TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH 22.10.2024, Ra 2024/13/0002

VwGH 22.10.2024, Ra 2024/13/0002

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Norm
BAO §206 Abs1 litb
RS 1
Voraussetzung für die Abstandnahme von der Festsetzung nach § 206 Abs. 1 lit. b BAO ist, dass die Abgabenbehörde bzw. das VwG entsprechende Erhebungen durchführt und diese eindeutig ergeben, dass die Abgaben uneinbringlich sind (vgl. ).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2021/13/0128 E RS 1
Normen
BAO §206 Abs1 litb
BAO §206 Abs2
RS 2
Es entspricht der Absicht des Gesetzgebers, dass eine Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung gegenüber dem Abgabepflichtigen unabhängig davon möglich ist, ob für die betroffenen Abgaben persönliche Haftungen in Betracht kommen. Einer Inanspruchnahme persönlich Haftender soll die Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung aber nicht entgegenstehen.
Normen
BAO §12
BAO §20
BAO §206 Abs1 litb
BAO §206 Abs2
BAO §224 Abs1
BAO §224 Abs3
VwRallg
RS 3
Die Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung ist eine Ermessensentscheidung. Es kann zwar von der Festsetzung von Abgaben bereits dann Abstand genommen werden, wenn der Abgabenanspruch (nur) gegenüber dem Abgabenschuldner nicht durchsetzbar sein wird. Da aber eine derartige Abstandnahme der Inanspruchnahme persönlich Haftender nicht entgegenstehen soll, ist im Rahmen des Ermessens zu prüfen, ob die Abstandnahme - zum Zeitpunkt der jeweils vorzunehmenden Entscheidung - der Geltendmachung einer Haftung allenfalls deswegen entgegenstehen könnte, weil eine (aufgrund der Abstandnahme von der Festsetzung nunmehr) erstmalige (die Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung soll gegenüber den Haftungspflichtigen "keine Rechtswirkungen" entfalten, also auch nicht die einer früheren Geltendmachung gegenüber dem Abgabepflichtigen bewirken) Geltendmachung des Abgabenanspruches durch Haftungsbescheid nicht mehr zulässig wäre. Ist zu diesem Zeitpunkt wegen Zeitablaufs eine Geltendmachung der Haftung nicht mehr zulässig (oder aufgrund des alsbaldigen Eintritts der Bemessungsverjährung nicht mehr innerhalb dieser Frist tunlich), wird eine Abstandnahme von der Festsetzung im Allgemeinen nur dann erfolgen können, wenn mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass der Abgabenanspruch auch gegenüber den Haftungspflichtigen nicht durchsetzbar sein wird.

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat MMag. Maislinger, die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr.in Lachmayer sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Lukacic-Marinkovic, über die Revision des Finanzamts Österreich, Dienststelle Baden Mödling in 2500 Baden bei Wien, Josefsplatz 13, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom , Zl. RV/7103622/2016, betreffend u.a. Umsatzsteuer 2009 bis 2015 und Umsatzsteuervorauszahlungen 1-7/2015 (mitbeteiligte Parteien: 1. G K in T, vertreten durch die LMG Steuerberatungsgesellschaft mbH in 2512 Oeynhausen, Sochorgasse 3, 2. K KG in B und 3. Z K in T, beide vertreten durch die FELFERNIG Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Reichsratsstraße 15), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Spruchpunkt III) wegen Rechtwidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Erstmitbeteiligte und die Drittmitbeteiligte waren Gesellschafter der Zweitmitbeteiligten, eine mittlerweile aus dem Firmenbuch gelöschte Kommanditgesellschaft. Die Zweitmitbeteiligte betrieb in den streitgegenständlichen Jahren ein Nachtlokal, in dessen Rahmen und Räumlichkeiten auch sexuelle Dienstleistungen erbracht wurden.

2 Aufgrund einer durchgeführten Außenprüfung im Jahr 2015 wurden in den wiederaufgenommenen Umsatzsteuerverfahren der Jahre 2005 bis 2013 nicht verbuchte Umsätze geschätzt sowie hinzugerechnet und entsprechende Umsatzsteuerbescheide erlassen. Ebenso wurden nicht verbuchte Umsätze in den Umsatzsteuerbescheiden für die Jahre 2014 und 2015 berücksichtigt sowie die Vorauszahlungen der Umsatzsteuer 01-07/2015 entsprechend angepasst.

3 Begründend führte das Finanzamt aus, in den streitgegenständlichen Jahren hätten sechs Dienstleisterinnen in den dazugehörigen Räumlichkeiten des Nachtlokals gearbeitet. Diese hätten Trinkprovisionen für von den Gästen konsumierte Getränke erhalten und Erlöse für sexuelle Dienstleistungen nach zeitabhängig gestaffelten Zimmerpreisen erwirtschaftet. 45% dieser Erlöse hätte jedenfalls die Zweitmitbeteiligte erhalten, welche diese auch in ihrer Buchhaltung erfasst habe. Die übrigen 55% seien nach der Behauptung der Mitbeteiligten an die Dienstleisterinnen ausbezahlt worden. Diese seien jedoch der Zweitmitbeteiligten zuzurechnen. Eine Anerkennung der vermeintlichen Auszahlung an die Dienstleisterinnen als Betriebsausgabe sei zu versagen, weil die Dienstleisterinnen auf den vorgelegten Unterlagen unter einem Alias-Namen aufgelistet seien und somit eine eindeutige Zuordnung der Auszahlungen nicht möglich sei.

4 Die gegen die Wiederaufnahme- und Umsatzsteuerbescheide eingebrachte Beschwerde wurde mit Beschwerdevorentscheidung als unbegründet abgewiesen, woraufhin ein Vorlageantrag gestellt wurde.

5 Das Bundesfinanzgericht gab der Beschwerde hinsichtlich der Wiederaufnahme der Umsatzsteuer 2005 bis 2008 statt und behob diese ersatzlos (Spruchpunkt I). Die Beschwerde gegen die Wiederaufnahme der Umsatzsteuer 2009 wies es ab (Spruchpunkt II). Von der Festsetzung der Umsatzsteuer 01-07/2015 sowie 2008 (hier wohl gemeint: 2009) bis 2015 nahm es nach § 206 Abs. 1 lit. b BAO Abstand und stellte die dazugehörigen Beschwerdeverfahren ein (Spruchpunkt III). Die ordentliche Revision ließ das Bundesfinanzgericht nicht zu.

6 Hinsichtlich der Abstandnahme von der Festsetzung der Umsatzsteuer 01-07/2015 sowie 2009 bis 2015 stellte das Bundesfinanzgericht fest, das Recht, die Umsatzsteuer 2009 bis 2015 festzusetzen, sei nicht verjährt. Die Zweitmitbeteiligte sei aus dem Firmenbuch gelöscht. Sie habe ihre Betriebsgrundstücke im Jahr 2020 veräußert und habe laut Abgabeninformationssystem derzeit keine Umsätze und Einnahmen. Nach derzeitigem Wissensstand habe die Zweitmitbeteiligte keine Rechtsnachfolgerin und keinen Rechtsnachfolger. In rechtlicher Hinsicht verneinte das Bundesfinanzgericht eine „derzeitige“ Durchsetzbarkeit der Abgabenansprüche.

7 Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, welche vorbringt, es fehle eine nähere Begründung des Bundesfinanzgerichts, weshalb die Abgabenansprüche mit Bestimmtheit nicht durchsetzbar seien. Schon angesichts der Formulierung, dass alle Abgabenansprüche „derzeit“ nicht durchsetzbar seien, könne die erforderliche Bestimmtheit nicht abgeleitet werden. Dazu komme, dass das Bundesfinanzgericht in seiner Ermessensausübung nicht berücksichtigt habe, dass die Abgabenansprüche bei Nichtfestsetzung aufgrund der mittlerweile eingetretenen Festsetzungsverjährung nicht im Haftungsverfahren nach § 12 BAO bei den Gesellschaftern geltend gemacht werden könnten.

8 In dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren erstatteten die Mitbeteiligten inhaltsgleiche Revisionsbeantwortungen, in welchen unter anderem ausgeführt wird, dass nur die Drittmitbeteiligte als Komplementärin haften könne. Diese befände sich aktuell nur in einem aufrechten Dienstverhältnis.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und begründet.

11 Die Abstandnahme von der Festsetzung nach § 206 Abs. 1 lit. b BAO ist zulässig, wenn mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass der Abgabenanspruch gegenüber dem Abgabenschuldner nicht durchsetzbar sein wird.

12 Gemäß § 12 BAO haften die Gesellschafter von als solche abgabepflichtigen und nach bürgerlichem Recht voll oder teilweise rechtsfähigen Personenvereinigungen ohne eigene Rechtspersönlichkeit persönlich für die Abgabenschulden der Personenvereinigung. Der Umfang ihrer Haftung richtet sich nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes.

13 Voraussetzung für die Abstandnahme von der Festsetzung gemäß § 206 Abs. 1 lit. b BAO ist, dass die Abgabenbehörde bzw. das Verwaltungsgericht entsprechende Erhebungen durchführt und diese eindeutig ergeben, dass die Abgaben uneinbringlich sind (vgl. , mwN).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , 2010/15/0150, ausgesprochen, dass § 206 lit. b BAO (in der damals anwendbaren Fassung) auf eine anspruchsbezogene Betrachtung abstelle. Die Abstandnahme von der Festsetzung habe zur Voraussetzung, dass eindeutig feststehe, dass die Abgaben uneinbringlich sind, wobei die Uneinbringlichkeit nicht nur beim Abgabenschuldner selbst, sondern auch bei den allenfalls als Mitschuldner oder Haftenden in Betracht kommenden Personen gegeben sein müsse.

15 Mit dem Finanzverwaltungsgerichtsbarkeitsgesetz 2012, BGBl. I Nr. 14/2013, wurde § 206 BAO geändert. Der bisherige Text erhielt die Absatzbezeichnung „(1)“, in Abs. 1 lit. b wurde die Wortfolge „gegenüber dem Abgabenschuldner“ eingefügt. Weiters wurde ein Absatz 2 angefügt. Danach erlischt der Abgabenanspruch durch die Abstandnahme nicht. Die Abstandnahme berührt nicht die Befugnis, diesbezügliche persönliche Haftungen gegenüber Haftungspflichtigen geltend zu machen.

16 In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (2007 BlgNR 24. GP 16) wurde dazu ausgeführt:

„Die Änderungen des § 206 BAO dienen der Verwaltungsökonomie. Nach § 206 Abs. 1 lit. b BAO ermöglichen sie eine Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung gegenüber dem Abgabepflichtigen unabhängig davon, ob für die betroffenen Abgaben persönliche Haftungen in Betracht kommen. Dies gilt auch für in Beschwerdevorentscheidungen und in Erkenntnissen der Verwaltungsgerichte vorgenommene Abstandnahmen. Solche Abstandnahmen sprechen nicht über die Höhe des Abgabenanspruches ab. Sie stehen daher der Inanspruchnahme persönlich Haftender nicht entgegen; ihnen gegenüber entfalten Bescheide über den Abgabenanspruch (im Sinne des § 248 BAO), soweit in ihnen derartige Abstandnahmen erfolgen, keine Rechtswirkungen.“

17 Es entspricht sohin der Absicht des Gesetzgebers, dass eine Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung gegenüber dem Abgabepflichtigen unabhängig davon möglich ist, ob für die betroffenen Abgaben persönliche Haftungen in Betracht kommen. Einer Inanspruchnahme persönlich Haftender soll die Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung aber nicht entgegenstehen.

18 Gemäß § 224 Abs. 1 BAO werden die in Abgabenvorschriften geregelten persönlichen Haftungen durch Erlassung von Haftungsbescheiden geltend gemacht. Eine erstmalige Geltendmachung eines Abgabenanspruchs anlässlich der Erlassung eines Haftungsbescheides ist nach Eintritt der Verjährung des Rechtes zur Festsetzung der Abgabe nicht mehr zulässig (§ 224 Abs. 3 BAO).

19 Die Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Ritz/Koran, BAO7, § 206 Tz 1). Nach der nunmehr anwendbaren Rechtslage kann zwar von der Festsetzung von Abgaben bereits dann Abstand genommen werden, wenn der Abgabenanspruch (nur) gegenüber dem Abgabenschuldner nicht durchsetzbar sein wird. Da aber eine derartige Abstandnahme der Inanspruchnahme persönlich Haftender nicht entgegenstehen soll, ist im Rahmen des Ermessens zu prüfen, ob die Abstandnahme - zum Zeitpunkt der jeweils vorzunehmenden Entscheidung - der Geltendmachung einer Haftung allenfalls deswegen entgegenstehen könnte, weil eine (aufgrund der Abstandnahme von der Festsetzung nunmehr) erstmalige (die Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung soll gegenüber den Haftungspflichtigen „keine Rechtswirkungen“ entfalten, also auch nicht die einer früheren Geltendmachung gegenüber dem Abgabepflichtigen bewirken) Geltendmachung des Abgabenanspruches durch Haftungsbescheid nicht mehr zulässig wäre. Ist zu diesem Zeitpunkt wegen Zeitablaufs eine Geltendmachung der Haftung nicht mehr zulässig (oder aufgrund des alsbaldigen Eintritts der Bemessungsverjährung nicht mehr innerhalb dieser Frist tunlich), wird eine Abstandnahme von der Festsetzung im Allgemeinen nur dann erfolgen können, wenn mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass der Abgabenanspruch auch gegenüber den Haftungspflichtigen nicht durchsetzbar sein wird.

20 Das angefochtene Erkenntnis enthält keine Ausführungen zur Ermessensübung (vgl. zu diesem Erfordernis erneut , mwN).

21 Nach dem Gesagten hat das Bundesfinanzgericht sein Erkenntnis mit einer prävalierenden inhaltlichen Rechtwidrigkeit belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
BAO §12
BAO §20
BAO §206 Abs1 litb
BAO §206 Abs2
BAO §224 Abs1
BAO §224 Abs3
VwRallg
Schlagworte
Ermessen VwRallg8 Rechtsgrundsätze Verjährung im öffentlichen Recht VwRallg6/6
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2024:RA2024130002.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
LAAAF-46427