TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH 22.06.2022, Ra 2021/13/0132

VwGH 22.06.2022, Ra 2021/13/0132

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
BAO §20
BAO §80 Abs1
BAO §9 Abs1
VwRallg
RS 1
Die Vermögens- und Arbeitslosigkeit des Haftenden steht - auch im Zusammenhang mit der Ermessensübung - in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Geltendmachung der Haftung, zumal es eine allfällige (zur Zeit der Erlassung des Haftungsbescheides bestehende) Uneinbringlichkeit beim Haftenden nicht ausschließt, dass künftig neu hervorkommendes Vermögen oder künftig erzielte Einkünfte zur Einbringlichkeit der haftungsgegenständlichen Abgaben führen können (vgl. ; , 2009/16/0085, mwN). Der Grad des Verschuldens des Vertreters ist eines der Kriterien, die bei Ausübung des Ermessens berücksichtigt werden können (vgl. ).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2020/13/0027 B RS 4 (hier ohne den letzten Satz)
Normen
BAO §20
BAO §224 Abs1
BAO §80 Abs1
BAO §9 Abs1
VwRallg
RS 2
Ein langer Zeitabstand zwischen dem Entstehen der Abgabenschuld oder dem Hervorkommen der Uneinbringlichkeit der Abgaben bei der Primärschuldnerin einerseits und der bescheidmäßigen Inanspruchnahme zur Haftung anderseits ist ein Umstand, den die Abgabenbehörde bei der Inanspruchnahme zur Haftung im Sinne des Ermessens nicht außer Betracht lassen darf. Ein solcher Umstand kann jedoch auch lediglich einer von mehreren Gesichtspunkten sein, die im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen sind. Inwieweit dieser Gesichtspunkt beim Ermessen Berücksichtigung findet, hängt vom Einzelfall ab. Eine Ermessensüberschreitung oder ein Ermessensmissbrauch läge dann vor, wenn ein solcher Umstand bei der Ermessensentscheidung überhaupt nicht berücksichtigt würde (vgl. , mwN).

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und den Hofrat MMag. Maislinger sowie die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision der Mag. B in H, vertreten durch MMag. Christian Mertens, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Templstraße 6, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom , Zl. RV/3100284/2021, betreffend Haftung gemäß § 9 iVm § 80 BAO, zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin war Geschäftsführerin der P GmbH. Am erließ das Finanzamt gegenüber der Revisionswerberin einen Haftungsbescheid für die Umsatzsteuer der Jahre 2003 bis 2006 der P GmbH. Zur Vorgeschichte des Umsatzsteuerverfahrens der P GmbH wird auf die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2008/15/0285, und vom , Ra 2016/15/0038, zu jener des Haftungsverfahrens auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2019/13/0046, verwiesen.

2 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit letztgenanntem Erkenntnis das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufgehoben, weil es bei der Ermessensübung den Zeitraum zwischen dem Entstehen der Abgabenschuld bzw. dem Hervorkommen der Uneinbringlichkeit der Abgaben bei der Primärschuldnerin und der bescheidmäßigen Haftungsinanspruchnahme nicht berücksichtigt hatte und zum Hervorkommen der Uneinbringlichkeit keine Feststellungen getroffen worden waren.

3 Im fortgesetzten Verfahren gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde teilweise statt und änderte den Bescheid ab. Es führte aus, dass der Abgabenanspruch bei der Umsatzsteuer für Lieferungen und Leistungen mit Ablauf jenes Kalendermonats entstehe, in dem die Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt worden sei. Die Abgabenschuld (der Abgabenzahlungsanspruch) werde für eine bescheidmäßig festgesetzte Umsatzsteuer mit deren Fälligkeit begründet. Dieser Zeitpunkt sei - bedingt durch die zuerst stattgebende Entscheidung des unabhängigen Finanzsenates und die spätere Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof - der gewesen. Dies sei der Anfangszeitpunkt für die zu beurteilende Spanne im Rahmen der Ermessensübung.

4 Zur Uneinbringlichkeit der Abgaben stellte das Bundesfinanzgericht fest, dass das Finanzamt erst mit der abschließenden Verbuchung der haftungsgegenständlichen Abgaben auf dem Abgabenkonto der P GmbH davon Kenntnis erlangt habe, dass die in der zuletzt eingereichten Bilanz für die Besteuerungsperiode 2013 ausgewiesene sonstige Forderung in Höhe von 119.382,50 € nicht werthaltig und die P GmbH somit vermögenslos gewesen sei. Somit sei die Uneinbringlichkeit der haftungsgegenständlichen Abgaben mit festgestanden. Die Zeitspanne zwischen dem Feststehen der Uneinbringlichkeit und der Geltendmachung des Haftungsanspruches habe nur zwei Monate betragen und sei damit nicht unbillig lang. Zu den Fälligkeitszeitpunkten für die Umsatzsteuer seien ausreichend Mittel zur Verfügung gestanden, weil die P GmbH bis zum Jahr 2007 Umsätze in Millionenhöhe erwirtschaftet habe. Zudem verfüge die Revisionswerberin noch über umfangreiche Geschäftsunterlagen der P GmbH. In der Zeitspanne zwischen Entstehen der Abgabenschuld mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom und Erlassung des Haftungsbescheides wären Einbringungshandlungen nicht zweckmäßig gewesen. Die P GmbH habe mit der Beschwerde einen Aussetzungsantrag eingebracht und hätte diesen jederzeit erneuern und dadurch eine Hemmung der Einhebungs- und Einbringungsmaßnahmen herbeiführen können. Auch habe die Revisionswerberin Einfluss auf die Dauer des fortgesetzten Beschwerdeverfahrens gehabt, weil sie etwa eine Säumnisbeschwerde bzw. einen Fristsetzungsantrag hätte einbringen können. Das Bundesfinanzgericht habe im Verfahren zur P GmbH festgestellt, dass die Revisionswerberin die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes nicht beachtet habe, weshalb ein grobes Verschulden der Revisionswerberin vorgelegen habe, das im Haftungsverfahren zu berücksichtigen sei. Weder dem Finanzamt noch den Berufungsbehörden sei eine lange Untätigkeit vorzuwerfen.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, die Haftungsinanspruchnahme gemäß § 9 BAO setze Verschulden voraus. Bei der Gesetzesauslegung sei Unionsrecht zu beachten. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rs Unitel, C-653/18, setze die Steuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht voraus, dass der tatsächliche Abnehmer einer Lieferung identifiziert sein müsse. Es müssten lediglich die materiellen Voraussetzungen erfüllt sein. Das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom entspreche nicht der Rechtsprechung des EuGH; dies müsse im Rahmen des Haftungsverfahrens berücksichtigt werden. Weiters habe das Bundesfinanzgericht bei der Ermessensübung den Umstand, dass zwischen dem Entstehen der Abgabenschuld oder der Feststellung der Uneinbringlichkeit ein langer zeitlicher Abstand liege, falsch interpretiert, indem es den Abgabenzahlungsanspruch mit dem Abgabenanspruch gleichgesetzt habe. Von einer objektiven Uneinbringlichkeit sei bereits im Jahr 2009 auszugehen gewesen, weil seit damals keine Umsätze mehr getätigt worden seien. Zudem sei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Revisionswerberin nicht berücksichtigt worden.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Eineitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und begründet.

8 Die Revision bringt zum mangelnden Verschulden der Revisionswerberin vor, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Steuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass der tatsächliche Abnehmer einer Lieferung identifiziert wurde, wenn die materiellen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit vorliegen. Mit diesem Vorbringen wird der Abgabenanspruch betreffend die Primärschuldnerin bekämpft, dafür sieht § 248 BAO einen effektiven Rechtschutz vor, der von der Revisionswerberin nicht genutzt wurde. Das Bundesfinanzgericht ist in seiner Entscheidung vom , RV/3100670/2012, davon ausgegangen, dass die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der Lieferungen der Primärschuldnerin nicht nachgewiesen werden konnte. Diese Feststellungen wurde von der Revisionswerberin nicht im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 248 BAO bekämpft.

9 Soweit die Revision vorbringt, dass das Bundesfinanzgericht bei der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Revisionswerberin die Rechtslage verkannt habe, ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach selbst eine Vermögens- und Arbeitslosigkeit des Haftenden - auch im Zusammenhang mit der Ermessensübung - in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Geltendmachung der Haftung steht, zumal es eine allfällige Uneinbringlichkeit beim Haftenden auch nicht ausschließt, dass künftig neu hervorkommendes Vermögen oder künftig erzielte Einkünfte zur Einbringlichkeit der haftungsgegenständlichen Abgaben führen können (vgl. , mwN).

10 Zum Ermessen rügt die Revision weiters, dass das Bundesfinanzgericht von einem falschen Zeitpunkt des Vorliegens einer Uneinbringlichkeit ausgegangen ist. Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nach dem Vorerkenntnis auf das Hervorkommen der Uneinbringlichkeit ankommt, also ab wann für die Behörde die Uneinbringlichkeit erkennbar war (vgl. ). Das Bundesfinanzgericht ist davon ausgegangen, dass für das Finanzamt erst im Jahr 2015 die Uneinbringlichkeit hervorgekommen sei. Mit dem Vorbringen in der Revision, dass eine objektive Uneinbringlichkeit bereits ab 2009 vorgelegen habe, weil ab diesem Zeitpunkt keine Umsätze mehr erzielt worden seien, wird keine Unschlüssigkeit der Beweiswürdigung des Bundesfinanzgerichts aufgezeigt, weil mit dem Fehlen von Umsätzen nicht zwangsläufig die Uneinbringlichkeit von Abgaben verbunden ist.

11 Im Recht ist die Revision allerdings mit dem Vorbringen, das Bundesfinanzgericht habe im Hinblick auf die Zeitspanne zwischen Haftungsinanspruchnahme und Entstehen des Abgabenanspruches zu Unrecht auf den Abgabenzahlungsanspruch abgestellt.

12 Ein langer Zeitabstand zwischen dem Entstehen der Abgabenschuld oder dem Hervorkommen der Uneinbringlichkeit der Abgaben bei der Primärschuldnerin einerseits und der bescheidmäßigen Inanspruchnahme zur Haftung anderseits ist ein Umstand, den die Abgabenbehörde bei der Inanspruchnahme zur Haftung im Sinne des Ermessens nicht außer Betracht lassen darf. Ein solcher Umstand kann jedoch auch lediglich einer von mehreren Gesichtspunkten sein, die im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen sind. Inwieweit dieser Gesichtspunkt beim Ermessen Berücksichtigung findet, hängt vom Einzelfall ab. Eine Ermessensüberschreitung oder ein Ermessensmissbrauch läge dann vor, wenn ein solcher Umstand bei der Ermessensentscheidung überhaupt nicht berücksichtigt würde (vgl. , mwN).

13 Das Bundesfinanzgericht hat unzutreffenderweise bei der Ermessensentscheidung (nur) auf die Entstehung des Abgabenzahlungsanspruchs und nicht auf jene des Abgabenanspruches abgestellt. Das Bundesfinanzgericht durfte zwar durchaus in seiner Ermessensentscheidung berücksichtigen, dass die Abgabenschuld der P GmbH während der Anhängigkeit der Amtsbeschwerde gegen die Entscheidung des unabhängigen Finanzsenates aus dem Jahr 2008 nicht betreibbar gewesen ist und erst im Jahr 2015 eine rechtskräftige Entscheidung bezüglich der Abgabenschulden der P GmbH vorgelegen ist; dennoch hätte das Bundesfinanzgericht nach dem Vorerkenntnis auch den langen Zeitabstand zwischen Entstehen des Abgabenanspruches und der Haftungsinanspruchnahme in seine Erwägungen miteinbeziehen müssen.

14 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
BAO §20
BAO §224 Abs1
BAO §80 Abs1
BAO §9 Abs1
VwRallg
Schlagworte
Ermessen VwRallg8
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021130132.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
RAAAF-45654