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VwGH 28.09.2018, Ra 2018/08/0190

VwGH 28.09.2018, Ra 2018/08/0190

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssatz


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Normen
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §46;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
VwGVG 2014 §17;
RS 1
Zu den tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts gehört die Pflicht des Verwaltungsgerichts, beantragte Beweise aufzunehmen. Das Verwaltungsgericht wäre - im Hinblick auf die das verwaltungsgerichtliche Verfahren beherrschenden Grundsätze der Amtswegigkeit (§ 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG) und der materiellen Wahrheit (§ 37 AVG) - verpflichtet gewesen, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Beweisanträge dürfen nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen. Das Verwaltungsgericht ist verpflichtet, erforderliche Beweise aufzunehmen. Es darf sich nicht über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge ohne Ermittlungen und ohne eine dem Gesetz entsprechende Begründung hinwegsetzen (; , Ro 2014/08/0043).

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice Baden in 2500 Baden, Josefsplatz 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , Zlen. W164 2164873-1/6E und W164 2165021-1/5E, betreffend Verlust der Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: N I in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht den Beschwerden des Mitbeteiligten gegen den Bescheid des revisionswerbenden Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) vom nach Beschwerdevorentscheidung vom betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe vom 20. April bis und gegen den Bescheid des AMS vom nach Beschwerdevorentscheidung vom betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe vom 8. bis , Folge gegeben und die angefochtenen Bescheide "gemäß § 28 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 5" VwGVG behoben. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

2 Der Mitbeteiligte habe seit - mit Unterbrechungen durch kurze Dienstverhältnisse - Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und zuletzt Notstandshilfe bezogen. Am sei ihm eine Beschäftigung im sozialökonomischen Betrieb des Vereins "S" mit einem möglichen Arbeitsantritt am zugewiesen worden. Dafür sei am eine "Jobbörse" abgehalten worden, an der er teilgenommen habe. Die Vertreterinnen des sozialökonomischen Betriebes hätten Rechtschreibfehler in dem von ihm verfassten Lebenslauf bemängelt. Sie hätten ihn nachdrücklich aufgefordert, die Frage, ob er dort arbeiten wolle, mit ja oder nein zu beantworten. Seine daraufhin gegebene Antwort "ja, aber in welchem Bereich?" hätten die Vertreterinnen des sozialökonomischen Betriebes als Ablehnung eines Dienstverhältnisses aufgefasst.

3 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht - die Feststellungen teilweise ergänzend - u.a. aus, der Aktenvermerk der Mitarbeiterin des AMS, der Zeugin S., entspreche nicht den Anforderungen einer Niederschrift iSd § 14 AVG. Insbesondere sei nicht erkennbar, ob mit dem Satz "DV ab 20.4. wurde von (dem Mitbeteiligten) abgelehnt, Kunde kann sich Arbeit (egal welche) im Projekt nicht vorstellen", unmittelbar die Aussage des Mitbeteiligten oder aber die von einer Vertreterin des sozialökonomischen Betriebes geäußerte Interpretation des vom Mitbeteiligten gesetzten Verhaltens notiert worden sei. Die Gesprächsnotiz sei dem Mitbeteiligten nicht vorgelegt und von diesem nicht unterschrieben worden. Sie sei als Aktenvermerk (§ 16 AVG) in die Beweiswürdigung einzubeziehen. Der Inhalt der Gesprächsnotiz gebe nicht eindeutig wieder, welche Personen welche der notierten Aussagen getätigt hätten. Es sei als erwiesen anzunehmen, dass der Mitbeteiligte durch seine Nachfrage, in welchem Arbeitsbereich er arbeiten würde, die Einteilung in einen von ihm gewünschten Arbeitsbereich zu erwirken versucht habe, und dass dieses Verhalten von der potenziellen Dienstgeberin als Ausdruck der Arbeitsunwilligkeit angesehen worden sei. Der Sachverhalt sei ausreichend ermittelt. Die vom AMS beantragte zeugenschaftliche Vernehmung der beiden beim Einzelbewerbungsgespräch anwesenden Vertreterinnen des sozialökonomischen Betriebes habe im Sinne der Verfahrensökonomie (§ 39 Abs. 2 letzter Satz AVG iVm § 17 VwGVG) zu unterbleiben. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte mit seinem Bestreben zu erfahren, in welchen Arbeitsbereich er eingeteilt werden würde, bewusst in Kauf genommen hätte, dass das angestrebte Dienstverhältnis nicht zustande kommen würde.

4 Rechtlich sei sein Verhalten nicht als (bedingt) vorsätzlich und daher nicht als Vereitelung iSd § 10 AlVG zu beurteilen.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision. Der Mitbeteiligte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, dass bei einer Vernehmung der von ihr beantragten Zeugen ein anderer Ausgang des Verfahrens möglich gewesen wäre. Zu sagen, dass dies aus verfahrensökonomischen Gründen nicht zulässig sei, gehe in eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Richtung.

7 Die Revision ist aus dem vom AMS genannten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.

8 Rechtsfragen des Verfahrensrechts sind von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen bzw. wenn die in der angefochtenen Entscheidung getroffene Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt ist und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (). Die Entscheidung über die Revision muss von der Lösung dieser geltend gemachten Rechtsfrage abhängen. Der Verfahrensmangel muss für den Verfahrensausgang relevant, das heißt abstrakt geeignet sein, im Falle eines mängelfreien Verfahrens zu einer anderen - für die revisionswerbende Partei günstigeren - Sachverhaltsgrundlage zu führen ().

9 Zu den - hier verletzten - tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts gehört die Pflicht des Verwaltungsgerichts, beantragte Beweise aufzunehmen. Das Verwaltungsgericht wäre - im Hinblick auf die das verwaltungsgerichtliche Verfahren beherrschenden Grundsätze der Amtswegigkeit (§ 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG) und der materiellen Wahrheit (§ 37 AVG) - verpflichtet gewesen, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Beweisanträge dürfen nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen. Das Verwaltungsgericht ist verpflichtet, erforderliche Beweise aufzunehmen. Es darf sich nicht über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge ohne Ermittlungen und ohne eine dem Gesetz entsprechende Begründung hinwegsetzen (; , Ro 2014/08/0043).

10 Die Vertreterin des AMS hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am vorgebracht, falls dem Verwaltungsgericht die Aussage der Zeugin S. des AMS nicht ausreiche (um die behauptete Vereitelungshandlung des Mitbeteiligten feststellen zu können), werde die zeugenschaftliche Einvernahme von Mag. E. bzw. der weiteren beim Aufnahmegespräch anwesenden Mitarbeiterin des Vereins "S" zum Beweis dafür beantragt, dass der Mitbeteiligte beim Vorstellungsgespräch angegeben habe, keine Arbeit, egal welcher Art, beim Projekt "S" annehmen zu wollen.

11 Keine der oben genannten Gründe, die eine Ablehnung des Beweisantrages hätten rechtfertigen können, lagen im vorliegenden Fall vor. Der Hinweis auf prozessökonomische Überlegungen (die nach § 39 Abs. 2 letzter Satz AVG in erster Linie bei amtswegigen Beweisaufnahmen eine Rolle spielen) stellt im vorliegenden Fall keine gesetzesentsprechende Rechtfertigung für die Unterlassung der beantragten Beweisaufnahme dar.

12 Der vom AMS beantragten Zeugenbeweis wäre geeignet gewesen, Grundlage für die Feststellung der behaupteten Vereitelungshandlung des Mitbeteiligten zu sein. Dem Verfahrensmangel der Unterlassung der Aufnahme des beantragten Beweises kommt somit Relevanz zu.

13 Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
AVG §46;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
VwGVG 2014 §17;
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018080190.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
UAAAF-47247