VwGH 09.09.2024, Ra 2022/11/0181
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Die Frage der Arbeitnehmereigenschaft von grenzüberschreitend nach Österreich Entsandten ist entsprechend Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 18 vom , 1) nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats und damit gemäß § 2 Abs. 1 LSD-BG nach dem wahren wirtschaftlichen Gehalt und nicht nach der äußeren Erscheinungsform des jeweiligen Sachverhalts zu beurteilen (vgl. etwa - noch iZm. dem AVRAG - bis 0307; , Ra 2018/11/0030, Rn. 34, jeweils mwN). |
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RS 2 | Nach der Judikatur des OGH unterscheidet sich der echte Arbeitsvertrag sowohl vom freien Dienstvertrag als auch vom Werkvertrag durch die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber. Von der Rechtsprechung des OGH wurden verschiedene Kriterien erarbeitet, deren Vorhandensein und deren Bedeutung im jeweiligen Fall zu prüfen sind, und die dann zusammenfassend in einem Gesamtbild darauf zu bewerten sind, ob die für das Vorliegen eines Arbeitsvertrages geforderte persönliche Abhängigkeit ausreichend begründet ist oder nicht. Diese für das Vorliegen einer persönlichen Abhängigkeit sprechenden Merkmale sind vor allem Weisungsgebundenheit, die persönliche, auf Zeit abgestellte Arbeitspflicht des Arbeitnehmers, die Fremdbestimmtheit der Arbeit, deren wirtschaftlicher Erfolg dem Arbeitgeber zukommt, die funktionelle Einbindung der Dienstleistung in ein betriebliches Weisungsgefüge und die Beistellung des Arbeitsgerätes durch den Dienstgeber. Gerade die Freiheit von persönlichen Weisungen, also die Möglichkeit, den Ablauf der Arbeit selbständig zu regeln und jederzeit zu ändern, wird als entscheidendes Kriterium angesehen, das gegen eine persönliche Abhängigkeit spricht. Ob unter Zugrundelegung dieser Kriterien Zeitungs- und Werbemittelzusteller als echte Arbeitnehmer anzusehen sind, lässt sich nicht generell, sondern nur anhand der konkreten Vertragsgestaltung beantworten. Dabei ist allerdings die Bezeichnung und Gestaltung des schriftlichen Vertrages nur dann maßgeblich, wenn sie mit der tatsächlichen Handhabung des Vertragsverhältnisses übereinstimmt (vgl. zum Ganzen , mwN). |
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RS 3 | Mit der ASVG-Novelle BGBl. I Nr. 8/2019 wurden Zeitungszusteller von der ASVG-Pflichtversicherung ausgenommen (vgl. nunmehr § 5 Abs. 1 Z 18 ASVG). Nach den Materialien sind von der Ausnahme Hauszusteller, Kolporteure und Selbstbedienungsaufsteller erfasst. Zur hier interessierenden Berufsgruppe der Selbstbedienungsaufsteller wird in den Materialien ausgeführt, dass diese lediglich einen Zustellerfolg schulden. Für dessen Erbringung besteht ein nach eigenem Ermessen wahrzunehmender Zeitraum während der Nachtstunden. Sie müssen die Zustellung insbesondere nicht persönlich erbringen und können sich nach eigenem Ermessen vertreten lassen. Zudem arbeiten sie mit eigenen Fortbewegungsmitteln (vgl. den Abänderungsantrag AA-63, 26. GP, 1 f., zur RV 338 BlgNR, 26. GP). Vor diesem Hintergrund ist vom VwG zunächst zu ermitteln, ob den kontrollierten Personen ein generelles Vertretungsrecht zusteht, welches sie berechtigt, nach Gutdünken beliebige Teile ihrer Verpflichtung auf Dritte überbinden zu können. Weiters ist zu ermitteln und sind Feststellungen darüber zu treffen, ob die kontrollierten Personen bei der Ausführung ihrer Arbeit wesentlichen Gestaltungsspielraum - etwa hinsichtlich Zeit und örtlicher Abfolge - hatten oder ob sie strikt den Anweisungen und Vorgaben der Revisionswerberin folgen mussten (vgl. etwa , mwN). |
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RS 4 | Die persönliche Gestaltungsfreiheit der Zusteller ist nicht dadurch als eingeschränkt zu erachten, dass sie an einer bestimmten Abgabestelle die für sie bestimmten Zustellpakete entgegennehmen und die Zustellung innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne bewirken müssen: Dabei handelt es sich um sachliche, in der Natur der durchzuführenden Zustellungen liegende Vorgaben. Umgekehrt kommt auch dem Umstand, dass die Zusteller räumlich nicht in die Betriebsstätte der Auftraggeber eingebunden waren, keine Bedeutung zu, zumal Zusteller schon bedingt durch die Art der Tätigkeit im "Außendienst" arbeiten, wodurch die örtliche Eingliederung in den Betrieb naturgemäß kaum oder jedenfalls nur in viel geringerem Maße besteht (vgl. , mwN). |
Entscheidungstext
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2022/11/0182
Ra 2022/11/0183
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm, die Senatspräsidentin Dr. Pollak sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Janitsch, über die Revisionen der I K in D (Tschechische Republik), vertreten durch Mag. Franz Eckl, Rechtsanwalt in 3910 Zwettl, Bahnhofstraße 8, gegen die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom , Zlen. 1. LVwG-S-227/007-2022 (protokolliert zu hg. Zl. Ra 2022/11/0181), 2. LVwG-S-228/004-2022 (protokolliert zu hg. Zl. Ra 2022/11/0182) und 3. LVwG-S-263/004-2022 (protokolliert zu hg. Zl. Ra 2022/11/0183), jeweils betreffend Übertretungen nach dem LSD-BG (jeweils belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Tulln), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkennntisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.346,00, insgesamt somit € 4.038,00, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit den am mündlich verkündeten und am schriftlich ausgefertigten, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnissen des Verwaltungsgerichts wurde der Revisionswerberin - ihre Beschwerden gegen die Straferkenntnisse der belangten Behörde vom 13. und , Zlen. 1. TUS2-V-2112813/5, 2. TUS2-V-2112816/5, 3. TUS2-V-2112812/5, abweisend - zur Last gelegt, sie habe es als gemäß § 9 Abs. 1 VStG zur Vertretung nach außen berufenes Organ der I s.r.o mit Sitz in der Tschechischen Republik zu verantworten, dass diese Gesellschaft als Arbeitgeberin elf näher genannte tschechische bzw. slowakische Arbeitnehmer/innen am in Niederösterreich eingesetzt bzw. beschäftigt habe, wobei sie
zu 1.) (Ra 2022/11/0181) die Lohnunterlagen gemäß § 22 Abs. 1 LSD-BG in deutscher Sprache für diese Arbeitnehmer/innen nicht am Arbeits(Einsatz)Ort bereitgehalten und diese Unterlagen der Abgabenbehörde auch nicht unmittelbar vor Ort und im Zeitpunkt der Erhebung in elektronischer Form zugänglich gemacht und somit den Tatbestand gemäß § 28 Z 1 iVm. § 22 Abs. 1 LSD-BG verwirklicht habe, weshalb gegen sie eine Gesamtstrafe von € 5.000,-- zuzüglich eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 1.500,-- verhängt wurde.
zu 2.) (Ra 2022/11/0182) die Unterlagen über die Anmeldung zur Sozialversicherung gemäß § 21 Abs. 1 Z 1 LSD-BG (Sozialversicherungsdokument A1) der entsandten Arbeitnehmer/innen nicht am Arbeits(Einsatz)Ort bereitgehalten und diese Unterlagen den Organen der Abgabenbehörde auch nicht unmittelbar vor Ort und im Zeitpunkt der Erhebung in elektronischer Form zugänglich gemacht und somit den Tatbestand gemäß § 26 Abs. 1 Z 3 iVm. § 21 Abs. 1 Z 1 LSD-BG verwirklicht habe, weshalb gegen sie eine Gesamtstrafe von € 5.000,-- zuzüglich eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 1.500,-- verhängt wurde.
zu 3.) (Ra 2022/11/0183) die Meldung gemäß § 19 Abs. 1 und 2 LSD-BG über die Arbeitsaufnahme dieser Arbeitnehmer/innen nicht vor der jeweiligen Arbeitsaufnahme der Zentralen Koordinationsstelle des Bundesministeriums für Finanzen für die Kontrolle der illegalen Beschäftigung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz und dem LSD-BG erstattet und somit den Tatbestand gemäß § 26 Abs. 1 Z 1 iVm. § 19 Abs. 1 und 2 LSD-BG verwirklicht habe, weshalb gegen sie eine Gesamtstrafe von € 5.000,-- zuzüglich eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 1.500,-- verhängt wurde.
2 Das Verwaltungsgericht war davon ausgegangen, aufgrund der persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der kontrollierten Personen sei vom Vorliegen von zwischen den Kontrollierten und der I s.r.o. geschlossenen Dienstverträgen auszugehen.
3 Mit hg. Erkenntnis vom , Ra 2022/11/0081 bis 0083, hob der Verwaltungsgerichtshof diese Entscheidungen unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom , C-586/13, Martin Meat, auf.
4 Mit den nunmehr angefochtenen, im zweiten Rechtsgang erlassenen (Ersatz-)Erkenntnissen wies das Verwaltungsgericht die Beschwerden der Revisionswerberin gegen die Straferkenntnisse der belangten Behörde vom 13. und abermals als unbegründet ab. In allen drei Fällen wurde überdies jeweils ein Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens von € 1.000,-- vorgeschrieben und die Erhebung einer ordentlichen Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.
5 Begründend stellte das Verwaltungsgericht (weitestgehend wortgleich wie in seiner Vorentscheidung) fest, die kontrollierten Personen hätten mit der Revisionswerberin schriftliche und unbefristete Rahmenvereinbarungen in tschechischer Sprache über die Auslieferung und Rückführung von Selbstbedienungstaschen für Sonntagszeitungen abgeschlossen und abweichende deutsche Übersetzungen erhalten. Die konkret abzufahrenden Touren seien in keiner der beiden Versionen der Rahmenvereinbarungen enthalten gewesen, sondern zwischen den kontrollierten Personen und der Revisionswerberin mündlich vereinbart worden. Die Übergabe der zu verteilenden Taschen und Zeitungen an die kontrollierten Personen und die Übernahme der von ihnen zurückgebrachten Zeitungen und Taschen sei ohne Beteiligung der Revisionswerberin direkt zwischen den kontrollierten Personen und dem Auftraggeber der Revisionswerberin abgewickelt worden. Die Revisionswerberin habe sich zuvor gegenüber ihrem Auftraggeber für ihren örtlichen Zuständigkeitsbereich zur Gewährleistung der Auslieferung und Einsammlung der Zeitungen an definierten Standorten sowie zur Kündigung der jeweils betroffenen kontrollierten Personen im Fall von Fehlbeträgen oder sonstigen Missständen verpflichtet. Die kontrollierten Personen hätten in diesem Fall keine Möglichkeit gehabt, ihre ordnungsgemäße Leistungserbringung nachzuweisen oder einzelne Touren abzulehnen. Sie hätten sich in den Rahmenvereinbarungen schriftlich - unter Androhung einer Konventionalstrafe von € 700,-- - zur Erledigung der mündlich vereinbarten Touren verpflichtet, entweder selbst oder durch einen Vertreter. Die Leistungspflicht sei unmittelbar durch die Rahmenvereinbarungen entstanden, mit deren Abschluss gleichzeitig die jeweils ca. 150 Standorte umfassenden Touren mündlich vereinbart worden seien. Die Möglichkeit, einzelne Touren abzulehnen, habe nicht bestanden. Mit der Bezahlung (€ 1,-- bis € 1,15 pro Standort) sei der gesamte Zeit- und Sachaufwand der kontrollierten Personen sowie das Schadensrisiko abgegolten worden. Die umsatzsteuerpflichtigen Vertragspartner hätten Rechnungen gelegt, die übrigen ihre Leistungen formlos mit Notizen oder SMS gemeldet.
6 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, aufgrund der persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der kontrollierten Personen bleibe kein Raum für die Annahme von Werkverträgen. Da die kontrollierten Personen ihre Anweisungen ausschließlich von der Revisionswerberin erhalten hätten und die Zahl der eingesetzten Arbeitnehmer allein von ihr festgelegt worden sei, liege eine grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern durch die Revisionswerberin vor, um einen von ihr mit ihrem Auftraggeber abgeschlossenen Werkvertrag zu erfüllen.
7 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden - wortgleichen - außerordentlichen Revisionen, zu denen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres persönlichen, tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs verbundenen Revisionen erwogen:
9 Die Revisionen sind zulässig und im Ergebnis begründet, weil sie unter anderem zutreffend vorbringen, dass das Verwaltungsgericht nicht nachvollziehbar begründet habe, wieso es von Dienst- und nicht von Werkverträgen ausgehe.
10 Die der Revisionswerberin angelasteten Übertretungen des LSD-BG setzen jeweils die Arbeitgebereigenschaft der I s.r.o. und damit voraus, dass es sich beim Vertragsverhältnis zwischen dieser von der Revisionswerberin vertretenen Gesellschaft und den kontrollierten Personen um Dienst- und nicht Werkverträge handelt. Im Revisionsverfahren ist dies weiterhin strittig. Während das Verwaltungsgericht, wie dargestellt, vom Vorliegen von Dienstverträgen ausging, vertreten die Revisionen den Standpunkt, die jeweiligen Verträge seien als Werkverträge zu qualifizieren.
11 Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, im vorliegenden Fall lägen Dienst- und keine Werkverträge vor, lässt das angefochtene Erkenntnis jedoch eine hinreichende Ausführung der notwendigen Begründungselemente vermissen. Dabei hat das Verwaltungsgericht folgende zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen:
12 Die Frage der Arbeitnehmereigenschaft von grenzüberschreitend nach Österreich Entsandten ist entsprechend Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. L 18 vom , 1) nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats und damit gemäß § 2 Abs. 1 LSD-BG nach dem wahren wirtschaftlichen Gehalt und nicht nach der äußeren Erscheinungsform des jeweiligen Sachverhalts zu beurteilen (vgl. etwa - noch iZm. dem AVRAG - bis 0307; , Ra 2018/11/0030, Rn. 34, jeweils mwN).
13 Gemäß § 4 Abs. 2 ASVG ist Dienstnehmer, wer in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegen Entgelt beschäftigt wird. Dienstnehmer im genannten Sinn sind auch Personen, bei deren Beschäftigung die Merkmale persönlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen selbständiger Ausübung der Erwerbstätigkeit überwiegen. Ob bei Erfüllung einer übernommenen Arbeitspflicht die Merkmale persönlicher Abhängigkeit einer Person vom Empfänger der Arbeit gegenüber jenen persönlicher Unabhängigkeit überwiegen und somit persönliche Abhängigkeit iSd § 4 Abs. 2 ASVG gegeben ist, hängt - im Ergebnis in Übereinstimmung mit dem arbeitsrechtlichen Verständnis dieses Begriffes - davon ab, ob nach dem Gesamtbild der konkret zu beurteilenden Beschäftigung die Bestimmungsfreiheit des Beschäftigten durch die Beschäftigung weitgehend ausgeschaltet oder - wie bei anderen Formen einer Beschäftigung (zum Beispiel auf Grund eines freien Dienstvertrags iSd. § 4 Abs. 1 Z 14 ASVG) - nur beschränkt ist. Die unterscheidungskräftigen Kriterien sind nur die Bindung des Beschäftigten an Ordnungsvorschriften über den Arbeitsort, die Arbeitszeit, das arbeitsbezogene Verhalten sowie die sich darauf beziehenden Weisungs- und Kontrollbefugnisse, während das Fehlen anderer (im Regelfall freilich auch vorliegender) Umstände (wie zum Beispiel die längere Dauer des Beschäftigungsverhältnisses oder ein das Arbeitsverfahren betreffendes Weisungsrecht des Empfängers der Arbeit) dann, wenn die unterscheidungskräftigen Kriterien kumulativ vorliegen, persönliche Abhängigkeit nicht ausschließt. Entscheidend ist, ob bei einer Gesamtbetrachtung nach der Methodik des beweglichen Systems die Merkmale der persönlichen Abhängigkeit ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung nach überwiegen (vgl. , 0173, Rn. 29, mwN), was anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen ist.
14 Ausgangspunkt der Betrachtung ist die vertragliche Gestaltung der Beschäftigung, weil sie (sofern keine Anhaltspunkte für ein Scheinverhältnis bestehen) die von den Parteien des Beschäftigungsverhältnisses in Aussicht genommenen Konturen des Beschäftigungsverhältnisses sichtbar werden lässt, die wiederum bei der Deutung von Einzelmerkmalen der Beschäftigung relevant sein können; die vertragliche Vereinbarung hat die Vermutung der Richtigkeit (im Sinne einer Übereinstimmung mit der Lebenswirklichkeit) für sich. Dabei kommt es auf die Bezeichnung des Verhältnisses durch die Vertragspartner grundsätzlich nicht an.
Für die Beantwortung der Frage, ob ein auf einem Vertrag beruhendes Beschäftigungsverhältnis in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit besteht, sind allerdings auch die „wahren Verhältnisse“ maßgeblich, das heißt ob bei der tatsächlichen und nicht bloß vereinbarten Art der Beschäftigung die Kriterien persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit überwiegen. Dabei kann zunächst mangels gegenteiliger Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass der Vertrag seinem Wortlaut entsprechend durchgeführt wird. Weichen die „wahren Verhältnisse“ jedoch vom Vertrag ab, dann ist dies ein Indiz dafür, dass nur ein Scheinvertrag vorliegt. Eine Scheinvereinbarung ist von vornherein als Grundlage für die Beurteilung der Versicherungspflicht nicht geeignet. Insoweit kommt es daher auf die tatsächlichen Verhältnisse an (vgl. zum Ganzen , Pkt. II.2., mwN).
15 Auch nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofs unterscheidet sich der echte Arbeitsvertrag sowohl vom freien Dienstvertrag als auch vom Werkvertrag durch die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber. Von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes wurden verschiedene Kriterien erarbeitet, deren Vorhandensein und deren Bedeutung im jeweiligen Fall zu prüfen sind, und die dann zusammenfassend in einem Gesamtbild darauf zu bewerten sind, ob die für das Vorliegen eines Arbeitsvertrages geforderte persönliche Abhängigkeit ausreichend begründet ist oder nicht. Diese für das Vorliegen einer persönlichen Abhängigkeit sprechenden Merkmale sind vor allem Weisungsgebundenheit, die persönliche, auf Zeit abgestellte Arbeitspflicht des Arbeitnehmers, die Fremdbestimmtheit der Arbeit, deren wirtschaftlicher Erfolg dem Arbeitgeber zukommt, die funktionelle Einbindung der Dienstleistung in ein betriebliches Weisungsgefüge und die Beistellung des Arbeitsgerätes durch den Dienstgeber. Gerade die Freiheit von persönlichen Weisungen, also die Möglichkeit, den Ablauf der Arbeit selbständig zu regeln und jederzeit zu ändern, wird als entscheidendes Kriterium angesehen, das gegen eine persönliche Abhängigkeit spricht.
16 Ob unter Zugrundelegung dieser Kriterien Zeitungs- und Werbemittelzusteller als echte Arbeitnehmer anzusehen sind, lässt sich nicht generell, sondern nur anhand der konkreten Vertragsgestaltung beantworten. Dabei ist allerdings die Bezeichnung und Gestaltung des schriftlichen Vertrages nur dann maßgeblich, wenn sie mit der tatsächlichen Handhabung des Vertragsverhältnisses übereinstimmt (vgl. zum Ganzen , mwN).
17 Im vorliegenden Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass mit der ASVG-Novelle BGBl. I Nr. 8/2019 Zeitungszusteller von der ASVG-Pflichtversicherung ausgenommen wurden (vgl. nunmehr § 5 Abs. 1 Z 18 ASVG). Nach den Materialien sind von der Ausnahme Hauszusteller, Kolporteure und Selbstbedienungsaufsteller erfasst. Zur hier interessierenden Berufsgruppe der Selbstbedienungsaufsteller wird in den Materialien ausgeführt, dass diese lediglich einen Zustellerfolg schulden. Für dessen Erbringung besteht ein nach eigenem Ermessen wahrzunehmender Zeitraum während der Nachtstunden. Sie müssen die Zustellung insbesondere nicht persönlich erbringen und können sich nach eigenem Ermessen vertreten lassen. Zudem arbeiten sie mit eigenen Fortbewegungsmitteln (vgl. den Abänderungsantrag AA-63, 26. GP, 1 f., zur RV 338 BlgNR, 26. GP).
18 Vor diesem Hintergrund ist vom Verwaltungsgericht zunächst zu ermitteln, ob den kontrollierten Personen ein generelles Vertretungsrecht zusteht, welches sie berechtigt, nach Gutdünken beliebige Teile ihrer Verpflichtung auf Dritte überbinden zu können. Damit wird vor allem die Situation eines selbständig Erwerbstätigen in den Blick genommen, der - anders als ein letztlich nur über seine eigene Arbeitskraft disponierender (abhängig) Beschäftigter - im Rahmen seiner unternehmerischen Organisation (oft werkvertragliche) Leistungen zu erbringen hat und dabei Hilfspersonal zum Einsatz bringt oder sich eines Vertreters (Subunternehmers) bedient. Von einer die persönliche Arbeitspflicht ausschließenden generellen Vertretungsbefugnis kann nur dann gesprochen werden, wenn der Erwerbstätige berechtigt ist, jederzeit und nach Gutdünken irgendeinen geeigneten Vertreter zur Erfüllung der von ihm übernommenen Arbeitspflicht heranzuziehen bzw. ohne weitere Verständigung des Vertragspartners eine Hilfskraft beizuziehen. Keine generelle Vertretungsberechtigung stellt die bloße Befugnis eines Erwerbstätigen dar, sich im Fall der Verhinderung in bestimmten Einzelfällen, z.B. im Fall einer Krankheit oder eines Urlaubs oder bei bestimmten Arbeiten innerhalb der umfassenderen Arbeitspflicht vertreten zu lassen; ebenso wenig die bloß wechselseitige Vertretungsmöglichkeit mehrerer vom selben Vertragspartner beschäftigter Personen (vgl. ; , 2013/08/0258, Pkt. II.4.1.1., jeweils mwN).
19 Weiters ist zu ermitteln und sind Feststellungen darüber zu treffen, ob die kontrollierten Personen bei der Ausführung ihrer Arbeit wesentlichen Gestaltungsspielraum - etwa hinsichtlich Zeit und örtlicher Abfolge - hatten oder ob sie strikt den Anweisungen und Vorgaben der Revisionswerberin folgen mussten (vgl. etwa , mwN). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die persönliche Gestaltungsfreiheit nicht dadurch als eingeschränkt zu erachten ist, dass die Zusteller an einer bestimmten Abgabestelle die für sie bestimmten Zustellpakete entgegennehmen und die Zustellung innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne bewirken müssen: Dabei handelt es sich um sachliche, in der Natur der durchzuführenden Zustellungen liegende Vorgaben. Umgekehrt kommt auch dem Umstand, dass die Zusteller räumlich nicht in die Betriebsstätte der Auftraggeber eingebunden waren, keine Bedeutung zu, zumal Zusteller schon bedingt durch die Art der Tätigkeit im „Außendienst“ arbeiten, wodurch die örtliche Eingliederung in den Betrieb naturgemäß kaum oder jedenfalls nur in viel geringerem Maße besteht (vgl. erneut , mwN).
20 Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Revisionswerberin gegenüber ihrem Auftraggeber für die Auslieferung und Einsammlung verantwortlich war und sich diesem gegenüber zur Kündigung der kontrollierten Personen bei Fehlbeträgen oder Missständen verpflichtet hatte.
Es sind jedoch Feststellungen dazu zu treffen, in welchem Umfang die Revisionswerberin tatsächlich Kontroll- und Weisungsbefugnisse über die von ihr eingesetzten Personen ausübte. Dies umfasst auch die Art und Weise der Leistungskontrolle und die Sanktionen bei Nichterfüllung (vgl. , Pkt. 5).
21 Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die von der Revisionswerberin mit den kontrollierten Personen abgeschlossenen Rahmenvereinbarungen in deutscher Sprache und davon abweichender tschechischer Übersetzung existierten und mündlich ergänzt wurden und dass die Revisionswerberin weder an der Übernahme noch an der Übergabe der Zeitungstaschen durch die kontrollierten Personen beteiligt war, lässt sich zusammengefasst festhalten, dass das Verwaltungsgericht nur einzelne Aspekte zur persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der kontrollierten Personen festgestellt hat. Für eine umfassende rechtliche Beurteilung nach den eingangs genannten Vorgaben und um dem Verwaltungsgerichtshof eine nachprüfende Kontrolle der Einstufung der Arbeitsverhältnisse als Dienst- oder Werkverträge zu ermöglichen, sind daher weitere Ermittlungen und Feststellungen erforderlich, insbesondere hinsichtlich des generellen Vertretungsrechts, des Gestaltungsspielraums, der Integration in den Betrieb sowie der Kontroll- und Organisationsstruktur durch die Revisionswerberin.
22 Angesichts dieser Mängel in den angefochtenen Erkenntnissen ist eine Überprüfung der Annahme des Verwaltungsgerichts, es lägen Dienst- und keine Werkverträge vor, weshalb von einer Entsendung von Arbeitskräften auszugehen sei, durch den Verwaltungsgerichtshof nicht möglich (vgl. ).
23 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.
24 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Normen | ABGB §1151 ASVG §4 Abs2 ASVG §5 Abs1 Z18 EURallg LSD-BG 2016 §2 Abs1 VwRallg 31996L0071 Entsende-RL Art2 Abs2 |
Schlagworte | Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2024:RA2022110181.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
WAAAF-45982