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VwGH 19.01.2023, Ra 2022/19/0318

VwGH 19.01.2023, Ra 2022/19/0318

Entscheidungsart: Beschluss

Rechtssatz


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Normen
AVG §45 Abs1
AVG §45 Abs3
AVG §58 Abs2
AVG §60
VwGVG 2014 §17
RS 1
Eine Behörde bzw. ein VwG hat die Annahme, dass ein der Entscheidung zugrunde gelegter Sachverhalt offenkundig (§ 45 Abs. 1 AVG) ist, zu begründen (vgl. , mwN). Den Parteien ist Gelegenheit zur Stellungnahme darüber zu geben, was der Behörde amtsbekannt erscheint (vgl. , mwN). Erst auf dieser Grundlage ist eine Überprüfung der Richtigkeit der Sachverhaltsannahmen für die Parteien und den VwGH möglich. Allein der Umstand, dass das VwG einen bestimmten Sachverhalt - insbesondere die Lage im Herkunftsstaat eines Asylwerbers - als "notorisch" erachtet, genügt daher den Anforderungen an ein mängelfreies Verfahren nicht (vgl. , mwN).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2019/19/0085 E RS 3 (hier: nur der letzte Satz)

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag des M, geboren 1986, vertreten durch die Önal Rechtsanwalt GmbH in 8020 Graz, Kärntner Straße 7b/II, der gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , G304 2216494-1/8E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), erhobenen Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, den Beschluss gefasst:

Spruch

Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird dem Antragstattgegeben.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht - im Beschwerdeverfahren - den Antrag des aus dem Irak stammenden Revisionswerbers auf internationalen Schutz ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

2 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, mit der ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verbunden ist. Begründend wird vorgebracht, dem Revisionswerber drohe im Fall einer Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein die öffentlichen Interessen an der Abschiebung überwiegender Nachteil.

3 Gemäß § 30 Abs. 2 erster Satz VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag des Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses oder mit der Ausübung der durch das angefochtene Erkenntnis eingeräumten Berechtigung für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.

4 Ausgehend davon ist nicht zu erkennen, dass der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung zwingende oder zumindest überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen, weshalb dem Antrag stattzugeben war.

Wien, am

Entscheidungstext

Entscheidungsart: Erkenntnis

Entscheidungsdatum:

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des M-H H A (auch M A), vertreten durch Mag. Thomas Klein, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Kärntner Straße 7b, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , G304 2216494-1/8E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger aus Mossul, stellte am  einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, vor den Terroristen des IS, die seine Heimatstadt besetzt und ihn aufgefordert hätten, mit ihnen zu kämpfen, geflohen zu sein.

2 Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 In seiner Begründung ging das BFA von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aufgrund von Widersprüchen in den Angaben des Revisionswerbers und von einer internen Relokationsmöglichkeit in Bagdad aus.

4 Die dagegen erhobene Beschwerde, in der auch der Beweiswürdigung des BFA näher entgegengetreten wurde, wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

5 In seiner Begründung traf das BVwG - ohne nähere Quellenangaben - Feststellungen zur allgemeinen Situation im Irak. Ferner traf das BVwG erstmals Feststellungen zur Einreise in den Irak und stützte diese auf Länderberichte, die nach der Bescheiderlassung publiziert wurden. Auch das BVwG erachtete die Fluchtgründe des Revisionswerbers im Wesentlichen aus den vom BFA näher genannten Gründen als unglaubwürdig. In Anbetracht amtsbekannter Länderberichte komme zwar - so das BVwG - die Rückkehr des Revisionswerbers in seine Herkunftsstadt Mossul wegen einer drohenden Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK nicht in Betracht. Wie sich aus dem Asylverfahren seines in Österreich lebenden Bruders ergeben habe, lebe allerdings in Erbil eine (bislang unerwähnt gebliebene) Schwester des Revisionswerbers, mit deren Hilfe er eine zunächst einmonatige Aufenthaltsgenehmigung erlangen und bei der er auch zumindest vorübergehend Unterkunft erhalten könnte. Davon, dass der Revisionswerber zu ihr keinen Kontakt habe, werde „mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit“ nicht ausgegangen, weil der Revisionswerber seine in Erbil lebende Schwester ansonsten erwähnt hätte. Ihre Existenz habe er offenbar geheim halten wollen, um die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative auszuschließen. Vor dem Hintergrund amtsbekannter Länderberichte sei für den Revisionswerber von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in Erbil auszugehen.

6 Mit Beschluss vom , E 1947/2022-10, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen das Erkenntnis des BVwG gerichteten Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

7 Über die in der Folge erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit wird in der Revision unter anderem eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dadurch, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Unrecht unterblieben sei, geltend gemacht.

9 Im Hinblick auf dieses Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und auch berechtigt.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

11 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa , mwN).

12 Diesen Grundsätzen hat das BVwG nicht entsprochen:

13 Im vorliegenden Fall traf das BVwG auf Basis aktueller Länderberichte Feststellungen zur Einreise in den Irak, die vom BFA unterlassen worden waren. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch bereits klargestellt, dass die vom BVwG erkannte Notwendigkeit, zur Situation im Herkunftsstaat eines Asylwerbers aktuelle Länderberichte einzuholen und die Feststellungen des BFA zu ergänzen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich macht (vgl. , mwN).

14 Auch zum festgestellten Sachverhalt, auf dessen Grundlage das BVwG - abweichend von der Begründung des BFA - von einer innerstaatlichen Fluchtalternative des Revisionswerbers in Erbil ausging, wäre Parteiengehör einzuräumen gewesen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Feststellungen unter anderem auf Schlussfolgerungen gründeten, die das BVwG aus Angaben ableitete, die der Bruder des Revisionswerbers im Rahmen seines Asylverfahrens im Jahr 2018 gemacht hatte. Was die in diesem Zusammenhang vorgenommene Würdigung des BVwG anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen hat (vgl. , mwN).

15 Insoweit sich das BVwG überdies auf amtsbekannte Länderberichte stützte, genügt der Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach allein der Umstand, dass das Verwaltungsgericht einen bestimmten Sachverhalt - insbesondere die Lage im Herkunftsstaat eines Asylwerbers - als „notorisch“ erachtet, nicht den Anforderungen an ein mängelfreies Verfahren genügt (vgl. , mwN).

16 Demnach lagen hier - entgegen der Annahme des BVwG - die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im (hier vorliegenden) Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. , mwN).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesen Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Norm
VwGG §30 Abs2
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022190318.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
JAAAF-46163