VwGH 31.01.2024, Ra 2023/13/0160
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | BAO §274 MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z3 12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 12010P/TXT Grundrechte Charta Art51 |
RS 1 | Die Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch das BFG stellt einen besonders gravierenden Verfahrensmangel dar, der im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta (GRC) jedenfalls zu einer Aufhebung der Entscheidung führt (vgl. etwa , mwN). Außerhalb des Anwendungsbereiches der GRC führt eine Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung dann zu einer Aufhebung der Entscheidung, wenn dieser Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf die angefochtene Entscheidung sein könnte und der Revisionswerber eine solche Relevanz auch aufzuzeigen vermochte. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/13/0038 B RS 8 (hier nur der erste Satz unter zusätzlicher Bezugnahme auf Art. 6 EMRK) |
Normen | |
RS 2 | Ein Vorsteuerabzug ist zu verweigern, wenn der Steuerpflichtige wusste, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war, oder er dies hätte wissen müssen. Ob dies der Fall ist, hängt von Tatfragen ab, die die Abgabenbehörde oder das VwG in freier Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen hat (vgl. ; , Ra 2020/13/0007, je mwN). |
Normen | |
RS 3 | Verfahrensrechtliche Bestimmungen (Normen des Verfahrensrechts) sind im Allgemeinen ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens auch auf Sachverhalte bzw. Rechtsvorgänge anzuwenden, die sich davor ereignet haben (vgl. , mwN). Für in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallende Abgabenverfahren ergibt sich seit aus Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. ; , 2012/15/0021). Dies gilt damit auch für zu diesem Zeitpunkt anhängige Verfahren. Eine Darstellung der Relevanz des Verfahrensmangels der unterbliebenen Verhandlung (auch bereits im Zulässigkeitsvorbringen) ist daher nicht erforderlich. |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma, den Hofrat MMag. Maislinger, die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr.in Lachmayer sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision der H Gesellschaft m.b.H. in W, vertreten durch die Hallas & Partner Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung GmbH & Co KG in 1020 Wien, Praterstraße 38, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom , Zl. RV/7101493/2005, betreffend Umsatzsteuer 10-11/2002, 1-4/2003, 6/2003 und 7/2003, zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 In der Niederschrift über das Ergebnis einer abgabenbehördlichen Prüfung vom wurde u.a. ausgeführt, die Revisionswerberin habe sich am Handel mit Musik-CDs und Game Boy Zubehör beteiligt. Nach Ansicht der Betriebsprüfung handle es sich - wie näher dargelegt - um ein Vorsteuerbetrugskarussell. Die nach Österreich verbrachten Produkte seien durch die Verrechnung dubioser Kosten für „Veredelungen“, „Lizenzen“ und „Komplettierung“ derart erhöht worden, dass von korrekten Abrechnungen nicht mehr gesprochen werden könne. Die Verrechnung der Produkte mit den weit überhöhten Werten habe nur dem Zweck des Vorsteuerbetrugs gedient. Die geltend gemachte Vorsteuer für diese Überfakturierungen könne daher nicht anerkannt werden.
2 Mit Bescheiden vom und vom setzte das Finanzamt die Umsatzsteuer für die Zeiträume 10-11/2002, 1-4/2003, 6/2003 und 7/2003 fest. In der Begründung wurde jeweils auf die Feststellungen der abgabenbehördlichen Prüfung verwiesen.
3 Die Revisionswerberin erhob mit Eingabe vom gegen diese Bescheide Berufung. Darin wurde u.a. ausgeführt, sollte das Finanzamt dieser Berufung nicht voll inhaltlich stattgeben können, werde auf die Herausgabe einer Berufungsvorentscheidung verzichtet und der Antrag gestellt, die Berufung dem unabhängigen Finanzsenat als Abgabenbehörde zweiter Instanz vorzulegen und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, zu der die Revisionswerberin zeitgerecht zu laden wäre. Es folgte sodann umfangreiches Bestreitungsvorbringen zum angenommenen „Steuerbetrug“.
4 Das Finanzamt holte eine Stellungnahme des Betriebsprüfers zur Beschwerde ein. Die Revisionswerberin brachte dazu eine Gegenäußerung ein.
5 Mit Vorlagebericht vom legte das Finanzamt die Berufung (ohne Berufungsvorentscheidung) dem unabhängigen Finanzsenat zur Entscheidung vor.
6 Mit Eingabe vom an den unabhängigen Finanzsenat erstattete die Revisionswerberin eine weitere Äußerung; sie verwies auf die Entscheidung des EuGH zu C-354/03, Optigen u.a., wonach Gesellschaften, die ohne ihr Wissen in einen Karussellbetrug verwickelt worden seien, Anspruch auf Erstattung der Vorsteuer hätten.
7 Ohne weitere erkennbare Verfahrenshandlungen wies das Bundesfinanzgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis die (nunmehrige) Beschwerde („vom “) gegen diese Bescheide als unbegründet ab. Es sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zugelassen werde.
8 Nach umfangreicher Schilderung des Verfahrensgeschehens führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin habe von der B GmbH Musik-CDs und Game-Boy-Zubehör erworben und an die kuwaitische A Group veräußert; die Revisionswerberin habe dabei üblicherweise mit einer Spanne von 5 % gearbeitet. Die Lieferungen der Revisionswerberin seien - wie mit der A Group vereinbart - an eine Anschrift in Tschechien erfolgt. Die Zahlungen durch die A Group seien teils per Banküberweisung, teils in bar (durch einen in Österreich ansässigen Repräsentanten der A Group) erfolgt. Die Lieferungen seien in ein Umsatzsteuerkarussell einbezogen gewesen. Das Recht auf Vorsteuerabzug sei zu versagen, wenn der Steuerpflichtige vom Mehrwertsteuerbetrug gewusst habe oder zumindest davon hätte wissen müssen. Da die Revisionswerberin der ihr zumutbaren Sorgfaltspflicht als ordentlicher Kaufmann nicht nachgekommen sei, sie vielmehr behauptet habe, sie habe nicht zu interessieren, was vor und was nach den Fakturierungen tatsächlich stattgefunden habe, sei davon auszugehen, dass die Revisionswerberin vom Umsatzsteuerbetrug hätte wissen müssen. Der Abzug der näher dargestellten Vorsteuern sei daher zu versagen.
9 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende Revision. Zur Zulässigkeit wird u.a. vorgebracht, das Bundesfinanzgericht verstoße gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Durchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung.
10 Nach Einleitung des Vorverfahrens hat das Finanzamt eine Revisionsbeantwortung eingebracht.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
12 Die Revision ist zulässig und begründet.
Gemäß § 323 Abs. 38 BAO sind die am bei dem unabhängigen Finanzsenat als Abgabenbehörde zweiter Instanz anhängigen Berufungen vom Bundesfinanzgericht als Beschwerden iSd Art. 130 Abs. 1 B-VG zu erledigen. Solche Verfahren betreffende Anbringen wirken mit auch gegenüber dem Bundesfinanzgericht.
13 Gemäß § 284 Abs. 1 Z 1 BAO idF vor dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013, hatte über die Berufung u.a. dann eine mündliche Verhandlung stattzufinden, wenn es in der Berufung beantragt wurde. Nach § 284 Abs. 3 BAO konnte der Berufungssenat ungeachtet eines Antrags in bestimmten (hier nicht vorliegenden) Fällen von einer mündlichen Verhandlung absehen.
14 In gleicher Weise (vgl. auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum FVwGG 2012, 2007 BlgNR 24. GP 19: die Bestimmungen über Senatsverhandlungen entsprechen im Wesentlichen der bisherigen Rechtslage) bestimmt § 274 Abs. 1 Z 1 BAO idF des FVwGG 2012, dass über die Beschwerde u.a. dann eine mündliche Verhandlung stattzufinden hat, wenn es in der Beschwerde beantragt wird. Nach § 274 Abs. 3 BAO kann der Senat ungeachtet eines Antrags in bestimmten, hier nicht vorliegenden Fällen von einer mündlichen Verhandlung absehen.
15 Der Revisionswerber hatte einen Antrag auf Verhandlung gestellt, wobei insoweit auch kein unzulässiges bedingtes Anbringen vorliegt (vgl. dazu z.B. , mwN). Das Bundesfinanzgericht hat über die Berufung ohne Durchführung einer Verhandlung entschieden; dem angefochtenen Erkenntnis ist eine Begründung für die Nichtdurchführung der Verhandlung nicht zu entnehmen.
16 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch das Bundesfinanzgericht einen besonders gravierenden Verfahrensmangel darstellt, der im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK sowie des Art. 47 GRC auch ohne Darstellung der Relevanz im Rahmen der Revision zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses führt (vgl. z.B. ; , Ra 2023/16/0005; , Ro 2020/15/0021, je mwN).
17 Umsatzsteuerverfahren fallen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts; es ist daher von der Anwendbarkeit der GRC auszugehen (vgl. z.B. , mwN).
18 Das Finanzamt macht dazu in der Revisionsbeantwortung geltend, die Charta der Grundrechte der Union sei (erst) am in Kraft getreten. Die Beschwerde (Berufung) sei aber bereits im Oktober 2003 erhoben und im August 2005 dem unabhängigen Finanzsenat vorgelegt worden. Nach der damaligen Rechtslage habe eine beantragte mündliche Verhandlung aus Gründen der Prozessökonomie entfallen können, wenn es sich um ausschließlich rechtliche Fragen oder in hohem Maße technische Fragen gehandelt habe.
19 Dazu ist zunächst zu bemerken, dass ein Vorsteuerabzug zu verweigern ist, wenn der Steuerpflichtige wusste, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war, oder er dies hätte wissen müssen. Ob dies der Fall ist, hängt von Tatfragen ab, die die Abgabenbehörde oder das Verwaltungsgericht in freier Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen hat (vgl. ; , Ra 2020/13/0007, je mwN). Im vorliegenden Verfahren handelt es sich demnach keineswegs um ausschließlich rechtliche oder in hohem Maße technische Fragen.
20 Entgegen dem Vorbringen in der Revisionsbeantwortung entsprach es aber der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor dem Inkrafttreten der GRC, dass eine Verletzung des Rechts auf Durchführung der mündlichen Berufungsverhandlung einen Verfahrensmangel darstellte, der nur dann zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führte, wenn die Behörde bei Vermeidung dieses Mangels zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, was vom (damaligen) Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgerichtshof darzustellen war (vgl. z.B. ; , 2006/15/0215, je mwN).
21 Verfahrensrechtliche Bestimmungen (Normen des Verfahrensrechts) sind im Allgemeinen ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens auch auf Sachverhalte bzw. Rechtsvorgänge anzuwenden, die sich davor ereignet haben (vgl. , mwN). Für in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallende Abgabenverfahren ergibt sich seit aus Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. ; , 2012/15/0021). Dies gilt damit auch für zu diesem Zeitpunkt anhängige Verfahren. Eine Darstellung der Relevanz des Verfahrensmangels der unterbliebenen Verhandlung (auch bereits im Zulässigkeitsvorbringen) ist daher im vorliegenden Verfahren nicht erforderlich.
22 Weiters macht das Finanzamt in der Revisionsbeantwortung geltend, das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergebe, dass das Vorbringen tatsachenwidrig sei, stehe im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 GRC, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden habe, in dessen Rahmen Parteiengehör gewahrt worden sei (Hinweis auf u.a.).
23 Diesem Vorbringen ist zu erwidern, dass das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zwar dann ausnahmsweise als mit der EMRK vereinbar angesehen werden kann, wenn besondere Umstände ein Absehen von einer solchen Verhandlung rechtfertigen (vgl. neuerlich , mwN). Unter welchen Voraussetzungen das Bundesfinanzgericht ungeachtet eines Antrages von einer mündlichen Verhandlung absehen kann, regelt § 274 Abs. 3 BAO. Ein derartiger Fall liegt unstrittig nicht vor.
24 Im Übrigen ist zu bemerken, dass ein geklärter Sachverhalt im Sinne des Vorbringens des Finanzamts nur vorläge, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufgewiesen hätte. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden; bloß unsubstantiiertes Bestreiten kann außer Betracht bleiben (vgl. , mwN). In der Beschwerde (Berufung) wurde aber der vom Finanzamt angenommene Sachverhalt umfangreich (nicht bloß unsubstantiiert) bestritten. Dass dieses Vorbringen der Revisionswerberin „zweifelsfrei tatsachenwidrig“ sei (vgl. dazu ), ist nicht erkennbar.
25 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
26 Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesfinanzgericht auch zu prüfen haben, ob - wie die Revisionswerberin geltend macht und das Finanzamt nicht bestreitet - in der Zwischenzeit (am ) die Veranlagungsbescheide betreffend Umsatzsteuer 2002 und 2003 ergangen sind; diese wären gemäß § 274 BAO (idF vor dem FVwGG 2012; vgl. nunmehr § 253 BAO) an die Stelle der Festsetzungsbescheide getreten.
27 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | |
Schlagworte | Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2024:RA2023130160.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
CAAAF-46310