TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH 31.01.2023, Ro 2020/16/0048

VwGH 31.01.2023, Ro 2020/16/0048

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
FamLAG 1967 §6 Abs5 idF 2018/I/077
VwRallg
RS 1
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH sollte nach der Absicht des Gesetzgebers in Fällen, in denen der Unterhalt einer Person durch die Unterbringung in Anstaltspflege oder einem Heim durch die öffentliche Hand sichergestellt war, kein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehen, wobei es nicht auf die Art der Unterbringung ankam (Bezeichnung als Anstalt oder Heim), sondern ausschließlich auf die gänzliche Kostentragung durch die öffentliche Hand (vgl. ; , 2002/15/0181; , 2003/13/0162; , 2001/15/0075). Diese Sichtweise wurde vom VwGH - im Hinblick auf den mit dem Familienbeihilfenrecht verfolgten Zweck (Entlastung des Unterhaltsbelasteten) und den typisierenden Charakter der Regelungen des FamLAG 1967 (vgl. , mwN) - für sämtliche Fallkonstellationen, in denen der typische Lebensunterhalt (ua Unterkunft, Bekleidung, Verpflegung) durch die öffentliche Hand gedeckt wird, vertreten (vgl. ; , Ra 2017/16/0053; sowie , Ra 2014/16/0014, zum Ausschluss der Familienbeihilfe subsidiär Schutzberechtigter, die Leistungen aus der Grundversorgung erhalten; , 2011/16/0173, bei Strafgefangenen; , 2007/13/0120, bei Ableistung des Zivildienstes; , 2004/15/0103, bei Ableistung des Präsenzdienstes). Zur Frage, inwieweit ein Beitrag zu den Unterhaltskosten Auswirkungen auf den Eigenanspruch der Kinder haben kann, hat der VwGH in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass eine gänzliche Unterhaltstragung durch die öffentliche Hand nicht mehr gegeben ist, wenn das Kind selbst zum eigenen Unterhalt beiträgt (vgl. etwa , mwN, zu einem Kind, das Pflegegeld und eine Waisenpension bezogen hatte). Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass mit der Änderung des § 6 Abs. 5 FamLAG 1967 (mit BGBl. I Nr. 77/2018) eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH beabsichtigt worden wäre. Nicht nur, dass nach den Gesetzesmaterialien (386/A 26. GP 2) lediglich eine "gesetzliche Präzisierung" - und nicht etwa eine Neuregelung - vorgenommen werden sollte, bewegen sich die darin getätigten weiteren Ausführungen auf dem Boden der dargelegten bisherigen Rechtsprechung (vgl. zur Voraussetzung der gänzlichen Kostentragung durch die öffentliche Hand ).
Normen
FamLAG 1967 §6 Abs5 idF 2018/I/077
KJHG Wr 2013 §30
KJHG Wr 2013 §32
KJHG Wr 2013 §35
KJHG Wr 2013 §36
RS 2
Es ist nicht erkennbar, dass aufgrund der Änderung des § 6 Abs. 5 FamLAG 1967 (mit BGBl. I Nr. 77/2018) in einer Konstellation, in welcher der Unterhalt zum Großteil aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe bestritten und die Differenz zu den tatsächlichen Unterhaltskosten im Wege von Spenden an den Träger der Einrichtung, in der das Kind untergebracht ist, aufgebracht wird, - vor dem Hintergrund einer (zumindest vorläufigen) gänzlichen Kostentragungsverpflichtung der öffentlichen Hand aufgrund der übertragenen Obsorge (vgl. §§ 30, 32, 35 und 36 Wr KJHG 2013) - der Unterhalt des Kindes nicht mehr als "zur Gänze" durch die öffentliche Hand getragen anzusehen sein soll, wenn Dritte - somit weder das Kind selbst, noch dessen Eltern - Kostenbeiträge zum Unterhalt des Kindes leisten.

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma und den Hofrat Mag. Straßegger, die Hofrätin Dr. Reinbacher, den Hofrat Dr. Bodis sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Galli, LL.M., über die Revision des damaligen Finanzamtes Wien 2/20/21/22 (nunmehr Finanzamt Österreich) in 1220 Wien gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom , RV/7103076/2020, betreffend Familienbeihilfe (mitbeteiligte Partei: O I in W, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe in 1200 Wien, Dresdnerstraße 43), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid vom wies das Finanzamt den Antrag des (minderjährigen) Mitbeteiligten auf Gewährung von Familienbeihilfe („Eigenantrag“) für den Zeitraum ab Mai 2019 ab. Der - im Auftrag der Wiener Kinder- und Jugendhilfe in einer Wohngemeinschaft betreute - Mitbeteiligte habe gemäß § 6 Abs. 5 FLAG keinen Eigenanspruch auf Familienbeihilfe, weil die Finanzierung seines Unterhaltes durch Mittel der öffentlichen Hand erfolge.

2 Der Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde und brachte darin vor, die Wohngemeinschaft sei teilweise spendenfinanziert, womit der Unterhalt nicht zur Gänze aus öffentlicher Hand geleistet werde. Nach Abweisung der Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung stellte der Mitbeteiligte einen Vorlageantrag.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde gemäß § 279 BAO Folge und hob den Bescheid des Finanzamtes ersatzlos auf. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei.

4 Das Bundesfinanzgericht führte nach ausführlicher Wiedergabe des Verfahrensgeschehens - auf das Wesentliche zusammengefasst - aus, der im November 2013 geborene - somit minderjährige - Mitbeteiligte sei Drittstaatsangehöriger und seit Juni 2019 Inhaber einer „Rot-Weiß-Rot-Karte Plus“. Seine Mutter wohne in Wien, sein Vater sei seit 2018 unbekannt in einen Drittstaat verzogen. Die Obsorge für den Mitbeteiligten sei im Juli 2019 auf den Kinder- und Jugendhilfeträger Land Wien übertragen worden.

5 Der Mitbeteiligte sei seit April 2019 in einer näher genannten, von einem Verein (in Folge: Trägerverein) betriebenen Wohngemeinschaft in Wien untergebracht. Der Trägerverein betreibe zwei sozialpädagogische Wohngemeinschaften, in welchen bis zu 18 Kinder und Jugendliche - teilweise mit Fluchthintergrund - im Alter zwischen 3 und 18 Jahren betreut werden, wobei die Betreuung des Mitbeteiligten im Rahmen der vollen Erziehung stattfinde. Der Betrieb der Wohngemeinschaften sei durch die MA 11 (Stadt Wien - Kinder- und Jugendhilfe) und den FSW (Fonds Soziales Wien) gefördert. Die öffentlichen Förderungen reichten jedoch nicht aus, um alle Projekte finanzieren zu können, sodass der Trägerverein zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur - auch jene des Hauses - und einzelner Projekte auf Spenden angewiesen sei.

6 Die Mutter des Mitbeteiligten trage jedenfalls seit Mai 2019 - mangels finanzieller Leistungsfähigkeit - nicht zu seinem Unterhalt bei.

7 Die Kosten für den Aufenthalt in der - vom Trägerverein betriebenen - Wohngemeinschaft, die anteilige Personalkosten, anteilige Raumkosten sowie die Kosten für Verpflegung und sonstigen Unterhaltskosten wie Aufwendungen für Freizeitaktivitäten umfassten, hätten bei der realen Auslastung von durchschnittlich 16,59 Personen 202,66 € täglich im Jahr 2019 und 204,19 € täglich im Jahr 2020 betragen. Die Wiener Kinder- und Jugendhilfe habe aus ihren Mitteln für den Mitbeteiligten an den Trägerverein einen Tagessatz von 176 € im Jahr 2019 und von 185 € im Jahr 2020 geleistet. Die Differenz zu den tatsächlichen Kosten von 202,66 € bzw. 204,19 € täglich, demnach 26,66 € bzw. 19,19 € trage der Trägerverein selbst, der sich - als spendenbegünstigte Einrichtung iSd § 4a Abs. 2 Z 3 lit. a iVm Abs. 5 EStG 1988 - aus Spenden finanziere. Insgesamt seien vom Trägerverein 161.421,78 € im Jahr 2019 und 128.000 € im Jahr 2020 aus Spendenmitteln zur Finanzierung der Wohngemeinschaft „zugeschossen“ worden. Ab Juli 2020 stehe für den Mitbeteiligten zudem ein sozialtherapeutischer Platz zur Verfügung, der zusätzliche Kosten von 1.139,19 € monatlich verursache, von denen 745,80 € aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe getragen würden. Die Differenz von 393,39 € werde ebenfalls aus Spendenmitteln finanziert.

8 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesfinanzgericht aus, im Verfahren sei unstrittig, dass der Mitbeteiligte die Voraussetzungen des rechtmäßigen Aufenthalts nach § 3 Abs. 1 und 2 FLAG sowie jene des § 6 Abs. 1 FLAG erfülle. Unstrittig sei weiters, dass ihm kein Unterhalt von seinen Eltern geleistet worden sei und er über keine eigenen finanziellen Mittel verfügt habe. Strittig sei nur, ob der Unterhalt des Mitbeteiligten im verfahrensgegenständlichen Zeitraum zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen worden sei bzw. ob eine gänzliche Unterhaltskostentragung durch die öffentliche Hand nur dann nicht vorliege, wenn ein Beitrag zum Unterhalt durch das Kind selbst oder durch seine unterhaltspflichtigen Eltern erfolge.

9 Entgegen der Auffassung der belangten Behörde bestehe ein Anspruch sogenannter Sozialwaisen auf Familienbeihilfe nicht bloß dann, wenn diese selbst zur Deckung ihres Lebensunterhaltes in irgendeiner Form beitragen. Das Gesetz verlange nur, dass von den Eltern nicht überwiegend Unterhalt geleistet werde und dass der Unterhalt nicht „zur Gänze“ aus bestimmten Mitteln der öffentlichen Hand getragen werde. Eine Auslegung dieser Bestimmung über den äußerst möglichen Wortsinn hinaus sei unzulässig, wonach die Tragung eines geringeren Betrages als des gesamten Unterhaltsbetrages durch die öffentliche Hand nicht ausreiche, um den Eigenanspruch des Kindes zu verneinen. Dem Gesetz lasse sich auch nicht entnehmen, dass eine Differenz zwischen den tatsächlichen Unterhaltskosten und den Leistungen aus öffentlichen Mitteln aus Eigenmitteln des Kindes selbst, oder aus Mitteln, die direkt dem Kinde zurechenbar sein müssten, stammen müsse. Werde daher der Unterhalt eines Sozialwaisen nicht zur Gänze aus den im Gesetz genannten öffentlichen Mitteln bestritten, sei es nicht maßgebend, woher die Differenz zwischen dem gesamten Unterhalt und der teilweisen Unterhaltsleistung durch die öffentlichen Mittel herrühre.

10 Da im vorliegenden Fall ein Teil der tatsächlichen Unterhaltskosten des Mitbeteiligten nicht aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes bestritten worden sei, sondern vom Trägerverein, der sich seinerseits durch Spenden finanziere, bestehe ein Eigenanspruch des Mitbeteiligten auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag.

11 Die Zulässigkeit der Revision begründete das Bundesfinanzgericht mit der fehlenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage des Bestehens des Eigenanspruchs eines Kindes gemäß § 6 Abs. 5 FLAG, wenn dessen Unterhalt zum Großteil aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe bestritten werde, die Differenz zu den tatsächlichen Unterhaltskosten aber nicht aus Eigenmitteln des Kindes komme, sondern im Wege von allgemeinen Spenden an den Träger der Einrichtung, in der das Kind untergebracht sei, aufgebracht werde.

12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Amtsrevision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen hat:

13 Die Revision ist aus den vom Bundesfinanzgericht angeführten Gründen zulässig und im Ergebnis auch berechtigt.

14 Die Bestimmung des § 6 Abs. 5 FLAG, die den Eigenanspruch auf Familienbeihilfe von Kindern, die nicht Vollwaisen sind, regelt, wurde mit BGBl. Nr. 296/1981 eingefügt und lautete damals:

„(5) Kinder, deren Eltern ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3).“

15 Nach den Gesetzesmaterialien (ErlRV 694 BlgNR 15. GP 4) sollte diese „Gleichstellung von Kindern, deren Eltern ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen und für die auch sonst niemand Anspruch auf Familienbeihilfe hat, mit den Vollwaisen in bezug auf einen eigenen Anspruch auf Familienbeihilfe, [...] eine Härte in den Fällen beseitigen, in denen für Kinder, die sich weitgehend selbst erhalten müssen, keine Familienbeihilfe gewährt wird. Eine solche Härte wird dann nicht angenommen, wenn das Kind aus öffentlichen Mitteln (Sozialhilfe bzw. Jugendwohlfahrt) in einem Heim erzogen wird. In diesen Fällen würde nämlich die Familienbeihilfe nicht die Situation des Kindes verbessern, sondern lediglich die öffentlichen Haushalte, aus denen die Mittel stammen, entlasten.“

16 Mit BGBl. Nr. 311/1992 wurde § 6 Abs. 5 FLAG - vor dem Hintergrund der Neuregelung der Studienförderung (vgl. ErlRV 465 BlgNR 18. GP 8) - dahingehend geändert, dass er lautete:

„(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3).“

17 Schließlich wurde mit BGBl. I Nr. 77/2018 die geltende - und im Revisionsfall zur Anwendung kommende - Fassung des § 6 Abs. 5 FLAG eingefügt, die lautet:

„(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3). Erheblich behinderte Kinder im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. c, deren Eltern ihnen nicht überwiegend den Unterhalt leisten und die einen eigenständigen Haushalt führen, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 und 3).“

18 Den Gesetzesmaterialien zufolge wurde diese Änderung vorgenommen, um die Anwendungsvoraussetzungen der Bestimmung - vor dem Hintergrund der bis dahin ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - zu präzisieren (vgl. Begründung des Initiativantrages 386/A 26. GP 2):

„Für den Fall, dass keinem Elternteil ein Anspruch auf Familienbeihilfe zusteht, besteht durch eine Sonderregelung die subsidiäre Möglichkeit, dass das Kind für sich selbst die Familienbeihilfe beanspruchen kann (Eigenanspruch auf Familienbeihilfe). Ein solcher Eigenanspruch ist nach der derzeitigen Rechtslage ausgeschlossen, wenn sich die Kinder auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Judikatur zum Ausdruck gebracht, dass in Konstellationen, bei denen typischer Unterhalt der Kinder (überwiegend) durch die öffentliche Hand gedeckt ist, ein Anspruch auf die Familienbeihilfe ausgeschlossen ist, wobei es nicht auf die Form der Unterbringung ankommt. Die in diesem Zusammenhang stehende Thematik, inwieweit ein Beitrag zu den Unterhaltskosten trotzdem einen Anspruch vermitteln kann, ist durch eine gesetzliche Präzisierung zu lösen.

Es soll nun sichergestellt werden, dass ein Eigenanspruch des Kindes auf Familienbeihilfe auch dann gegeben ist, wenn das Kind selbst aufgrund eines sozialversicherungsrechtlichen Anspruches (z.B. Pflegegeld) oder aufgrund einer eigenen Erwerbstätigkeit regelmäßig zur Deckung der Unterhaltskosten beiträgt. Gleiches soll gelten, sofern die Eltern zwar nicht überwiegend jedoch zumindest teilweise regelmäßig zum Unterhalt ihres Kindes beitragen.

Sofern der Unterhalt des Kindes zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe (bei Aufenthalt in einer sozialpädagogischen Einrichtung) oder zur Gänze aus Mitteln der öffentlichen Hand (zB durch eine Bedarfsorientierte Mindestsicherung oder die Grundversorgung) getragen wird, ohne dass ein oben angesprochener Beitrag geleistet wird, soll kein Anspruch auf die Familienbeihilfe bestehen, da in diesen Fällen der Mindestunterhalt des Kindes bereits vollständig durch Mittel der öffentlichen Hand sichergestellt ist.“

19 Nach der - in den zuletzt wiedergegebenen Gesetzesmaterialien erwähnten - ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sollte nach der Absicht des Gesetzgebers in Fällen, in denen der Unterhalt einer Person durch die Unterbringung in Anstaltspflege oder einem Heim durch die öffentliche Hand sichergestellt war, kein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehen, wobei es nicht auf die Art der Unterbringung ankam (Bezeichnung als Anstalt oder Heim), sondern ausschließlich auf die gänzliche Kostentragung durch die öffentliche Hand (vgl. ; , 2002/15/0181; , 2003/13/0162; , 2001/15/0075).

20 Diese Sichtweise wurde vom Verwaltungsgerichtshof - im Hinblick auf den mit dem Familienbeihilfenrecht verfolgten Zweck (Entlastung des Unterhaltsbelasteten) und den typisierenden Charakter der Regelungen des FLAG (vgl. , mwN) - für sämtliche Fallkonstellationen, in denen der typische Lebensunterhalt (ua Unterkunft, Bekleidung, Verpflegung) durch die öffentliche Hand gedeckt wird, vertreten (vgl. ; , Ra 2017/16/0053; sowie , Ra 2014/16/0014, zum Ausschluss der Familienbeihilfe subsidiär Schutzberechtigter, die Leistungen aus der Grundversorgung erhalten; , 2011/16/0173, bei Strafgefangenen; , 2007/13/0120, bei Ableistung des Zivildienstes; , 2004/15/0103, bei Ableistung des Präsenzdienstes).

21 Zur Frage, inwieweit ein Beitrag zu den Unterhaltskosten Auswirkungen auf den Eigenanspruch der Kinder haben kann, hat der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass eine gänzliche Unterhaltstragung durch die öffentliche Hand nicht mehr gegeben ist, wenn das Kind selbst zum eigenen Unterhalt beiträgt (vgl. etwa , mwN, zu einem Kind, das Pflegegeld und eine Waisenpension bezogen hatte).

22 Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass mit der Änderung des § 6 Abs. 5 FLAG (mit BGBl. I Nr. 77/2018) eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes beabsichtigt worden wäre. Nicht nur, dass nach den Gesetzesmaterialien lediglich eine „gesetzliche Präzisierung“ - und nicht etwa eine Neuregelung - vorgenommen werden sollte, bewegen sich die darin getätigten weiteren Ausführungen auf dem Boden der dargelegten bisherigen Rechtsprechung (vgl. nochmals zur Voraussetzung der gänzlichen Kostentragung durch die öffentliche Hand ).

23 Nach dem Gesagten ist daher auch nicht erkennbar, dass aufgrund der Änderung des § 6 Abs. 5 FLAG in einer Konstellation wie im vorliegenden Revisionsfall - vor dem Hintergrund einer (zumindest vorläufigen) gänzlichen Kostentragungsverpflichtung der öffentlichen Hand aufgrund der übertragenen Obsorge (vgl. vorliegend §§ 30, 32, 35 und 36 Wiener Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013, LGBl. Nr. 51/2013) - der Unterhalt des Kindes nicht mehr als „zur Gänze“ durch die öffentliche Hand getragen anzusehen sein soll, wenn Dritte - somit weder das Kind selbst, noch dessen Eltern - Kostenbeiträge zum Unterhalt des Kindes leisten.

24 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
FamLAG 1967 §6 Abs5 idF 2018/I/077
KJHG Wr 2013 §30
KJHG Wr 2013 §32
KJHG Wr 2013 §35
KJHG Wr 2013 §36
VwRallg
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2023:RO2020160048.J00
Datenquelle

Fundstelle(n):
GAAAF-46579