VwGH 20.10.2022, Ra 2022/13/0035
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | BAO §108 VwRallg |
RS 1 | Ab Einlangen in der Einlaufstelle befindet sich ein Schriftsatz in der Sphäre der Behörde, die sich der Einlaufstelle bedient. Die Unterlassung der (rechtzeitigen) Weiterleitung des Schriftsatzes von der Einlaufstelle an die jeweils zuständige Stelle stellt einen behördlichen Fehler dar (vgl. , mwN). |
Norm | |
RS 2 | Ein Anbringen liegt erst dann vor, wenn die Eingabe tatsächlich bei der Behörde einlangt. |
Norm | |
RS 3 | Geht die Sendung nach Übergabe an die Post verloren und langt sie daher nicht bei der Behörde ein, ist dies ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis, das zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berechtigt (vgl ). Der Verlust eines nicht eingeschriebenen Briefes stellt auch kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden dar, weil auch ohne diese besondere Form der Postaufgabe mit dem Einlangen des Schriftstückes bei der Behörde gerechnet werden kann (vgl , und vom , Ra 2015/02/0050). Auch in der Unterlassung der (allgemein jedenfalls nicht vorgeschriebenen) Überprüfung des Einlangens der Erklärungen bei der Abgabenbehörde erster Instanz kann kein auffallend sorgloses Verhalten erblickt werden (vgl ). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie 2013/17/0137 E RS 3 |
Normen | |
RS 4 | Als Hindernis iSd § 308 Abs. 3 BAO ist jenes Ereignis iSd § 308 Abs. 1 BAO zu verstehen, das die Fristeinhaltung verhindert hat. Besteht das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis in einem Irrtum, so fällt dieses Hindernis bereits dann weg, sobald die Partei (oder ihr Vertreter) diesen Irrtum als solchen erkennen konnte und musste (vgl. ; , Ro 2018/16/0014, mwN; vgl. auch - zu § 46 VwGG - ; , 2011/15/0146; , Ra 2015/16/0083, mwN; vgl. weiters - zu § 33 VwGVG - , mwN). Für den Lauf der Wiedereinsetzungsfrist kommt es somit auf den Zeitpunkt der zumutbaren Erkennbarkeit des Irrtums an, also auf den Wegfall des Irrtums oder der Umstände, unter denen er nicht in einer der Wiedereinsetzung entgegen stehenden Weise vorwerfbar ist (vgl. ). Der Wiedereinsetzung entgegen steht der Irrtum aber dann, wenn der mindere Grad des Versehens überschritten ist (vgl. - zu § 46 VwGG - ). |
Normen | |
RS 5 | Nach der Rechtsprechung des OGH zu § 146 ZPO, an welche Bestimmung jene des § 308 BAO nach der Absicht des Gesetzgebers im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsordnung angepasst werden sollte (108 BlgNR 17. GP 45), beginnt der Lauf der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrages nicht erst mit der Aufklärung des Irrtums, sondern bereits mit seiner möglichen Aufklärung. Diese Frist wird aber nur dann in Lauf gesetzt, wenn die mögliche Aufklärung nicht nur wegen eines minderen Grades des Versehens unterblieben ist; es darf nämlich bei der Beurteilung dieser Frage kein strengerer Maßstab angelegt werden als bei der Versäumung der Frist selbst (vgl. RIS-Justiz RS0036608). Ist die Prozesshandlung durch einen Irrtum versäumt worden, beginnt die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand also mit dessen möglicher Aufklärung, sofern diese durch auffallende Sorglosigkeit unterblieben ist (vgl. RIS-Justiz RS0036742; z.B. ). Auf diese Rechtsprechung verweist auch der VfGH (vgl. z.B. u.a., mwN). |
Entscheidungstext
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2022/13/0036
Ra 2022/13/0037
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und die Hofräte MMag. Maislinger und Dr. Sutter sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher und den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revisionen 1. der G GmbH als Rechtsnachfolgerin der A GmbH, 2. der G GmbH als Rechtsnachfolgerin der O GmbH, und 3. der I AG, alle in W, alle vertreten durch die KPMG Alpen-Treuhand GmbH, Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft in 1090 Wien, Porzellangasse 51, gegen die Erkenntnisse des Bundesfinanzgerichts jeweils vom , Zlen. 1. RV/7102903/2021, 2. RV/7102902/2021 und 3. RV/7102176/2021, jeweils betreffend Zurückweisung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Gruppenfeststellung 2012), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die drittrevisionswerbende Partei (I AG) ist - nach den insoweit nicht bestrittenen Sachverhaltsannahmen des Bundesfinanzgerichts - Gruppenträgerin einer Unternehmensgruppe (I Unternehmensgruppe) mit mehr als 100 Gruppenmitgliedern. Im Jahr 2012 stellte sich die Beteiligungsstruktur nach Umgründungsmaßnahmen - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - (vereinfacht) so dar, dass die I AG (mittelbar) an einer niederländischen Gesellschaft (BV) beteiligt war; diese war an der inländischen D GmbH beteiligt, welche wiederum an den Rechtsvorgängerinnen der erstrevisionswerbenden Partei (in der Folge: A GmbH) und der zweitrevisionswerbenden Partei (in der Folge: O GmbH) beteiligt war. Die O GmbH war schließlich an der S GmbH beteiligt.
2 Mit Gruppenfeststellungsbescheid vom stellte das Finanzamt fest, dass die Zugehörigkeit der S GmbH zur I Unternehmensgruppe mit der Veranlagung 2012 ende. Gegen diesen Bescheid erhoben die I AG und die S GmbH Beschwerde.
3 Mit weiterem Gruppenfeststellungsbescheid vom stellte das Finanzamt fest, dass die Zugehörigkeit (u.a.) der A GmbH und der O GmbH zur I Unternehmensgruppe mit der Veranlagung 2012 ende.
4 Mit Schriftsatz vom beantragten die revisionswerbenden Parteien die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einreichung einer Bescheidbeschwerde gegen den Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom . Gleichzeitig holten sie die versäumte Handlung (Bescheidbeschwerde) nach.
5 Zum Antrag auf Wiedereinsetzung brachten die revisionswerbenden Parteien vor, sie hätten mit Schreiben vom innerhalb verlängerter Frist Beschwerde gegen den Bescheid vom erhoben. Das Bundesfinanzgericht habe mit Erkenntnis vom die Beschwerde gegen den Bescheid vom über das Ausscheiden der S GmbH (aus der I Unternehmensgruppe) als unbegründet abgewiesen. Diese Entscheidung sei u.a. damit begründet worden, dass eine Beschwerde gegen den Gruppenfeststellungsbescheid 2012 betreffend das übergeordnete Gruppenmitglied (die O GmbH) beim Finanzamt nie eingelangt sei. Der Bescheid vom über das festgestellte Ausscheiden der O GmbH aus der I Unternehmensgruppe sei somit in Rechtskraft erwachsen; dies führe auch zum Ausscheiden der S GmbH. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am Bundesfinanzgericht in der Rechtssache der S GmbH habe die belangte Behörde vorgebracht, dass eine Beschwerde gegen den Bescheid vom nie bei ihr eingegangen sei. Von der S GmbH (bzw. dem gemeinsamen steuerlichen Vertreter) seien Unterlagen über die fristgerechte Einbringung der Beschwerde gegen den Bescheid vom vorgelegt worden. Eine Sendungsnachverfolgung sei im Hinblick auf den verstrichenen Zeitraum nicht mehr möglich gewesen. Es sei davon auszugehen, dass die eingeschrieben eingebrachte Beschwerde am Postweg verloren gegangen sei. Es handle sich dabei um ein unvorhergesehenes Ereignis. Es liege auch kein grobes Verschulden vor. Andere, gleichzeitig zur Post gegebene Sendungen, seien auch beim Finanzamt eingelangt. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei rechtzeitig. Die Fristversäumung sei erstmals am erkennbar gewesen; dies sei jener Tag, an dem die Ladungen zur mündlichen Verhandlung am Bundesfinanzgericht betreffend die Rechtssache der S GmbH bei der S GmbH und der I AG eingelangt seien. In diesen Ladungen sei die Aufforderung enthalten gewesen, jene Beweismittel zur Verhandlung mitzubringen, aus denen hervorgehe, dass eine Beschwerde gegen den Bescheid vom fristgerecht bei der belangten Behörde „eingelangt“ sei. Damit sei für die revisionswerbenden Parteien erstmals erkennbar gewesen, dass durch das mögliche Nichteinlangen der am nachweislich aufgegebenen Beschwerde eine Fristversäumnis vorliege. Die Frist zur Antragstellung ende demnach am . Sodann wurde Vorbringen betreffend die Beschwerde gegen den Bescheid vom erstattet.
6 Mit Bescheid vom wies das Finanzamt den Antrag auf Wiedereinsetzung zurück. In der Begründung führte das Finanzamt im Wesentlichen aus, mit Zugang der Beschwerdevorentscheidung vom (betreffend Beschwerde gegen den Bescheid vom , Rechtssache S GmbH) sei den revisionswerbenden Parteien bereits bekannt geworden, dass der Bescheid vom in Rechtskraft erwachsen sei; auf diesen Umstand sei in der Begründung jener Beschwerdevorentscheidung hingewiesen worden. Auch der Beschluss des Bundesfinanzgerichts in der Rechtssache der S GmbH vom weise darauf hin, dass der Bescheid vom in Rechtskraft erwachsen sei. Den revisionswerbenden Parteien sei demnach die Fristversäumnis bereits vor dem bekannt gewesen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei sohin als verspätet zurückzuweisen gewesen.
7 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen diesen Bescheid Beschwerde. In der Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, aus der Beschwerdevorentscheidung in der Rechtssache der S GmbH sowie dem Beschluss des Bundesfinanzgerichts vom sei eine Fristversäumnis betreffend die Einbringung der Beschwerde gegen den Bescheid vom nicht erkennbar gewesen. Allein aus dem Hinweis darüber, der Bescheid vom sei in Rechtskraft erwachsen, sei nicht erkennbar, dass die Beschwerde nicht eingelangt sei. Im Vorlageantrag in der Rechtssache der S GmbH sei auch geltend gemacht worden, dass der Bescheid vom im Hinblick auf die erhobene Beschwerde nicht in Rechtskraft erwachsen und über diese Beschwerde noch nicht abgesprochen worden sei. Hinzuweisen sei auch darauf, dass sowohl die Beschwerdevorentscheidung vom als auch der Beschluss des Bundesfinanzgerichts vom eine andere Rechtssache (S GmbH) und ein anderes Verfahren beträfen; insoweit liege keine zumutbare Erkennbarkeit der Fristversäumnis für das vorliegende Verfahren und die vorliegenden revisionswerbenden Parteien vor.
8 Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies das Finanzamt die Beschwerde als unbegründet ab.
9 Die revisionswerbenden Parteien beantragten die Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht.
10 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesfinanzgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Es sprach jeweils aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
11 Nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, der Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom sei u.a. an die I AG als Gruppenträgerin sowie an die O GmbH und die A GmbH gerichtet gewesen; er sei diesen am zugegangen. Die Frist zur Beschwerdeerhebung gegen diesen Bescheid sei bis zum verlängert worden. Der steuerliche Vertreter der revisionswerbenden Parteien habe einen mit datierten Beschwerdeschriftsatz (der I AG, der A GmbH und der O GmbH) verfasst, der am selben Tag der Post zum „eingeschriebenen“ Versand übergeben worden sei. Dass dieses Schriftstück bei der belangten Behörde eingelangt sei, könne unstrittig nicht belegt werden. Bis zur Stellung des gegenständlichen Wiedereinsetzungsantrags hätten die revisionswerbenden Parteien weder ordentliche noch außerordentliche Rechtsmittel in dieser Sache erhoben.
12 Mit Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom sei das Ausscheiden der S GmbH aus der Unternehmensgruppe festgestellt worden. Auch gegen diesen Bescheid habe die I AG (sowie hier die S GmbH) Beschwerde erhoben, wobei derselbe steuerliche Vertreter tätig geworden sei. Die abweisende Beschwerdevorentscheidung vom enthalte folgendes Begründungselement:
„Aus technischen Gründen wurde über das Ausscheiden der Beschwerdeführerin separat mit dem angefochtenen Gruppenfeststellungsbescheid vom abgesprochen.
In einem zweiten Schritt wurde über das Ausscheiden der [O GmbH] und der [A GmbH] mit Gruppenfeststellungsbescheid vom abgesprochen. Die Abgabenbehörde hält fest, dass der Gruppenfeststellungsbescheid vom betreffend Ausscheiden der [O GmbH] in Rechtskraft erwachsen ist.“
13 Im Vorlageantrag vom habe der steuerliche Vertreter der I AG zur Entgegnung der Darstellung betreffend den in Rechtskraft erwachsenen Bescheid ausgeführt:
„Der Feststellung der Abgabenbehörde, dass der Gruppenfeststellungsbescheid 2012 [...] vom bereits in Rechtskraft erwachsen sei, ist entgegenzuhalten, dass gegen diesen Bescheid sowohl von der [A GmbH] und der [O GmbH] als betroffene Gruppenmitglieder, als auch von der [I AG] als Gruppenträger innerhalb verlängerter Frist am das Rechtsmittel der Bescheidbeschwerde gemäß § 243 BAO erhoben wurde. Da über die Bescheidbeschwerde bislang nicht abgesprochen wurde, kann dieser Bescheid - entgegen der Ansicht der Abgabenbehörde in der Beschwerdevorentscheidung vom - nicht in Rechtskraft erwachsen sein.“
14 Im Zeitpunkt der Erstellung des Vorlageantrages vom habe der gemeinsame steuerliche Vertreter der I AG und der weiteren revisionswerbenden Parteien offenkundig erkannt, dass die belangte Behörde von einem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren ausgegangen sei.
15 Mit Beschluss vom , zugestellt am , habe das Bundesfinanzgericht die I AG sowie die S GmbH aufgefordert, „bekannt zu geben, ob der Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom in Rechtskraft erwachsen ist und die für ihre Antwort zweckentsprechenden Unterlagen vorzulegen“. In der Begründung dieses Beschlusses sei auszugsweise angeführt worden:
„In dieser Beschwerdevorentscheidung (Seite 3) hält die belangte Behörde zudem fest, dass der Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom betreffend Ausscheiden der [O GmbH] in Rechtskraft erwachsen sei. Im Vorlageantrag vom findet sich hingegen der Hinweis, dass die [O GmbH] innerhalb einer verlängerten Rechtsmittelfrist am eine Bescheidbeschwerde gegen den Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom erhoben habe.“
16 In der Vorhaltsbeantwortung vom habe der steuerliche Vertreter der I AG ausgeführt, es sei innerhalb offener und verlängerter Rechtsmittelfrist am die Beschwerde gegen den Bescheid vom übermittelt worden. Dieser Bescheid sei daher noch nicht rechtskräftig.
17 Für den steuerlichen Vertreter der I AG sei somit bei entsprechender Sorgfaltswaltung vor dem erkennbar gewesen, dass betreffend den Bescheid vom kein Rechtsmittel anhängig gewesen sei.
18 In der an die I AG gerichteten Ladung des Bundesfinanzgerichts vom (zugestellt am ) habe das Bundesfinanzgericht u.a. ausgeführt:
„Eine Kopie des Fristverlängerungsersuchens war dem Antwortschreiben beigelegt. Jedoch wurden keine Nachweise für das ‚Übermitteln‘ und das Einlangen einer Beschwerde vom vorgelegt.
Sie werden daher aufgefordert, jene Beweismittel zur mündlichen Verhandlung mitzubringen, aus denen hervorgeht, dass eine Beschwerde gegen den Gruppenfeststellungsbescheid 2012 vom fristgerecht bei der belangten Behörde eingelangt ist.“
19 In der Rechtssache der S GmbH habe sodann am eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Dabei sei das Einlangen des Beschwerdeschriftsatzes vom thematisiert worden. Der steuerliche Vertreter habe Kopien aus dem Postausgangsverzeichnis vorgelegt. Die revisionswerbenden Parteien und ihr steuerlicher Vertreter hätten zu keinem Zeitpunkt Erkundungen eingeholt, warum die belangte Behörde in der Beschwerdevorentscheidung vom in der Rechtssache der S GmbH von einem abgeschlossenen Verfahren in der Beschwerdesache ausgegangen sei.
20 Die Beförderung eines Schriftsatzes durch die Post erfolge auf Gefahr des Absenders; die Beweislast für das Einlangen des Schriftstückes bei der Behörde treffe den Absender. Dafür reiche der Beweis der Postaufgabe nicht aus. Mangels nachgewiesenen (rechtzeitigen) Einlangens des Beschwerdeschriftsatzes bei der belangten Behörde sei diese zu Recht von der Rechtskraft des Bescheides vom ausgegangen.
21 Aus dem bloßen Umstand, dass sich die revisionswerbenden Parteien das Einlangen der Beschwerde durch die belangte Behörde nicht hätten bestätigen lassen oder das Einlangen mittels Sendungsverfolgung überprüft hätten, könne kein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden abgeleitet werden, weil auch ohne eingeschriebene Form der Postaufgabe mit dem Einlangen des Schriftstückes bei der Behörde gerechnet werden könne. Die Voraussetzungen des § 308 BAO seien somit an sich erfüllt.
22 Strittig sei aber, ob der Antrag rechtzeitig eingebracht worden sei. Fristrelevant sei dabei, wann die Partei die Fristversäumung erkennen konnte und musste; es komme auf den Zeitpunkt der zumutbaren Erkennbarkeit des Irrtums an. Maßgebend sei sohin, zu welchem Zeitpunkt den steuerlich vertretenen revisionswerbenden Parteien bei Anwendung pflichtgemäßer Aufmerksamkeit die Erkennbarkeit des Nichteinlangens des Beschwerdeschriftsatzes bei der belangten Behörde zuzumuten gewesen sei.
23 Ein Bescheid sei formell rechtskräftig, wenn er durch ordentliche Rechtsmittel nicht mehr anfechtbar sei. Indem die belangte Behörde in der Beschwerdevorentscheidung vom in der Rechtssache der S GmbH begründend festgehalten habe, dass der Bescheid vom in Rechtskraft erwachsen sei, könne bei systematischer Gesetzesinterpretation sinnhaft lediglich die formelle Rechtskraft des Bescheides gemeint sein. Die formelle Rechtskraft habe insoweit nur dann eintreten können, wenn entweder der Beschwerdeschriftsatz vom nicht bei der belangten Behörde eingelangt wäre oder die belangte Behörde allenfalls bereits mit Beschwerdevorentscheidung entschieden hätte, diese allerdings der (dortigen) Beschwerdeführerin nicht zugegangen wäre, die Behörde aber von der Zustellung ausgegangen wäre. Da eine Direktvorlage an das Bundesfinanzgericht im Beschwerdeschriftsatz vom nicht beantragt worden sei und auch die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen für das Absehen einer Beschwerdevorentscheidung nicht vorgelegen seien, hätte jedenfalls eine Beschwerdevorentscheidung ergehen sollen. Eine solche sei der Beschwerdeführerin unstrittig nicht zugegangen. Wenn daher die belangte Behörde in der Beschwerdevorentscheidung in der Rechtssache der S GmbH ausführe, der Bescheid vom sei in Rechtskraft erwachsen, könne damit nur gemeint gewesen sein, dass die Frist zur Erhebung eines Rechtsmittels ungenützt verstrichen sei. Ein rechtskundiger Parteienvertreter hätte dies bei Anwendung pflichtgemäßer Aufmerksamkeit jedenfalls erkennen können, auch wenn die belangte Behörde nicht ausdrücklich auf das Einlangen der Beschwerde Bezug genommen habe.
24 Offensichtlich sei diese Problematik von der steuerlich vertretenen I AG auch erkannt worden, wenn sie im Vorlageantrag in der Rechtssache der S GmbH ausdrücklich auf die Rechtskraft des Bescheides vom Bezug nehme, indem sie ausführe, sie habe fristgerecht Bescheidbeschwerde erhoben; darüber sei noch nicht abgesprochen worden. Zudem sei in der Vorhaltsbeantwortung vom ausdrücklich auf die „Einbringung“ der Beschwerde Bezug genommen worden.
25 Trotz zumutbarer Erkennbarkeit und offensichtlichen Erkennens der Problematik durch den Parteienvertreter im Vorlageantrag sowie auch in der Vorhaltsbeantwortung seien vom steuerlichen Vertreter keine zumutbaren Erkundungen eingeholt worden, um entsprechende rechtliche Korrektive wie etwa einen Wiedereinsetzungsantrag fristgerecht ergreifen zu können. Auch eine Säumnisbeschwerde nach Ablauf der sechsmonatigen Entscheidungsfrist sei in Bezug auf den Beschwerdeschriftsatz vom nicht erhoben worden.
26 Ob die revisionswerbenden Parteien oder ihr steuerlicher Vertreter die Beschwerdefristversäumung als solche tatsächlich erkannt hätten, sei nicht von Bedeutung; es komme nur auf die zumutbare Erkennbarkeit an. Aufgrund dieser zumutbaren Erkennbarkeit habe die Revisionswerberin auch nicht auf ordnungsgemäße Zustellung aufgrund der Postaufgabe vertrauen dürfen.
27 Soweit die revisionswerbenden Parteien geltend machten, dass die Beschwerdevorentscheidung vom ein anderes Rechtsmittelverfahren betreffe, sei ihnen entgegenzuhalten, dass die I AG als Gruppenträgerin Bescheidadressatin dieser Beschwerdevorentscheidung und Verfahrenspartei jenes Verfahrens gewesen sei. Auch der vorliegende Wiedereinsetzungsantrag sei u.a. von der I AG eingebracht worden. Sämtliche Rechtsmittelschriftsätze seien von derselben Steuerberatungskanzlei, für die auch jeweils dieselbe Person gehandelt habe, eingebracht worden. Die steuerlich vertretenen revisionswerbenden Parteien räumten auch selbst ein, dass ihnen mit Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung in der Rechtssache der S GmbH das Hindernis erkennbar gewesen sei.
28 Das Bundesfinanzgericht gehe davon aus, dass bei entsprechender Sorgfaltswaltung, die einem Parteienvertreter zugemutet werden könne, der Zeitpunkt des erstmaligen zumutbaren Erkennens jedenfalls vor dem liege, womit sich der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als verspätet erweise.
29 Gegen diese Erkenntnisse wenden sich die vorliegenden Revisionen. Zur Zulässigkeit wird u.a. ausgeführt, es liege keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vor, ob im Falle einer Versäumung der Beschwerdefrist die Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung bereits mit dem bloßen (Rechtsfolgen-)Hinweis der Abgabenbehörde bzw. des Bundesfinanzgerichtes in einem anderen Verfahren auf ein „Erwachsen in Rechtskraft“ des gegenständlichen Bescheides zu laufen beginne, obwohl die Tatsache des Nichteinlangens der Beschwerde für die Revisionswerberin nicht erkennbar gewesen sei. Die Gleichsetzung von Rechtsfolge („Erwachsen in Rechtskraft“) und Tatsachenfeststellung („Nichteinlangen der Bescheidbeschwerde bei der Abgabenbehörde“) sei unschlüssig, weil sie einen verfahrensübergreifenden Rückschluss der Revisionswerberinnen verlange und die Rechtskraft eines Bescheides nicht ausschließlich durch das Nichteinlangen der Bescheidbeschwerde bei der Abgabenbehörde bewirkt werden könne.
30 Nach Einleitung des Vorverfahrens hat die belangte Behörde (nunmehr das Finanzamt für Großbetriebe) eine Revisionsbeantwortung eingebracht; die revisionswerbenden Parteien erstatteten hiezu eine Replik.
31 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung erwogen:
32 Die Revisionen sind zulässig und begründet.
33 Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist nach § 308 Abs. 1 BAO auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
34 Der Antrag auf Wiedereinsetzung muss nach § 308 Abs. 3 BAO binnen einer Frist von drei Monaten nach Aufhören des Hindernisses bei der Behörde (Abgabenbehörde oder Verwaltungsgericht), bei der die Frist wahrzunehmen war bzw. bei der die Verhandlung stattfinden sollte, eingebracht werden.
35 Dass ein Versehen minderen Grades die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht hindert, beruht auf einer mit dem zweiten Abgabenänderungsgesetz 1987, BGBl. Nr. 312, vorgenommenen Änderung. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (108 BlgNR 17. GP 45) wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, § 308 Abs. 1 BAO solle im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsordnung der Änderung der ZPO durch die Zivilverfahrens-Novelle 1983 und der Änderung des VwGG durch die VwGG-Novelle BGBl. Nr. 564/1985 hinsichtlich der Beachtlichkeit des Verschuldensgrades angepasst werden. Auch zur zitierten VwGG-Novelle wurde in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (773 BlgNR 16. GP 3) ausgeführt, die vorgeschlagene Regelung folge soweit wie möglich jener des § 146 Abs. 1 ZPO.
36 Unbestritten ist im vorliegenden Fall, dass die revisionswerbenden Parteien innerhalb der verlängerten Frist eine Beschwerde gegen den Bescheid vom der Post zum eingeschriebenen Versand übergeben hatten. Dass dieses Schriftstück beim Finanzamt eingelangt sei, konnte nicht belegt werden.
37 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Beförderung einer Sendung durch die Post auf Gefahr des Absenders erfolgt. Die Beweislast für das Einlangen des Schriftstückes bei der Behörde trifft den Absender. Dafür reicht der Beweis der Postaufgabe nicht aus (vgl. , mwN).
38 Ab Einlangen in der Einlaufstelle befindet sich ein Schriftsatz hingegen in der Sphäre der Behörde, die sich der Einlaufstelle bedient. Die Unterlassung der (rechtzeitigen) Weiterleitung des Schriftsatzes von der Einlaufstelle an die jeweils zuständige Stelle stellt einen behördlichen Fehler dar (vgl. , mwN).
39 Ein Anbringen liegt erst dann vor, wenn die Eingabe tatsächlich bei der Behörde einlangt. Geht hingegen die Sendung nach Übergabe an die Post verloren und langt sie daher nicht bei der Behörde ein, ist dies ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis, das zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berechtigt. Der Verlust (auch) eines nicht eingeschriebenen Briefes stellt kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden dar, weil auch ohne diese besondere Form der Postaufgabe mit dem Einlangen des Schriftstückes bei der Behörde gerechnet werden kann. Auch in der Unterlassung der (allgemein jedenfalls nicht vorgeschriebenen) Überprüfung des Einlangens der Erklärungen bei der Abgabenbehörde kann kein auffallend sorgloses Verhalten erblickt werden (vgl. ; , 2013/17/0137, mwN).
40 Als Hindernis iSd § 308 Abs. 3 BAO ist jenes Ereignis iSd § 308 Abs. 1 BAO zu verstehen, das die Fristeinhaltung verhindert hat. Besteht das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis in einem Irrtum, so fällt dieses Hindernis bereits dann weg, sobald die Partei (oder ihr Vertreter) diesen Irrtum als solchen erkennen konnte und musste (vgl. ; , Ro 2018/16/0014, mwN; vgl. auch - zu § 46 VwGG - ; , 2011/15/0146; , Ra 2015/16/0083, mwN; vgl. weiters - zu § 33 VwGVG - , mwN).
41 Für den Lauf der Wiedereinsetzungsfrist kommt es somit auf den Zeitpunkt der zumutbaren Erkennbarkeit des Irrtums an, also auf den Wegfall des Irrtums oder der Umstände, unter denen er nicht in einer der Wiedereinsetzung entgegen stehenden Weise vorwerfbar ist (vgl. ; Ritz/Koran, BAO7, § 308 Tz 22, mwN; Ellinger u.a., BAO³ § 308 Anm 15). Der Wiedereinsetzung entgegen steht der Irrtum aber dann, wenn der mindere Grad des Versehens überschritten ist (vgl. - zu § 46 VwGG - ).
42 Dies entspricht auch der Rechtsprechung des OGH zu § 146 ZPO, an welche Bestimmung jene des § 308 BAO nach der Absicht des Gesetzgebers im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsordnung angepasst werden sollte. Demnach beginnt der Lauf der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrages nicht erst mit der Aufklärung des Irrtums, sondern bereits mit seiner möglichen Aufklärung. Diese Frist wird aber nur dann in Lauf gesetzt, wenn die mögliche Aufklärung nicht nur wegen eines minderen Grades des Versehens unterblieben ist; es darf nämlich bei der Beurteilung dieser Frage kein strengerer Maßstab angelegt werden als bei der Versäumung der Frist selbst (vgl. RIS-Justiz RS0036608). Ist die Prozesshandlung durch einen Irrtum versäumt worden, beginnt die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand also mit dessen möglicher Aufklärung, sofern diese durch auffallende Sorglosigkeit unterblieben ist (vgl. RIS-Justiz RS0036742; z.B. ). Auf diese Rechtsprechung verweist auch der Verfassungsgerichtshof (vgl. z.B. u.a., mwN).
43 Im vorliegenden Fall lag ein Irrtum der revisionswerbenden Parteien darüber vor, ob die von ihnen zur Post gegebene Beschwerde beim Finanzamt eingelangt sei. In der Unterlassung der Überprüfung des Einlangens dieses Schriftsatzes bei der Abgabenbehörde kann zunächst kein auffallend sorgloses Verhalten erblickt werden. Die belangte Behörde und das Bundesfinanzgericht gehen aber davon aus, dass dieser Irrtum zumutbar erkennbar gewesen sei im Hinblick auf die Beschwerdevorentscheidung vom und den Beschluss des Bundesfinanzgerichts vom (jeweils in der Rechtssache der S GmbH).
44 Mit der Frage, ob insoweit mehr als ein minderer Grad des Versehens vorliegt, haben sich weder das Finanzamt noch das Bundesfinanzgericht befasst.
45 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
46 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Schlagworte | Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022130035.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
DAAAF-46006