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VwGH 27.06.2022, Ra 2022/11/0035

VwGH 27.06.2022, Ra 2022/11/0035

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


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Normen
AVG §37
AVG §45 Abs3
RS 1
Die Wahrung des Parteiengehörs, das zu den fundamentalen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit der Hoheitsverwaltung gehört, ist von Amts wegen, ausdrücklich, in förmlicher Weise und unter Einräumung einer angemessenen Frist zu gewähren (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , 2012/08/0085, und vom , 2012/10/0239). Das Parteiengehör besteht nicht nur darin, den Parteien im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis einer Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen, sondern ihnen ganz allgemein zu ermöglichen, ihre Rechte und rechtlichen Interessen geltend zu machen, mithin Vorbringen zu gegnerischen Behauptungen zu erstatten, Beweisanträge zu stellen und überhaupt die Streitsache zu erörtern (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2005/12/0157).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ro 2014/08/0065 E RS 1
Normen
AVG §17 Abs1
AVG §37
AVG §45 Abs3
AVG §52
RS 2
Für das Gutachten eines Sachverständigen erweist es sich zur Wahrung des Parteiengehörs seitens einer Verwaltungsbehörde zumindest als notwendig, den Schriftsatz samt Gutachten mit einem Hinweis darauf zu übermitteln, dass der zu erlassende Bescheid auf dieses Gutachten gestützt werde, um den Parteien die Möglichkeit zu bieten, dem Gutachten auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten. Ein solcher Mangel wird nicht dadurch saniert, dass die Partei (zufällig) im Rahmen einer Akteneinsicht Kenntnis von diesen Beweismitteln erlangt (vgl. , VwSlg. 16.603 A).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2017/03/0069 E RS 12 (hier: ohne den letzten Satz)
Norm
AVG §45 Abs3
RS 3
Zum Parteiengehör gehört auch die Möglichkeit, der Ergänzung eines Sachverständigengutachtens auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten, sofern das Verwaltungsgericht entscheidungswesentliche Feststellungen maßgeblich auf dieses Beweismittel stützt (vgl. - 0111; , Ra 2016/04/0092, Rn. 11).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ro 2018/04/0012 E RS 1
Normen
AVG §52
BBG 1990 §40 Abs1
BBG 1990 §42
BBG 1990 §45
MRK Art6
VwGG §42 Abs1 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4
RS 4
Die Einschätzung des Grades der Behinderung auf Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist keine Frage bloß technischer Natur (Hinweis E vom , Ra 2016/11/0057). Sowohl dabei als auch bei der Beurteilung, ob die gesundheitlichen Einschränkungen des Betroffenen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar erscheinen lassen, ist nach der hg. Judikatur wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person des Antragstellers grundsätzlich eine mündliche Verhandlung geboten (Hinweis Erkenntnisse vom , Ra 2015/11/0036, vom , Ra 2016/11/0018, vom , Ra 2016/11/0057, und vom , Ra 2016/11/0013).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2017/11/0040 E RS 3

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie Hofrätin Mag. Hainz-Sator und Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der J D in W, vertreten durch Mag. Bernhard Kispert, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Himmelpfortgasse 20/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W166 2225385-1/13E, betreffend Erteilung eines Behindertenpasses samt Zusatzeintragung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 1.1. Die Revisionswerberin stellte einen mit datierten Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses und auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass.

2 Die belangte Behörde holte ein Gutachten bei einer Fachärztin für Allgemeinmedizin und Unfallchirurgie ein. Im Gutachten vom , in dem als medizinisches Fachgebiet der Verfasserin „Orthopädie“ angeführt ist, kommt die Sachverständige auf Grundlage einer fünfundzwanzigminütigen persönlichen Begutachtung der Revisionswerberin zum Ergebnis, dass die Revisionswerberin an zwei Funktionsbeeinträchtigungen leide, denen jeweils ein spezifischer Grad der Behinderung zugeordnet werden könne (degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Lumboischialgie, Zustand nach Kyphoplastie Th7, Pos. Nr. : 20%; chronische Darmstörungen leichten Grades, Pos. Nr. : 20%). Da das führende Leiden mangels ungünstigen Zusammenwirkens durch das zweite Leiden nicht verstärkt würde, ergebe sich als Gesamtgrad der Behinderung 20%. Zur Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel führte die Sachverständige aus, die Gesamtmobilität der Revisionswerberin sei trotz belastungsabhängiger Probleme im Bereich der Wirbelsäule ausreichend, um kurze Wegstrecken von etwa 300 bis 400 Meter zurücklegen zu können und um Niveauunterschiede zu überwinden. Auch sei das sichere Aus- und Einsteigen möglich.

3 Mit Eingabe vom wendete die Revisionswerberin gegen die Ergebnisse des Gutachtens ein, laut Ärztekammer Wien sei die im Verfahren herangezogene Sachverständige Ärztin für Allgemeinmedizin und Unfallchirurgie, während im Gutachten als Fachgebiet Orthopädie angeführt sei. Entgegen der Beurteilung durch die Sachverständige, die ohne Angabe einer Begründung von einer für die Revisionswerberin möglichen Gehstrecke von 300 bis 400 Metern ausgehe, werde im beigebrachten Attest eines Facharztes für Orthopädie eine zurückzulegende Strecke von nur 50 Metern als gegeben erachtet. Auch werde in deutlichem Gegensatz zu der Einschätzung der Sachverständigen, dass kein ungünstiges Zusammenwirken zwischen den Leiden bestehe, von den behandelnden Fachärzten ein sowohl neurologisch als auch psychosomatisch erfassbares ungünstiges Zusammenwirken angenommen.

4 In ihrer Stellungnahme vom führte die Sachverständige zu den Einwendungen der Revisionswerberin aus, dass durch die objektive Funktionsminderung, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule, eine hochgradige Einschränkung der Gehstrecke nicht habe begründet werden können. Ein maßgebliches ungünstiges Zusammenwirken zwischen Leiden 1 und Leiden 2 liege nicht vor, die Auswirkungen des führenden Leidens werden durch das Leiden 2 nicht erheblich verstärkt. Die vorgebrachten Argumente und Befunde würden keine neuen Erkenntnisse beinhalten, die das vorhandene Begutachtungsergebnis entkräften könnten.

5 1.2. Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin unter Verweis auf das Sachverständigengutachten sowie die Stellungnahme der Sachverständigen zu den von der Revisionswerberin im Wege des Parteiengehörs erstatteten Einwendungen ab.

6 Die Revisionswerberin erhob dagegen Beschwerde, legte neue Befunde vor und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

7 Die belangte Behörde holte Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen Innere Medizin und Psychiatrie ein und beauftragte die bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren befasste Fachärztin für Allgemeinmedizin und Unfallchirurgie mit der Erstellung eines Aktengutachtens im Fachbereich der Orthopädie sowie einer auf den drei Gutachten fußenden Gesamtbeurteilung. In ihrer die eingeholten Gutachten zusammenfassenden Gesamtbeurteilung vom stellte die Sachverständige zusätzlich zu den Leiden 1 und 2 zwei weitere Leiden mit einem Grad der Behinderung von jeweils 20% und mangels ungünstiger wechselseitiger Leidensbeeinflussung einen Gesamtgrad der Behinderung von 20% fest.

8 1.3. Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies die belangte Behörde die Beschwerde unter Verweis auf die Sachverständigengutachten sowie die Gesamtbeurteilung ab.

9 Die Revisionswerberin stellte mit Schreiben vom den Vorlageantrag, in dem sie vorbrachte, nach Einbringen der Beschwerde zwei Bandscheibenvorfälle erlitten zu haben, welche ihren ohnehin schon stark beeinträchtigten Gesundheitszustand zusätzlich verschlechtert haben würden.

10 1.4. Mit Schriftsatz vom  legte die belangte Behörde die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: Verwaltungsgericht) vor.

11 Mit Verfügung vom ersuchte das Verwaltungsgericht die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Unfallchirurgie unter Hinweis auf das Vorbringen der Revisionswerberin im Vorlageantrag um Gutachtensergänzung zur Frage, ob sich aus dem vorgelegten Beweismittel eine zum bisherigen Ergebnis abweichende Beurteilung ergebe.

12 Mit Schreiben vom erstattete die Sachverständige eine Stellungnahme, in der sie ausführte, verglichen mit dem MRT-Befund der Halswirbelsäule vom ergebe sich keine Änderung zum vorgelegten MRT-Befund der Halswirbelsäule vom . Es liege vielmehr ein nahezu identer Befund vor.

13 2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

14 2.2. In seiner Begründung stellte das Verwaltungsgericht die in der Gesamtbeurteilung enthaltenen Leiden als Funktionseinschränkungen, das Nichtvorliegen einer ungünstigen Wechselwirksamkeit und den Gesamtgrad der Behinderung im Ausmaß von 20% fest. Beweiswürdigend ging das Verwaltungsgericht auf die Erhebung der einzelnen Funktionseinschränkungen durch die Sachverständigen sowie die von der Revisionswerberin vorgelegten Beweismittel ein. Insgesamt würden die befassten Sachverständigen eine nachvollziehbare, schlüssige und vollständige Beurteilung der bei der Revisionswerberin vorliegenden dauerhaften Funktionseinschränkungen vorgenommen haben und stehe das Gutachtensergebnis in Einklang mit den im Rahmen der persönlichen Untersuchungen der Revisionswerberin erhobenen klinischen Untersuchungsbefunden sowie den von der Revisionswerberin vorgelegten medizinischen Befunden. Die Ausführungen in den Sachverständigengutachten seien im Rahmen der Beschwerde bzw. des Vorlageantrages nicht substantiiert bestritten worden und auch keine neuen medizinischen Befunde vorgelegt worden, welche geeignet gewesen wären, zu einem geänderten Ergebnis des Gesamtgrades der Behinderung zu führen. Die mit zuletzt ausgeführter Stellungnahme zum Aktengutachten vom vorgelegte internistische Stellungnahme vom sowie das orthopädische Gutachten vom fielen unter die Neuerungsbeschränkung des § 46 BBG, wonach neue Tatsachen und Beweismittel im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht vorgebracht werden dürften. Der Vollständigkeit halber sei festzuhalten, dass die damit erstmals ins Treffen geführten Kopfschmerzattacken demnach nicht mehr hätten berücksichtigt werden können, und die in dem orthopädischen Gutachten zuletzt vorgenommene Bewertung der einzelnen Leiden mit einem jeweils angeführten Grad der Behinderung sowie die Darlegung des Gesamtgrades der Behinderung mangels Anführung der entsprechenden Positionen der Anlage zur Einschätzungsverordnung und Begründung einer allfälligen negativen wechselseitigen Leidensbeeinflussung nicht nachvollziehbar sei.

15 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, die Leiden der Revisionswerberin seien entsprechend der Anlage der Einschätzungsverordnung von einem ärztlichen Sachverständigen mit einem Gesamtgrad der Behinderung im Ausmaß von 20% eingestuft und der Gesamtgrad der Behinderung damit begründet worden, dass das führende Leiden auf Grund fehlender wechselseitiger Leidensbeeinflussung durch die weiteren Leiden nicht weiter erhöht werde. Da aus den dargelegten Gründen die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht erfüllt seien, sei spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

16 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe im gegenständlichen Fall abgesehen werden können. Vor dem Hintergrund der auf persönlichen Untersuchungen gestützten vollständigen, schlüssigen und widerspruchsfreien Sachverständigengutachten und infolge des Umstandes, dass sich die Einwendungen der Revisionswerberin ebenso wie der mit dem Vorlageantrag vorgelegte MRT-Befund als nicht geeignet erwiesen hätten, die eingeholten Sachverständigengutachten zu entkräften, hätten sich für das Verwaltungsgericht daher keine weiteren Fragen an die Revisionswerberin oder an die befassten Sachverständigen ergeben und wäre der Sachverhalt als geklärt anzusehen gewesen.

17 2.3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, die nach mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom , E 2527/2020-22, erfolgter Abtretung der an diesen gerichteten Beschwerde fristgerecht erhoben wurde.

18 3. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

19 3.1. Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das Recht der Revisionswerberin auf Parteiengehör sei wiederholt verletzt worden. So seien ihr die Ergebnisse der im Verwaltungsverfahren durchgeführten Untersuchungen nicht mitgeteilt worden und sei ihr weder vor Bescheiderlassung noch danach die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt worden. Darüber hinaus sei das von der Revisionswerberin vorgelegte Sachverständigengutachten vom vom Verwaltungsgericht unter Verweis auf das Neuerungsverbot des § 46 BBG bei der Erkenntnisfindung nicht einbezogen worden. Insofern das Verwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren ein eigenes Sachverständigengutachten eingeholt habe, stehe es dem Behindertenpasswerber im Rahmen des ihm seitens des Verwaltungsgerichts einzuräumenden rechtlichen Gehörs offen, diesem Gutachten, etwa auch durch Beibringung eines eigenen Sachverständigengutachtens, entgegenzutreten. Demnach widerspreche das seitens der Revisionswerberin vorgelegte Gutachten vom dem Neuerungsverbot des § 46 BBG nicht.

20 Die Revision ist im Sinne dieses Vorbringens zulässig. Sie ist auch begründet.

21 3.2. Die Wahrung des Parteiengehörs, das zu den fundamentalen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit der Hoheitsverwaltung gehört, ist von Amts wegen, ausdrücklich, in förmlicher Weise und unter Einräumung einer angemessenen Frist zu gewähren. Das Parteiengehör besteht nicht nur darin, den Parteien im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis einer Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen, sondern ihnen ganz allgemein zu ermöglichen, ihre Rechte und rechtlichen Interessen geltend zu machen, mithin Vorbringen zu gegnerischen Behauptungen zu erstatten, Beweisanträge zu stellen und überhaupt die Streitsache zu erörtern (, mwN).

22 Eine genügende Möglichkeit zur Stellungnahme besteht für die Partei nur dann, wenn ihr hiefür auch eine ausreichende Frist für die Einholung fachlichen Rats bzw. zur Vorlage eines entsprechenden Gutachtens eingeräumt wird. Die Frist zur Stellungnahme muss dazu ausreichen, um ein Gutachten durch ein Gegengutachten entkräften zu können, weshalb dabei die erforderliche Zeit für die Auswahl eines entsprechenden Sachverständigen und seine Beauftragung einerseits und der für die Ausarbeitung eines Gutachtens erforderliche Zeitraum andererseits zu berücksichtigen ist. Für das Gutachten eines Sachverständigen erweist es sich zur Wahrung des Parteiengehörs seitens einer Verwaltungsbehörde daher zumindest als notwendig, den Schriftsatz samt Gutachten mit einem Hinweis darauf zu übermitteln, dass der zu erlassende Bescheid auf dieses Gutachten gestützt werde, um den Parteien die Möglichkeit zu bieten, dem Gutachten auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten (VwGH, , Ra 2017/03/0069, mwN).

23 Gemäß § 45 Abs. 3 AVG, der gemäß § 17 VwGVG in Verfahren vor Verwaltungsgerichten anzuwenden ist, ist den Parteien Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, der Ergänzung eines Sachverständigengutachtens auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten, sofern das Verwaltungsgericht entscheidungswesentliche Feststellungen maßgeblich auf dieses Beweismittel stützt (vgl. , mwN).

24 Das Verwaltungsgericht hat sich bei seiner Beurteilung des Grades der Behinderung maßgeblich auf die Sachverständigengutachten gestützt, die die belangte Behörde im Zuge des verwaltungsgerichtlichen Vorverfahrens eingeholt hatte. Die belangte Behörde hatte der Revisionswerberin jedoch kein Parteiengehör zu diesen Sachverständigengutachten gewährt. Es ist ihr sohin im Sinne der oben wiedergegebenen Rechtsprechung keine genügende Möglichkeit zur Stellungnahme, insbesondere auf dem Weg, den Gutachten auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten, gegeben worden.

25 Das Verwaltungsgericht hat schon aus diesem Grund das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit wegen Verfahrensverletzung belastet. Hinsichtlich der von der Revisionswerberin vorgebrachten unrichtigen Anwendung des § 46 BBG ist auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom , G 225/2021-19, zu verweisen.

26 3.3. Das Verwaltungsgericht hat sich überdies über die hg. Judikatur zur Verhandlungspflicht bei Ermittlung des Grades der Behinderung hinweggesetzt, wonach sowohl bei der Einschätzung des Grades der Behinderung als auch bei der Beurteilung, ob die gesundheitlichen Einschränkungen der Betroffenen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar erscheinen lassen, wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person der Antragstellerin grundsätzlich eine mündliche Verhandlung geboten ist (vgl. , mwN). Insbesondere zeigt der Umstand, dass das Verwaltungsgericht die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durch Einholung einer Gutachtensergänzung für erforderlich erachtete und sich veranlasst sah, den Beweiswert des Privatgutachtens zu würdigen, dass es den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht als geklärt ansah, weshalb die Voraussetzungen für das Absehen von der Durchführung der beantragten Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG nicht vorlagen.

27 Das angefochtene Erkenntnis, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannt hat, war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

28 3.4. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil ein weiterer Aufwandersatz unter dem Titel der Umsatzsteuer nicht vorgesehen ist und die Revision gemäß § 51 BBG von der Eingabengebühr nach § 24a VwGG befreit war.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
AVG §17 Abs1
AVG §37
AVG §45 Abs3
AVG §52
BBG 1990 §40 Abs1
BBG 1990 §42
BBG 1990 §45
MRK Art6
VwGG §42 Abs1 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4
Schlagworte
Gutachten Parteiengehör Parteiengehör Sachverständigengutachten Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022110035.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
XAAAF-45973