VwGH 23.02.2023, Ra 2022/08/0137
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Norm | AVG §19 Abs3 |
RS 1 | Nach § 19 Abs. 3 AVG hat, wer nicht durch Krankheit, Behinderung oder sonstige begründete Hindernisse vom Erscheinen abgehalten ist, die Verpflichtung, der Ladung Folge zu leisten. Dem § 19 Abs. 3 AVG ist nicht zu entnehmen, dass diesbezügliche Mitteilungen bzw. Nachweise der Parteien an die Behörde (das VwG) in jedem Fall vor dem Verhandlungstermin zu ergehen hätten. Es kommt vielmehr darauf an, dass - wenn auch allenfalls nachträglich - ein "begründetes Hindernis" im Sinn des § 19 Abs. 3 AVG konkretisiert und unter Angabe von Bescheinigungsmitteln dargelegt wurde (vgl. , mwN). |
Normen | |
RS 2 | Dem rechtswidrigen Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung ist es gleichzuhalten, wenn zwar eine Verhandlung durchgeführt, die Partei aber nicht wirksam geladen worden ist (vgl. [zu einem Fall, in dem die Ladung zur Verhandlung erst nach Durchführung der Verhandlung wirksam zugestellt wurde]; weiters zB ; , Ra 2019/11/0183; , Ra 2021/02/0059; , Ra 2021/09/0234 [betreffend "civil rights"], jeweils mwN). |
Normen | |
RS 3 | Da das VwG seine Annahme eines "unentschuldigten" Nichterscheinens der Partei zur mündlichen Verhandlung nicht begründet hat und infolgedessen ihre ordnungsgemäße Ladung nicht angenommen werden kann, war das Unterbleiben der ordnungsgemäßen Ladung gegenüber der Partei dem rechtswidrigen Unterbleiben der Verhandlung gleichzuhalten. |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des S G in W, vertreten durch Dr. Michael F. Lagler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottenring 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W121 2254668-1/11E, betreffend Zuerkennung von Arbeitslosengeld (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Jägerstraße), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber beantragte beim Arbeitsmarktservice (AMS) die Gewährung von Arbeitslosengeld. Mit Bescheid vom stellte das AMS fest, dass dem Revisionswerber das Arbeitslosengeld ab diesem Tag gebühre, und hielt dazu in der Begründung fest, dass der Revisionswerber seinen „Antrag auf Arbeitslosengeld am geltend gemacht“ habe. Der Revisionswerber erhob dagegen Beschwerde und machte geltend, er habe seinen Antrag bereits am persönlich beim AMS („beim Berater“) abgegeben. Nach Ergehen einer Beschwerdevorentscheidung des AMS und Einbringung eines Vorlageantrags durch den Revisionswerber wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde nach einer in Abwesenheit des Revisionswerbers durchgeführten Verhandlung ab.
2 Das Bundesverwaltungsgericht legte seinem Erkenntnis zusammengefasst folgende Feststellungen zugrunde: Der Revisionswerber habe sich am beim AMS telefonisch arbeitslos gemeldet. Daraufhin seien ihm postalisch ein Antragsformular sowie ein Informationsschreiben zugeschickt worden, dem zu entnehmen gewesen sei, dass der Antrag ausgefüllt bis spätestens postalisch zurückgesendet werden müsse, damit der Anspruch geltend gemacht werden könne. Am habe der Revisionswerber in der Beratungszone des AMS vorgesprochen. Ein Antragsformular mit Geltendmachung ab sei beim AMS nicht eingelangt. Am habe der Revisionswerber sodann ein Antragsformular auf Arbeitslosengeld über das eAMS-Konto übermittelt.
3 Das Bundesverwaltungsgericht hielt im angefochtenen Erkenntnis (in der Schilderung des Verfahrensgangs) fest, dass der Revisionswerber und sein Rechtsanwalt ordnungsgemäß zur Verhandlung geladen worden, aber „unentschuldigt nicht erschienen“ seien. Am sei beim Bundesverwaltungsgericht „die Krankenbestätigung“ des Revisionswerbers für die mündliche Verhandlung vom eingelangt.
4 Aus dem Akteninhalt ergibt sich, dass der Revisionswerber bereits vor seiner Nachricht vom (nämlich am ) dem Verwaltungsgericht per E-Mail mitgeteilt hatte, dass er am Verhandlungstag „mit 39,5 Fieber gelegen“ sei, sich nicht bewegen habe können, auf das Ergebnis eines „Corona-Tests“ warte, und dass sein Vertreter - den er nicht rechtzeitig informieren habe können - davon ausgegangen sei, dass er „die Verhandlung alleine machen“ könne.
5 Im angefochtenen Erkenntnis begründete das Verwaltungsgericht seine Feststellung, dass eine Geltendmachung des Arbeitslosengeldes durch den Revisionswerber nicht bereits vor dem erfolgt sei, unter Hinweis auf den Verwaltungsakt und mangelnde anderweitige Nachweise durch den Revisionswerber. Es hielt dazu fest, dass die Behauptung des Revisionswerbers, er habe seinem Berater das ausgefüllte Formular am persönlich übergeben, nicht glaubhaft sei, weil die Beratung in der Beratungszone stattgefunden habe, Anträge aber in der Beratungszone nicht angenommen würden, da dies Aufgabe der Servicezone sei. Dies sei auch durch die Einvernahme des Beraters (in der mündlichen Verhandlung) bestätigt worden.
6 Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS mitteilte, von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung abzusehen, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
8 Die Revision ist unter dem Gesichtspunkt der in der Zulässigkeitsbegründung geltend gemachten Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht zulässig. Sie ist auch berechtigt.
9 Die Nachricht des Revisionswerbers vom , mit der er zur Rechtfertigung seines Fernbleibens von der Verhandlung am eine „Krankenbestätigung“ vorlegte, wird zwar in der Schilderung des Verfahrensgangs genannt, eine Würdigung ihres Inhalts ist dem angefochtenen Erkenntnis aber nicht zu entnehmen. Die weitere im Akt befindliche Nachricht des Revisionswerbers (vom ), wonach er am Verhandlungstag „mit 39,5 Fieber gelegen“ sei, sich nicht bewegen habe können, auf das Ergebnis eines „Corona-Tests“ warte, und sein Vertreter - den er nicht rechtzeitig informieren habe können - davon ausgegangen sei, dass er „die Verhandlung alleine machen“ könne, findet im angefochtenen Erkenntnis keine Erwähnung.
10 Der Revisionswerber hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in seinem Vorlageantrag beantragt und in der Beschwerde ein sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet (dem das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung auf Basis von in der Verhandlung gewonnenen Beweisergebnissen nicht gefolgt ist).
11 Das Nichterscheinen einer Partei trotz ordnungsgemäßer Ladung hindert die Durchführung der Verhandlung nicht. Voraussetzung für die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit der Partei ist demnach eine „ordnungsgemäße Ladung“. Davon kann dann nicht gesprochen werden, wenn einer der im § 19 Abs. 3 AVG genannten - das Nichterscheinen des Geladenen rechtfertigenden - Gründe vorliegt (vgl. zB ; , Ra 2019/20/0137; , Ra 2021/14/0351, jeweils mwN). Nach § 19 Abs. 3 AVG hat, wer nicht durch Krankheit, Behinderung oder sonstige begründete Hindernisse vom Erscheinen abgehalten ist, die Verpflichtung, der Ladung Folge zu leisten. Dem § 19 Abs. 3 AVG ist nicht zu entnehmen, dass diesbezügliche Mitteilungen bzw. Nachweise der Parteien an die Behörde (das Verwaltungsgericht) in jedem Fall vor dem Verhandlungstermin zu ergehen hätten. Es kommt vielmehr darauf an, dass - wenn auch allenfalls nachträglich - ein „begründetes Hindernis“ im Sinn des § 19 Abs. 3 AVG konkretisiert und unter Angabe von Bescheinigungsmitteln dargelegt wurde (vgl. , mwN).
12 Es stellt daher einen Begründungsmangel dar, wenn das Verwaltungsgericht das unter Vorlage eines Belegs und substantiiert erstattete Vorbringen des Revisionswerbers, ohne es einer Würdigung zu unterziehen - sohin begründungslos -, dahingehend qualifiziert, dass der Revisionswerber zur Verhandlung „unentschuldigt“ nicht erschienen sei. Das Verwaltungsgericht hat somit das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds für das Nichterscheinen des Revisionswerbers zur Verhandlung verneint, ohne dies schlüssig zu begründen, sodass nach dem Gesagten eine ordnungsgemäße Ladung zur Verhandlung nicht angenommen werden kann (vgl. ; , Ra 2019/11/0183).
13 Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK (vgl. ). Dem rechtswidrigen Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung ist es gleichzuhalten, wenn zwar - wie im gegenständlichen Fall - eine Verhandlung durchgeführt, die Partei aber nicht wirksam geladen worden ist (vgl. [zu einem Fall, in dem die Ladung zur Verhandlung erst nach Durchführung der Verhandlung wirksam zugestellt wurde]; weiters zB ; , Ra 2019/11/0183; , Ra 2021/02/0059; , Ra 2021/09/0234 [ebenfalls betreffend „civil rights“], jeweils mwN).
14 Da das Verwaltungsgericht seine Annahme eines „unentschuldigten“ Nichterscheinen des Revisionswerbers zur mündlichen Verhandlung nicht begründet hat und infolgedessen seine ordnungsgemäße Ladung nicht angenommen werden kann, war das Unterbleiben der ordnungsgemäßen Ladung gegenüber dem Revisionswerber dem rechtswidrigen Unterbleiben der Verhandlung gleichzuhalten. Darin liegt ein Verfahrensmangel, der (im - hier gegebenen - Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK ohne nähere Prüfung seiner Relevanz) zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses führt.
15 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022080137.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
MAAAF-45942