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VwGH 22.03.2023, Ra 2022/06/0321

VwGH 22.03.2023, Ra 2022/06/0321

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


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Normen
AVG §10 Abs1
AVG §10 Abs2
VwRallg
RS 1
Zur Wirksamkeit des Widerrufes einer Vollmacht muss dieser Widerruf auch der Behörde gegenüber mitgeteilt werden (Hinweis E vom , 99/18/0411 und 0412).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2016/05/0003 B RS 2
Normen
AVG §10
AVG §18 Abs4
AVG §56
AVG §58 Abs3
AVG §59 Abs1
AVG §68 Abs1
VwRallg
RS 2
Hatte die belangte Behörde von der Auflösung des Vollmachtsverhältnisses im verwaltungsbehördlichen Verfahren vor deren Bekanntgabe durch den Rechtsvertreter der Revisionswerberin keine Kenntnis, war die Zustellung des Straferkenntnisses (vom ) zu Handen des Rechtsvertreters der Revisionswerberin rechtswirksam. Die der Revisionswerberin in der Folge zu einem späteren Zeitpunkt zugestellte "Ausfertigung" des Straferkenntnisses (vom ) ist nicht als bloße weitere Ausfertigung des Straferkenntnisses (vom ) anzusehen, sondern als ein gesonderter Bescheid. Dies resultiert insbesondere aus der unterschiedlichen Datierung der beiden Straferkenntnisse. Sowohl das Datum als auch die genaue Bezeichnung des Bescheidadressaten sind gesetzlich zwingende Bestandteile eines jeden Bescheides (§ 58 Abs. 3 in Verbindung mit § 18 Abs. 4 erster Satz AVG; vgl. auch , mwN). Die belangte Behörde hat daher durch den zu einem späteren Zeitpunkt zugestellten (zweiten) Strafbescheid neuerlich in einer schon bescheidmäßig abgeschlossenen Verwaltungsstrafsache ein - wenngleich materiell gleichlautendes - Straferkenntnis erlassen.
Normen
AVG §56
AVG §59 Abs1
AVG §68 Abs1
VwRallg
RS 3
Wurde über einen bestimmten Sachverhalt bescheidmäßig abgesprochen, kann bei Gleichbleiben der tatsächlichen Verhältnisse und rechtlichen Grundlagen keine weitere Entscheidung (nicht einmal eine gleichlautende) in dieser Sache ergehen. Diese Entscheidung wäre inhaltlich rechtswidrig (vgl. ). Rechtswidrig ist der zweite Bescheid auch dann, wenn er noch während offener Rechtsmittelfrist des ersten Bescheides erlassen wird, ohne dass ein entsprechendes Rechtsmittel eingebracht wurde, weil die Unabänderlichkeit und Unwiederholbarkeit des Bescheides bereits mit dessen Erlassung beginnt. Aus dem Gedanken der materiellen Rechtskraft folgt grundsätzlich eine Bindungswirkung an eine behördliche Entscheidung (vgl. dazu neuerlich ).

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Lehofer und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Bayer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der J W in B, vertreten durch Univ. Doz. Dr. Thomas E. Walzel von Wiesentreu, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Museumstraße 28/4. Stock, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG-2022/22/1486-3, betreffend Übertretung der Tiroler Bauordnung 2018 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Kufstein), zu Recht erkannt:

Spruch

I. Der angefochtene Beschluss wird, soweit damit die Beschwerde der Revisionswerberin gegen das Straferkenntnis vom als verspätet zurückgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts Tirol aufgehoben.

II. Im Übrigen wird der angefochtene Beschluss, soweit damit die Beschwerde der Revisionswerberin gegen das Straferkenntnis vom als verspätet zurückgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom wurde die Revisionswerberin für schuldig erkannt, sie habe als Eigentümerin einer näher bezeichneten Liegenschaft zu verantworten, dass unbeschadet des § 13a Abs. 1 Tiroler Raumordnungsgesetz 2016 (TROG 2016) eine bauliche Anlage, oder ein Teil davon, zu einem anderen als dem bewilligten bzw. als dem aus der baulichen Zweckbestimmung hervorgehenden Verwendungszweck benutzt oder anderen zur Benützung überlassen worden sei, indem zumindest im Zeitraum von bis (Spruchpunkt 1.) und im Zeitraum von bis (Spruchpunkt 2.) die näher bezeichnete Wohnung entgegen dem baurechtlich genehmigten Verwendungszweck (Wohnnutzung) zur Beherbergung von Gästen verwendet worden sei. Die Revisionswerberin habe dadurch jeweils § 28 Abs. 1 lit. c Tiroler Bauordnung 2018 (TBO 2018) verletzt, weshalb über sie gemäß § 67 Abs. 1 lit. m TBO 2018 eine Verwaltungsstrafe in der Höhe von jeweils € 2.000,-- sowie ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens in der Höhe von € 400,--, insgesamt daher ein zu zahlender Gesamtbetrag in der Höhe von € 4.400,--, im Falle der Nichtbezahlung eine Freiheitsstrafe in der Dauer von jeweils 20 Stunden (in Summe sohin 40 Stunden), zu verhängen gewesen sei.

2 Dieses Straferkenntnis wurde dem im Verfahren vor der belangten Behörde ausgewiesenen Rechtsvertreter der Revisionswerberin Rechtsanwalt Dr. W. am zugestellt.

3 Mit Eingabe des Rechtsanwalts Dr. W. vom teilte dieser der belangten Behörde mit, das Vollmachtsverhältnis zur Revisionswerberin sei bereits im November 2021 beendet worden und er ersuchte, das Straferkenntnis vom an die Revisionswerberin persönlich zuzustellen.

4 Diesem Ersuchen gab die belangte Behörde insofern Folge, als sie ein - nunmehr mit datiertes, inhaltlich gleichlautendes - Straferkenntnis direkt an die Revisionswerberin zustellte. Die Zustellung an die Revisionswerberin erfolgte laut dem im Verwaltungsakt befindlichen Rückschein am .

5 Gegen das Straferkenntnis vom erhob die Revisionswerberin, wieder vertreten durch Rechtsanwalt Dr. W., am Beschwerde.

6 Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Tirol (im Folgenden: Verwaltungsgericht) wurde die Beschwerde gegen „das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein mit den Daten und “ als verspätet zurückgewiesen. Gleichzeitig sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer ordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, gegenständlich läge bloß ein Straferkenntnis vor, weil das Straferkenntnis vom nur neuerlich, völlig inhaltsgleich und lediglich mit einem neuen Datum versehen zugestellt worden sei. Da es sich daher um eine weitere Zustellung eines inhaltsgleichen Straferkenntnisses handle, entfalte die zweite Ausfertigung mit dem Datum keine Rechtswirkungen. Der Rechtsvertreter der Revisionswerberin ignoriere, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, die Behörde vor Erlassung des Straferkenntnisses vom rechtzeitig über die Beendigung des Vollmachtsverhältnisses zu informieren. So müsse er die Rechtswirkungen dieses Straferkenntnisses „gegen sich“ gelten lassen und hätte - aus anwaltlicher Vorsicht - dagegen Beschwerde erheben müssen.

8 Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , E 1959/2022-5, abgelehnt und sie mit Beschluss vom , E 1959/2022-7, über nachträglichen Antrag der Revisionswerberin, an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten hat.

9 In der Folge erhob die Revisionswerberin die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Begehren, die angefochtene Entscheidung kostenpflichtig aufzuheben.

10 Die belangte Behörde erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung, in der sie beantragte, der Verwaltungsgerichtshof möge die Revision wegen Unzulässigkeit zurückweisen, in eventu als in der Sache unbegründet abweisen, in eventu gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in der Sache selbst entscheiden.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

12 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das Verwaltungsgericht sei mit seiner Erledigung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es einen individuellen Verwaltungsakt, der alle Voraussetzungen für die Erzeugung der Rechtsform „Bescheid“ erfülle, als nicht bekämpfbaren „Nichtakt“ behandle (mit Hinweis auf ; , 93/10/0082). Darüber hinaus sei das Verwaltungsgericht mit seiner Erledigung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es das Prinzip der Bindung an den Beschwerdegegenstand verkenne (mit Hinweis auf ; , 99/05/0043; , 2002/07/0011; , 92/14/0063). Die Unterlegung eines anderen Beschwerdegegenstandes und die nachfolgende Entscheidung über diesen anderen Beschwerdegegenstand sei dem Verwaltungsgericht mangels Zuständigkeit zur Entscheidung darüber verwehrt (mit Hinweis auf ; , 2004/11/0018 und Hengstschläger/Leeb, AVG, § 63 Rz 81).

13 Die Revision erweist sich im Hinblick auf dieses Vorbringen als zulässig.

14 Voranzustellen ist, dass es - wie auch das Verwaltungsgericht zutreffend erkannte - zur Wirksamkeit des Widerrufes der Vollmacht gegenüber der Behörde nicht genügt, wenn dieser Widerruf dem Rechtsanwalt bekannt gegeben wird; vielmehr muss dies auch der Behörde gegenüber mitgeteilt werden (vgl. ).

15 Da die belangte Behörde nach den unbestrittenen tatsächlichen Annahmen des angefochtenen Beschlusses von der Auflösung des Vollmachtsverhältnisses im verwaltungsbehördlichen Verfahren vor deren Bekanntgabe durch den Rechtsvertreter der Revisionswerberin Rechtsanwalt Dr. W. am keine Kenntnis hatte, war die Zustellung des Straferkenntnisses vom zu Handen des Rechtsvertreters der Revisionswerberin rechtswirksam. Die Zustellung erfolgte am .

16 Die der Revisionswerberin in der Folge am zugestellte „Ausfertigung“ des Straferkenntnisses vom ist nicht als bloße weitere Ausfertigung des Straferkenntnisses vom anzusehen, sondern als ein gesonderter Bescheid. Dies resultiert insbesondere aus der unterschiedlichen Datierung der beiden Straferkenntnisse. Sowohl das Datum als auch die genaue Bezeichnung des Bescheidadressaten sind gesetzlich zwingende Bestandteile eines jeden Bescheides (§ 58 Abs. 3 in Verbindung mit § 18 Abs. 4 erster Satz AVG; vgl. auch , mwN).

17 Die belangte Behörde hat daher durch den am zugestellten (zweiten) Strafbescheid neuerlich in einer schon bescheidmäßig abgeschlossenen Verwaltungsstrafsache ein - wenngleich materiell gleichlautendes - Straferkenntnis erlassen.

18 Zu Spruchpunkt I:

19 Die am erhobene Beschwerde der Revisionswerberin richtet sich ausdrücklich - wie auch die Revision vorbringt - gegen den Strafbescheid vom . Das am an den Rechtsvertreter der Revisionswerberin rechtswirksam zugestellte Straferkenntnis vom blieb unbekämpft.

20 Das Verwaltungsgericht hat dadurch, dass es über das Straferkenntnis vom entschieden hat, ohne dass eine Beschwerde der Revisionswerberin gegen dieses Straferkenntnis vorlag, seinen Beschluss mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet.

21 Der angefochtene Beschluss war daher in dem im Spruchpunkt I. genannten Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.

22 Zu Spruchpunkt II:

23 Wurde über einen bestimmten Sachverhalt bescheidmäßig abgesprochen, kann bei Gleichbleiben der tatsächlichen Verhältnisse und rechtlichen Grundlagen keine weitere Entscheidung (nicht einmal eine gleichlautende) in dieser Sache ergehen. Diese Entscheidung wäre inhaltlich rechtswidrig (vgl. ). Rechtswidrig ist der zweite Bescheid auch dann, wenn er noch während offener Rechtsmittelfrist des ersten Bescheides erlassen wird, ohne dass ein entsprechendes Rechtsmittel eingebracht wurde, weil die Unabänderlichkeit und Unwiederholbarkeit des Bescheides bereits mit dessen Erlassung beginnt (zur Unwiederholbarkeit eines Bescheides vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG, § 68, Rz 20). Aus dem Gedanken der materiellen Rechtskraft folgt grundsätzlich eine Bindungswirkung an eine behördliche Entscheidung (vgl. dazu neuerlich ).

24 Die belangte Behörde hat daher durch Erlassung des zweiten Straferkenntnisses vom rechtswidrig gehandelt und gegen die materielle Rechtskraft des bereits erlassenen, mit datierten und am an den Rechtsvertreter der Revisionswerberin zugestellten Straferkenntisses verstoßen. Dies hätte aufgrund der rechtzeitigen Beschwerde der Revisionswerberin vom gegen das Straferkenntnis vom zur Aufhebung dieses zweiten Straferkenntnisses wegen Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem führen müssen (vgl. erneut ).

25 Entgegen der Argumentation in der Revision, die außer Acht lässt, dass die Revisionswerberin den Bescheid vom nicht hat rechtskräftig werden lassen, sondern mit Beschwerde bekämpft hat, ist daher nicht von einer Derogation des Straferkenntnisses vom , sondern vielmehr von einem Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot durch das neuerliche Straferkenntnis vom , auszugehen.

26 Dadurch, dass das Verwaltungsgericht dies nicht erkannt hat, belastete es seinen Beschluss, soweit es damit die Beschwerde gegen das Straferkenntnis vom wegen Verspätung zurückgewiesen hat, mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb er insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

27 Klarstellend ist hinzuzufügen, dass das am an den Rechtsvertreter der Revisionswerberin rechtswirksam zugestellte Straferkenntnis vom - wie schon ausgeführt - unbekämpft blieb und in Rechtskraft erwachsen ist.

28 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013, in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
AVG §10
AVG §10 Abs1
AVG §10 Abs2
AVG §18 Abs4
AVG §56
AVG §58 Abs3
AVG §59 Abs1
AVG §68 Abs1
VwRallg
Schlagworte
Bescheidcharakter Bescheidbegriff Datum Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Inhalt des Spruches Allgemein Angewendete Gesetzesbestimmung Inhalt des Spruches Anführung des Bescheidadressaten Rechtsgrundsätze Verzicht Widerruf VwRallg6/3 Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022060321.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
CAAAF-45902