6 VwGG unterbleiben.
14 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Im Rahmen des gestellten Antrages (§ 59 Abs. 1 VwGG) war dem Revisionswerber daher der in § 1 Z 1 lit. a zweiter Fall VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 für den Ersatz des Schriftsatzaufwands festgelegte Pauschalbetrag zuzusprechen. Der durch die Verordnung pauschaliert festgesetzte Schriftsatzaufwand deckt die anfallende Umsatzsteuer ab, sodass das auf deren Ersatz gerichtete Begehren abzuweisen war (vgl. ; , Fr 2020/19/0012).
Wien, am
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Norm | VwGG §30 Abs2 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020080092.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
QAAAF-47902