Suchen Hilfe
VwGH 06.05.2022, Ra 2021/11/0171

VwGH 06.05.2022, Ra 2021/11/0171

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
AVG §37
VOG 1972 §1 Abs1
RS 1
Zwecks Prüfung von auf § 1 Abs. 1 VOG 1972 gestützten Ansprüchen hat das VwG erstens konkrete Feststellungen zu der ins Treffen geführten Gesundheitsschädigung und zweitens einwandfreie und umfassende Feststellungen zu den potentiell für die Gesundheitsschädigung kausalen Tathandlungen zu treffen, und zwar insbesondere hinsichtlich Beginn, Dauer, Häufigkeit und Art der behaupteten Handlungen (vgl. z.B. , mwN).
Normen
AVG §37
VOG 1972 §1 Abs1
RS 2
Für den Fall, dass bereits vor Setzen der betreffenden Tathandlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG 1972 eine bestimmte Grunderkrankung bestanden haben sollte, sind konkrete Feststellungen zu dieser Grunderkrankung zu treffen, und es ist diesbezüglich darzulegen, welche konkreten Umstände oder Vorfälle einen unbedenklichen Rückschluss auf eine solche schon zuvor bestehende Erkrankung zulassen (vgl. ; , Ro 2014/11/0044).
Normen
AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §52
VOG 1972 §1 Abs1
VwGVG 2014 §24
RS 3
Es ist nicht die Aufgabe von Gutachtern, hinsichtlich der Tathandlungen nach § 1 Abs. 1 VOG 1972 eine Beweiswürdigung vorzunehmen oder bestimmte Tathandlungen festzustellen; vielmehr sind die konkreten Tathandlungen von der Behörde bzw. vom VwG den Gutachtern als Ausgangsprämisse für die Gutachtenserstellung vorzugeben (). Gegebenenfalls kann diese (die Tathandlungen betreffende) Vorgabe an einen Gutachter erst nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie nach Würdigung der diesbezüglichen Ermittlungsergebnisse erfolgen, sodass nicht nur in vielen Fällen eine gutachterliche Beurteilung der Kausalität erst nach einer mündlichen Verhandlung ergehen, sondern zwecks Erörterung von schriftlichen Gutachten zu dieser Frage auch die Durchführung eines weiteren Verhandlungstermins geboten sein kann.
Normen
AVG §37
AVG §52
VOG 1972 §1 Abs1
RS 4
Das VwG ist auf Basis konkreter Feststellungen zu den Tathandlungen gehalten, in Anbetracht der jeweiligen strafgesetzlichen Bestimmungen rechtlich zu beurteilen, ob eine (oder allenfalls auch mehrere) Handlung(en) im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG 1972, d.h. eine mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung, vorlag(en). Anschließend ist - aufbauend auf die konkreten Feststellungen zur Gesundheitsschädigung (sowie zu einer allfälligen Grunderkrankung) und zu den jeweiligen Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG 1972 - die rechtliche Beurteilung vorzunehmen, ob ein Kausalzusammenhang mit der für das VOG 1972 erforderlichen Wahrscheinlichkeit zwischen der Gesundheitsschädigung und den Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG 1972 besteht, und zwar auf der Basis von Feststellungen, denen ein ärztliches Sachverständigengutachten zugrunde zu legen ist (, mwN).
Normen
KOVG 1957 §18 Abs2
VOG 1972 §1
VOG 1972 §2 Z7
RS 5
Bei der Annahme der (anspruchserzeugenden) Kausalität einer Ursache bei Vorliegen mehrerer möglicher Ursachen ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der vorgebrachten Gesundheitsbeeinträchtigung nicht schon dann auszuschließen, wenn eine weitere Ursache für die Gesundheitsbeeinträchtigung in Betracht kommt, solange das Verbrechen als mitwirkende Ursache nicht erheblich in den Hintergrund tritt (vgl. ).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2019/11/0147 E RS 1

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick, die Hofrätinnen Dr. Pollak, Mag. Hainz-Sator und MMag. Ginthör sowie den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des R A in L, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W200 2131824-1/49E, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht in Bestätigung des Bescheides der belangten Behörde vom Anträge des Revisionswerbers auf Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von 1. Ersatz von Verdienstentgang, 2. Ersatz der Selbstbehalte im Rahmen der Heilfürsorge, 3. Zahnersatz und Brille im Wege der orthopädischen Versorgung und 4. Pauschalentschädigung für Schmerzengeld gemäß (u.a.) § 1 Abs. 1 iVm. §§ 3 bis 5, 6a und 10 VOG ab.

2 Die dagegen vom Revisionswerber erhobene außerordentliche Revision wies der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ra 2020/11/0177, hinsichtlich des Abspruchs betreffend eine Pauschalentschädigung für Schmerzengeld als unbegründet ab. Im Übrigen hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf. Zur näheren Vorgeschichte wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf das genannte hg. Erkenntnis verwiesen. In diesem Erkenntnis führte der Verwaltungsgerichtshof auszugweise aus:

„... Jedenfalls der vom Revisionswerber begehrte Ersatz von Verdienstentgang stellt ein ,civil right‘ dar, sodass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung schon unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 EMRK iVm § 24 Abs. 4 VwGVG geboten war (vgl. , mit Bezugnahme u.a. auf die Rechtsprechung des EGMR, daran anknüpfend aus vielen ).

Abgesehen davon kann keine Rede davon sein, dass gegenständlich die Tatbestandsvoraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG, nach der eine mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, erfüllt ist.

Wenn das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis (S. 52) nämlich meint, es habe seiner Entscheidung ohnedies die vom Revisionswerber behaupteten Misshandlungen zugrunde gelegt, so stellt es sich damit in Widerspruch zu seinen eigenen Feststellungen (S. 40), wonach ein wesentlicher Teil der behaupteten Misshandlungen (in der sozialen Wohngruppe, durch den ehemaligen Schuldirektor und durch den ehemaligen Pfarrer) vom Verwaltungsgericht nicht habe festgestellt werden können.

Auch der Umstand, dass das Verwaltungsgericht ein ergänzendes Gutachten eingeholt hat, zeigt, dass nicht von einem geklärten Sachverhalt gesprochen werden kann.

Das Verwaltungsgericht hat gegenständlich somit die sich aus der ständigen hg. Rechtsprechung ergebende Verhandlungspflicht, die in Angelegenheiten des VOG grundsätzlich besteht (vgl. neben dem zitierten Erkenntnis , etwa auch , , und das bereits erwähnte Erkenntnis ) unter mehreren Gesichtspunkten verkannt.

Das angefochtene Erkenntnis war daher (abgesehen von der bereits erwähnten Entscheidung betreffend eine Pauschalentschädigung für Schmerzensgeld) wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.“

3 Im fortgesetzten Verfahren führte das Verwaltungsgericht unter Beiziehung der Sachverständigen Dr. G eine mündliche Verhandlung durch.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht in Bestätigung des Bescheides der belangten Behörde vom die Anträge des Revisionswerbers auf Hilfeleistung nach dem VOG in Form von 1. Ersatz von Verdienstentgang, 2. Ersatz der Selbstbehalte im Rahmen der Heilfürsorge sowie 3. Zahnersatz und Brille im Wege der orthopädischen Versorgung gemäß (u.a.) § 1 Abs. 1 iVm. §§ 3 bis 5, 6a und 10 VOG erneut ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

5 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der im Jahr 1967 geborene Revisionswerber habe seine Anträge (zusammengefasst) darauf gestützt, dass er in den Jahren 1979 bis 1983 in einem näher bezeichneten Heim untergebracht und u.a. dort Opfer psychischer, physischer und sexueller Gewalt geworden sei.

6 Nach ausführlicher Wiedergabe des Verfahrensgeschehens stellte das Verwaltungsgericht als entscheidungswesentlichen Sachverhalt fest, die Ausbildung des im Jahr 1967 geborenen Revisionswerbers erschöpfe sich in der Absolvierung des (seinerzeitigen) B-Zuges der Hauptschule. Einmal habe er die 1. Klasse Hauptschule im A-Zug besucht. Diese Klasse habe er sodann im B-Zug wiederholt. Anschließend habe er die Hauptschule im B-Zug besucht. Über Antrag seiner alleinerziehenden Mutter, die mit seiner Erziehung überfordert gewesen sei, sei der Revisionswerber von Juli 1979 bis 1983 in besagtem Kinderheim untergebracht gewesen. Danach habe er bei seiner Mutter gelebt. In dem Kinderheim sei er Opfer psychischer, physischer und sexueller Gewalt der dortigen Erzieher gewesen (u.a. durch Schlagen, Einsperren in einer Truhe oder im Schrank, stundenlanges Stehen im nassen Pyjama auf dem kalten Flur, Hungern, usw.). Er sei mehrmals in einem Zeitraum von einigen Monaten durch eine Erzieherin sexuell missbraucht worden. Diese habe ihm befohlen, sich vor ihr sexuell zu befriedigen.

7 Hingegen könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber mit Wahrscheinlichkeit vom ehemaligen Schuldirektor geschlagen worden sowie dass psychische, physische und sexuelle Übergriffe durch den ehemaligen Pfarrer in X stattgefunden hätten.

8 Im Zeitraum von 1983 bis 1985 sei der Revisionswerber Lehrling bei fünf verschiedenen Arbeitgebern gewesen, danach habe er zahlreiche Beschäftigungen ausgeübt, die jeweils kaum länger als einige Monate, oft auch nur einige Tage gedauert hätten. Seit dem Jahr 2001 beziehe er eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit.

9 Der Revisionswerber, der von 2001 bis 2005 in nervenfachärztlicher Behandlung gewesen sei, leide aktuell unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, dissozialen und paranoiden Anteilen.

10 Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts könne nicht mit der nach dem VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die gegenständliche Gesundheitsschädigung durch die in dem besagten Kinderheim gesetzte psychische, physische und sexuelle Gewalt verursacht worden sei.

11 Weiters könne kein verbrechenskausaler Verdienstentgang festgestellt werden und ebenso wenig, dass die Notwendigkeit einer Gleitsichtbrille und die Notwendigkeit von Zahnimplantaten auf die festgestellten Misshandlungen im Heim zurückzuführen seien.

12 Beweiswürdigend hielt das Verwaltungsgericht fest, die Ausführungen des Revisionswerbers über die erlittenen psychischen, physischen und sexuellen Übergriffe und Misshandlungen im Kinderheim würden dem angefochtenen Erkenntnis zu Grunde gelegt, zumal derartige Anschuldigungen auch von anderen Zöglingen vorgebracht worden seien. Die Übernahme der in der Beschwerdeergänzung begehrten Feststellungen könne unterbleiben, da die unverzeihlichen Übergriffe jeglicher Art im Kinderheim dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegt würden. Eine seitenlange Wiedergabe der einzelnen Ereignisse vermöge die Entscheidung in keiner Weise zu ändern. Hinsichtlich der Ursache für eine Varikozelenoperation, für die behauptete Kopfverletzung sowie den Bruch von Elle und Speiche sei auszuführen, dass der Revisionswerber dazu keine Unterlagen vorgelegt habe. Körperliche Misshandlungen würden jedoch dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegt. Dass der Revisionswerber sexuell belästigt worden sei, sei ebenfalls festgestellt worden. Auf welche Art und Weise - ob durch von Erzieherinnen angeordnete Selbstbefriedigung oder durch von diesen vorgenommene Handlungen - könne nicht mehr festgestellt werden. Im Hinblick auf die Feststellungen, dass sexuelle Misshandlungen stattgefunden hätten, sei für die verwaltungsgerichtliche Entscheidung die genaue Schilderung der Vorfälle nicht relevant.

13 Wie auch die belangte Behörde beweiswürdigend nachvollziehbar ausgeführt habe, könnten die behaupteten regelmäßigen sexuellen Belästigungen im Zuge der Ministrantentätigkeit des Revisionswerbers durch den ehemaligen Pfarrer in X in den Jahren 1978 und 1979 nicht festgestellt werden. Einerseits lägen diesbezüglich nur die Aussagen des Revisionswerbers vor. Andererseits sei dem Revisionswerber der Name des Täters nicht mehr in Erinnerung und der angebliche Zeuge der Übergriffe, der deswegen den Angaben des Revisionswerbers zufolge sogar mit dem Täter eine körperliche Auseinandersetzung ausgetragen habe, habe - so die Aussage des Revisionswerbers - Selbstmord begangen. Der Revisionswerber sei im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht dazu befragt worden, habe aber als Person einen unglaubwürdigen Eindruck erweckt. Es sei nicht nachvollziehbar, wieso der Revisionswerber trotz Bemühungen nicht in der Lage gewesen sei, den Namen des Priesters, der ihn angeblich missbraucht habe, nachträglich herauszufinden. Wenn der Revisionswerber dazu ausführe, dass ihm die Pfarre dabei nicht geholfen habe, so sei dem entgegenzuhalten, dass es für ihn durch das Führen von Gesprächen mit Personen, die in dem von ihm angegebenen Zeitraum die Kirche regelmäßig besucht hätten, ein Leichtes gewesen wäre, den Namen dieses Priesters herauszufinden, zumal ihm dies ja auch bei den Namen sämtlicher anderer Priester bzw. Mesner gelungen sei. Weiters spreche gegen diese Übergriffe, dass der Revisionswerber bei keinem Anamnesegespräch im Rahmen der von der Pensionsversicherungsanstalt geführten Verfahren diesen Missbrauch vorgebracht habe, sehr wohl jedoch die (unstrittigen) Vorkommnisse im Kinderheim. Wie auch die belangte Behörde schlüssig argumentiert habe, sei das Vorbringen betreffend den sexuellen Missbrauch durch den Priester nicht mit dem Vorbringen in einer zivilrechtlichen Klage in Einklang zu bringen, in der ausgeführt worden sei, der Revisionswerber habe bis zum sexuellen Missbrauch durch die Erzieherinnen im Kinderheim keinerlei „sexuelle Erfahrungen“ gemacht. Auch die Behauptung, vom Hauptschuldirektor wegen der Schilderung der sexuellen Übergriffe geschlagen und der Schule verwiesen worden zu sein, gehe aus diesem Grund ins Leere.

14 Im Übrigen verwies das Verwaltungsgericht auf ein von der belangten Behörde und ein weiteres vom Verwaltungsgericht eingeholtes und in der Folge ergänztes psychiatrisches Gutachten. In beiden Gutachten seien die Sachverständigen zum Ergebnis gelangt, dass der Revisionswerber zwar an der genannten Persönlichkeitsstörung leide. Diese könne jedoch nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Misshandlungen im Kinderheim zurückgeführt werden.

15 Das Verwaltungsgericht legte weiters dar, weshalb es die gutachterliche Einschätzung Dris. G (fehlende Kausalität der Misshandlungen im Kinderheim für die Gesundheitsschädigung) als schlüssig erachtete. Diese habe festgehalten, dass - den im Akt aufliegenden Unterlagen folgend - die vor der Heimunterbringung bestehenden erzieherischen Probleme und Verhaltensauffälligkeiten des Revisionswerbers für dessen Einweisung in das Kinderheim verantwortlich zeichneten. Da diese keinen vorübergehenden reaktiven Charakter gehabt, sondern vielmehr fortbestanden hätten, sei bei merkbaren Verhaltensauffälligkeiten und Schulproblemen von Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Auch wenn man beim Revisionswerber eine erhöhte Empfindlichkeit und Verletzlichkeit als einen für die Entstehung der Persönlichkeitsstörung mitverursachenden Faktor annehme, so ließen sich die möglichen pathogenen Einflüsse nicht gänzlich benennen, nicht voneinander trennen und keiner Hierarchisierung unterziehen. Im Rahmen der Anamneseerhebung durch die Gutachterin habe der Revisionswerber den Tod seiner geliebten Großmutter als einschneidendes Erlebnis für sein unangepasstes Verhalten geschildert. Ob das Fehlen einer adäquaten emotionalen Entwicklung und Bindungsfähigkeit bei mangelhafter Kontinuität der Lebensbedingungen eine gravierende Auswirkung auf seine Charakterbildung gehabt habe, könne nach Auffassung der Gutachterin nicht mit Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. „Dabei“ sei auch einerseits die Problematik des Elternhauses und andererseits die Unterbringung im Heim gemeint. Auch die fehlende Vaterfigur könne als negativer Einfluss auf die Charakterbildung gesehen werden. Aus gutachterlicher Sicht sei es nicht möglich zu sagen, in welcher Gewichtung sich diese angeführten Probleme auf die Charakterbildung des Revisionswerbers ausgewirkt hätten. Die Sachverständige habe aus den Angaben des Revisionswerbers während der gutachterlichen Untersuchung zitiert: „Ich bin sehr an der Oma gehangen, bin nach ihrem Ableben als frech dargestellt worden, dabei habe ich nur getrauert.“ Dies sei ein Beispiel dafür, dass der Revisionswerber im Alter von zwölf Jahren bzw. vor seiner Heimunterbringung durch seine negativen Emotionen sehr beeinflusst worden sei. Im Gutachten Dris. G seien auf Seite 5 Verhaltungsauffälligkeiten des Revisionswerbers mit deutlich gestörtem Sozialverhalten (vor der Heimaufnahme) dokumentiert worden. Die betreffenden Passagen in dem im Akt wiedergegebenen Gutachten lauten:

„[Der Revisionswerber] wurde im Alter von knapp 12 Jahren über den Antrag seiner alleinerziehenden Mutter und über die Erziehungsberatung im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe im Kinderheim X untergebracht. Dem Pflegschaftsakt kann entnommen werden, dass der [Revisionswerber] in der Volksschule gut gelernt hatte. Die ersten Klagen der Mutter über das schulische Fortkommen des Mdj. scheinen im August 1979 auf. Zudem bereitete er der Mutter erzieherische Schwierigkeiten und ließ sich von ihr überhaupt nichts mehr sagen. Diese hat angegeben, mit der Erziehung ihres Sohnes nicht mehr fertig zu werden. Der [Revisionswerber] musste in der HS Klassen wiederholen und sein Betragen sei negativ aufgefallen. Er sei frech und provozierend zu den Lehrern und Mitschülern, vor allen den Kleineren, gewesen.“

Die im Gutachten Dris. G auf Seite 5 bezeichneten Verhaltensweisen (vor der Heimaufnahme) erlaubten die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und narzisstischen Merkmalen bereits zum Zeitpunkt der Heimunterbringung. Die Ansatzpunkte für die Diagnose paranoider Anteile der Persönlichkeitsstörung fänden sich erst in der späteren Biographie des Revisionswerbers und könnten als Projektionsmechanismen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gesehen werden.

16 Bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung werde von einem erhöhten Selbstwertgefühl gesprochen. Der Mensch stehe im Mittelpunkt seiner Umwelt, sei sehr gegen Kränkungen anfällig, und wenn ihm jemand nicht recht gebe, fühle er sich besonders gekränkt, empfinde es als Unrecht, fühle sich ausgegrenzt und projiziere seine negativen Gefühle in seine Umwelt, so seien die anderen Schuld und nicht er. In einer Situation, in der er mit seinen eigenen Fehlern konfrontiert werde, die jeder Mensch begehe, fühle er sich gekränkt und empfinde die kritisierende Person als seinen Feind. Man könne nicht genau sagen, wann Persönlichkeitsstörungen begonnen hätten. Den Anfang bildeten Verhaltensauffälligkeiten oftmals im Kleinkindalter, welche sich nicht veränderten und im Sinne manifester Charakterzüge weiterbestünden. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung werde daher erst ab dem zehnten bzw. zwölften Lebensjahr gestellt, zuvor spreche man von Verhaltensauffälligkeiten.

17 Zusammenfassend ergebe sich für das Verwaltungsgericht, dass - selbst unter Zugrundelegung von psychologischen und kognitionstheoretischen Hypothesen - nicht von einer Wahrscheinlichkeit der Kausalität der Misshandlungen im Heim für die beim Revisionswerber vorliegende Persönlichkeitsstörung auszugehen sei. Auch eine vorzeitige Auslösung der Persönlichkeitsstörung oder eine Verschlimmerung einer bestehenden Persönlichkeitsstörung sei von der Gutachterin nachvollziehbar deshalb verneint worden, weil die Persönlichkeit des Menschen in der Pubertät abgeschlossen und eine verzögerte Persönlichkeitsentwicklung beim Revisionswerber nicht festzustellen gewesen sei bzw. eine Verschlimmerung nicht habe nachgewiesen werden können. Die Gutachterin habe in ihrem Gutachten ausgeführt, es sei anzunehmen, dass der Revisionswerber auch ohne die erfolgten Misshandlungen im Heim an einer Persönlichkeitsstörung leiden würde.

18 Der Vollständigkeit halber sei darauf hinzuweisen, dass auch der von der belangten Behörde bestellte Facharzt für Psychiatrie Dr. P in seinem Gutachten beschrieben habe, dass ein Einfluss des Verbrechens auf die festgestellte Gesundheitsschädigung möglich, aber nicht wahrscheinlich sei. Bei der Heimaufnahme mit zwölf Jahren seien der Grund für die Aufnahme bereits vom Revisionswerber im Zuge der Klage gegen das Land Oberösterreich zugegebene Verhaltensauffälligkeiten gewesen. Es könne - so das Gutachten Dris. P - davon ausgegangen werden, dass sich die festgestellte Persönlichkeitsstörung in diesem Lebensalter bereits manifestiert habe. Belegt werde dies durch folgende Zitate aus diversen Aktenbestandteilen:

„Der Kläger hatte auch während er mit der Mutter und deren Lebensgefährten im Familienverband lebte, teilweise schulische Probleme und ist auch richtig, dass er im Jahre 1975 wegen kleinerer Gelddiebstähle der Erziehungsberatung vorgestellt wurde. ... Die Mutter kam sohin mit dem Jugendamt überein, den Kläger in das Kinderheim X aufzunehmen, dies, nachdem der Kläger einen Schulverweis erhalten hatte. ... Der Kläger war schlicht und ergreifend ein schwer erziehbares Kind und war die Mutter, die in einem sehr engen Verhältnis mit ihrer Mutter stand, mit der Erziehung von fünf kleinen Kindern überfordert. ... Ich werde mit der Erziehung des Mj nicht mehr fertig. Er hat heuer in der Schule total versagt. ... Mj. hat heuer in der Schule vollkommen versagt. Da er auch zu Hause schwierig ist, hat die Mutter eine Heimunterbringung beantragt. ... Die Lebensbedürfnisse des Mj. können mit dem bisherigen Unterhalt nicht mehr gedeckt werden. Der Mj. befindet sich seit  wegen Erziehungsschwierigkeiten im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe im Kinderheim X.“

19 Dr. P sei ebenfalls davon ausgegangen, dass die festgestellte Gesundheitsschädigung auch ohne die „angeschuldigten Ereignisse“ entstanden wäre. Eine Verschlimmerung der kombinierten Persönlichkeitsstörung durch den Heimaufenthalt sei für möglich, jedoch nicht für wahrscheinlich erachtet worden. Der Facharzt habe festgehalten, dass eine kombinierte Persönlichkeitsstörung höchstwahrscheinlich schon vor Heimaufnahme angelegt gewesen sei und letztendlich zur Heimaufnahme geführt und den weiteren Lebenslauf des Revisionswerbers maßgeblich geprägt habe. Aus fachärztlich-psychiatrischer Sicht könne ausgeschlossen werden, dass die beschriebene Persönlichkeitsstörung einzig als Folge der Erlebnisse der Heimzeit zu werten seien. Frühkindliche Erfahrungen, problematische familiäre Verhältnisse, unter anderem fehlende oder inkonstante männliche Bezugspersonen und Überforderung der Mutter mit kompensatorischer Nachgiebigkeit und Verwöhnung, hätten an der negativen Persönlichkeitsentwicklung des Revisionswerbers maßgeblichen Anteil.

20 In einer Gesamtbetrachtung bestünden für das Verwaltungsgericht keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit des vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachtens Dris. G. Dieses werde daher in freier Beweiswürdigung dem angefochtenen Erkenntnis zu Grunde gelegt.

21 Ausgehend von der fehlenden Kausalität der in Rede stehenden Misshandlungen im Kinderheim für die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers seien dessen auf § 1 Abs. 1 VOG gestützte Anträge abzuweisen gewesen.

22 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in ihrer Zulässigkeitsbegründung geltend macht, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts sei unschlüssig, und zwar insbesondere insoweit, als durch das Verwaltungsgericht nicht festgestellt worden sei, dass der Revisionswerber Opfer von psychischen, physischen und sexuellen Übergriffen durch einen ehemaligen Pfarrer in X gewesen sei. Zudem wendet sich die Zulässigkeitsbegründung gegen die im angefochtenen Erkenntnis erfolgte Beurteilung der Auswirkungen der (vom Verwaltungsgericht festgestellten) Misshandlungen des Revisionswerbers.

23 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

24 Die Revision erweist sich zur Klarstellung der Rechtslage als zulässig; sie ist auch begründet.

25 Das Verbrechensopfergesetz (VOG), BGBl. Nr. 288/1972 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 135/2020, lautet auszugsweise:

„Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

...

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist.

...

Hilfeleistungen

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

1. Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges;

2 Heilfürsorge

a) ärztliche Hilfe,

b) Heilmittel,

c) Heilbehelfe,

...

4. medizinische Rehabilitation

...

b) ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe, wenn diese Leistungen unmittelbar im Anschluß oder im Zusammenhang mit der unter lit. a angeführten Maßnahme erforderlich sind,

...“

26 Der Revisionswerber begehrte im Hinblick auf eine psychische Gesundheitsschädigung die Gewährung von Hilfeleistungen nach dem VOG.

I. Zur bei der Prüfung von Ansprüchen gemäß § 1 Abs. 1 VOG gebotenen Vorgangsweise im Allgemeinen:

I.1. Zu den vom Verwaltungsgericht zur Gesundheitsschädigung sowie zu den Tathandlungen konkret zu treffenden Feststellungen:

27 Zwecks Prüfung von auf § 1 Abs. 1 VOG gestützten Ansprüchen hat das Verwaltungsgericht erstens konkrete Feststellungen zu der ins Treffen geführten Gesundheitsschädigung und zweitens einwandfreie und umfassende Feststellungen zu den potentiell für die Gesundheitsschädigung kausalen Tathandlungen zu treffen, und zwar insbesondere hinsichtlich Beginn, Dauer, Häufigkeit und Art der behaupteten Handlungen (vgl. z.B. , mwN).

28 Darüber hinaus sind für den Fall, dass bereits vor Setzen der betreffenden Tathandlungen eine bestimmte Grunderkrankung bestanden haben sollte, konkrete Feststellungen zu dieser Grunderkrankung zu treffen, und es ist diesbezüglich darzulegen, welche konkreten Umstände oder Vorfälle einen unbedenklichen Rückschluss auf eine solche schon zuvor bestehende Erkrankung zulassen (vgl. ; , Ro 2014/11/0044).

29 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es von vornherein nicht die Aufgabe von Gutachtern ist, hinsichtlich der Tathandlungen eine Beweiswürdigung vorzunehmen oder bestimmte Tathandlungen festzustellen; vielmehr sind die konkreten Tathandlungen von der Behörde bzw. vom Verwaltungsgericht den Gutachtern als Ausgangsprämisse für die Gutachtenserstellung vorzugeben ().

30 Gegebenenfalls kann diese (die Tathandlungen betreffende) Vorgabe an einen Gutachter erst nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie nach Würdigung der diesbezüglichen Ermittlungsergebnisse erfolgen, sodass nicht nur in vielen Fällen eine gutachterliche Beurteilung der Kausalität erst nach einer mündlichen Verhandlung ergehen, sondern zwecks Erörterung von schriftlichen Gutachten zu dieser Frage auch die Durchführung eines weiteren Verhandlungstermins geboten sein kann.

I.2. Zur Qualifikation der konkreten Tathandlungen im Hinblick auf § 1 Abs. 1 VOG:

31 Auf Basis konkreter Feststellungen zu den Tathandlungen ist das Verwaltungsgericht sodann gehalten, in Anbetracht der jeweiligen strafgesetzlichen Bestimmungen rechtlich zu beurteilen, ob eine (oder allenfalls auch mehrere) Handlung(en) im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG, d.h. eine mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung, vorlag(en).

I.3. Zur Kausalitätsprüfung:

32 Anschließend ist - wiederum aufbauend auf die konkreten Feststellungen zur Gesundheitsschädigung (sowie zu einer allfälligen Grunderkrankung) und zu den jeweiligen Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG - die rechtliche Beurteilung vorzunehmen, ob ein Kausalzusammenhang mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit zwischen der Gesundheitsschädigung und den Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG besteht, und zwar auf der Basis von Feststellungen, denen ein ärztliches Sachverständigengutachten zugrunde zu legen ist (, mwN).

33 „Wahrscheinlichkeit“ dafür, dass die festgestellte Gesundheitsschädigung auf das schädigende Ereignis ursächlich zurückzuführen ist, ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung erheblich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht ().

34 Weiters ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zum VOG betreffend die Annahme der (anspruchserzeugenden) Kausalität einer Ursache bei Vorliegen mehrerer möglicher Ursachen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der vorgebrachten Gesundheitsbeeinträchtigung nicht schon dann auszuschließen, wenn eine weitere Ursache für die Gesundheitsbeeinträchtigung in Betracht kommt, solange das Verbrechen als mitwirkende Ursache nicht erheblich in den Hintergrund tritt (vgl. , mwN). Nur jene Bedingung, ohne deren Mitwirkung der Erfolg überhaupt nicht oder nur zu einem erheblich anderen Zeitpunkt oder nur in geringerem Umfang eingetreten wäre, ist eine wesentliche Bedingung (siehe etwa ; , Ro 2014/12/0019, mwN; vgl. auch [Slg.Nr. 19109 A]; , Ra 2017/11/0281).

II. Daraus ergibt sich für den Revisionsfall Folgendes:

II.1. Zum behaupteten sexuellen Missbrauch durch einen Pfarrer:

II.1.1. Zur fallbezogenen Relevanz dieses Vorbringens:

35 Das Bundesverwaltungsgericht begründete die Abweisung der Anträge des Revisionswerbers auf die Gewährung von Hilfeleistungen nach dem VOG im Wesentlichen dahin, es könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG für die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers kausal gewesen seien. Dieser Beurteilung legte es u.a. zugrunde, dass der vom Revisionswerber behauptete sexuelle Missbrauch durch einen Pfarrer nicht als erwiesen zu erachten sei.

36 Träfe es hingegen zu, dass der Revisionswerber bereits vor seiner Unterbringung in dem gegenständlichen Kinderheim Opfer einer Handlung im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG gewesen wäre, erwiesen sich die Ausführungen der Sachverständigen Dris. G und Dris. P und die darauf basierenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts, dass die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers nicht durch Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG verursacht worden sei, schon infolge der bei dieser Einschätzung nicht berücksichtigten, der Heimunterbringung vorangegangenen Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG als nicht schlüssig.

II.1.2. Zur Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses betreffend den behaupteten Missbrauch durch einen Pfarrer:

37 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (siehe etwa ). Dies ist gegenständlich im Zusammenhang mit der den behaupteten Missbrauch durch einen Pfarrer betreffenden Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts der Fall.

38 Die beweiswürdigenden Überlegungen des Bundesverwaltungsgerichts, denen zufolge gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben des Revisionswerbers spreche, dass der Revisionswerber in einem Schriftsatz in einem anderen gerichtlichen Verfahren vorgebracht habe, bis zu dem von ihm erlittenen sexuellen Missbrauch im Kinderheim keinerlei sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben, sind nicht schlüssig. Der in Rede stehende behauptete sexuelle Missbrauch durch einen Pfarrer, den der Revisionswerber - nach seinen Angaben - erlitten hat (u.a. anale Penetration mit einem Stock), ist nicht mit einer selbstbestimmten sexuellen Erfahrung gleichzusetzen, auf die sich die Ausführungen in dem erwähnten Schriftsatz bei verständiger Lesart bezogen.

39 Mit dem Vorbringen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung, dass er sich erfolglos u.a. an die betreffende Pfarre gewandt habe, um den Namen des Täters zu erfahren, hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehbar auseinandergesetzt. Im Übrigen wäre es am Verwaltungsgericht gelegen, bevor es das Vorbringen des Revisionswerbers, er könne sich an den Namen des Täters nicht erinnern, als Grund für seine mangelnde Glaubwürdigkeit ins Treffen führt, fachspezifisch-medizinische Informationen dazu einzuholen, ob (behaupteter Maßen) Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung häufig Schwierigkeiten haben, sich an die Gesichter und Namen von Tätern zu erinnern. Der Umstand, dass allenfalls keine Zeugen im Zusammenhang mit der behaupteten Straftat ermittelt werden können, spräche zudem nicht von vornherein gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Revisionswerbers.

40 Die verwaltungsgerichtlichen Überlegungen betreffend das Fehlen von Angaben des Revisionswerbers zu dem behaupteten sexuellen Missbrauch durch einen Pfarrer in einem Verfahren vor der Pensionsversicherungsanstalt sind insoweit nicht schlüssig, als es an einer Auseinandersetzung mit der Aussage des Revisionswerbers fehlt, dass der behauptete sexuelle Missbrauch durch einen Pfarrer für ihn während des gesamten Erwachsenenlebens tabu gewesen sei und er dieses Thema nie „an die große Glocke gehängt“ habe, weil er sich dafür geschämt habe (siehe Verhandlungsprotokoll S 4 und 7).

41 Infolgedessen erweist sich die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich eines entscheidungswesentlichen Aspekts, nämlich hinsichtlich einer behaupteter Maßen bereits vor Heimunterbringung erfolgten Handlung im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG, und damit (schon aus diesem Grund) auch die weitere Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts, das vom Vorliegen einer „akausalen“ Gesundheitsschädigung ausging, als nicht schlüssig (siehe auch Pkt. II.1.1.).

II.2. Zu den Vorfällen im Kinderheim:

II.2.1. Zu den diesbezüglich erforderlichen Feststellungen:

42 Die unter Pkt. I.1. dargelegten Anforderungen an die Feststellungen zu den konkreten Tathandlungen sowie zu einer allenfalls bereits vor Heimunterbringung bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigung des Revisionswerbers erfüllt das angefochtene Erkenntnis nicht.

43 Konkrete Feststellungen zu Beginn, Dauer, Häufigkeit und Art der dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegten physischen, psychischen und sexuellen Misshandlungen im Kinderheim sowie zu der vom Verwaltungsgericht angenommenen, bereits vor Heimunterbringung des Revisionswerbers bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigung wurden nicht getroffen.

44 Somit fehlt es der verwaltungsgerichtlichen Kausalitätsbeurteilung auch aus diesem Grund an einer tragfähigen Grundlage. Im Übrigen lässt das angefochtene Erkenntnis eine rechtliche Qualifikation der betreffenden Tathandlungen im Hinblick auf § 1 Abs. 1 VOG vermissen (vgl. Pkt. II.1.2.).

II.2.2. Zur Schlüssigkeit der dem Verwaltungsgericht vorliegenden Gutachten:

45 Das Verwaltungsgericht trifft die Verpflichtung, im Rahmen der Begründung seiner Entscheidung ein Gutachten eines Sachverständigen auf seine Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit hin zu prüfen, weshalb es gehalten ist, sich im Rahmen der Begründung seiner Entscheidung mit dem Gutachten auseinander zu setzen und dieses entsprechend zu würdigen (vgl. etwa , mwN).

46 Dieser Verpflichtung ist das Bundesverwaltungsgericht insofern nicht gerecht geworden, als die vorliegenden Gutachten entgegen den diesbezüglichen beweiswürdigenden Erwägungen im angefochtenen Erkenntnis nicht als schlüssig zu betrachten sind (zur Verpflichtung, bei Vorliegen eines unschlüssigen Gutachtens zur Schaffung einer einwandfreien Entscheidungsgrundlage eine Ergänzung bzw. ein Gutachten eines anderen Sachverständigen einzuholen, vgl. ; , Ra 2017/08/0129).

47 In den Gutachten Dris. G wurde das Vorliegen mehrerer Ursachen für die gegenständliche Gesundheitsschädigung angenommen und die Persönlichkeitsstörung des Revisionswerbers als multikausal bedingt eingestuft (Gutachten Dris. G, S 18 f; Ergänzungsgutachten Dris. G, S 6; vgl. auch das Gutachten Dris. P, S 5).

48 Von der Sachverständigen Dr. G wurden neben einer genetischen Veranlagung die „Problematik des Elternhauses“, die fehlende Vaterfigur, der Tod der Großmutter sowie die Unterbringung im Kinderheim an sich als die psychische Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers mitverursachende Aspekte gewichtet. Eine vorzeitige Auslösung der Persönlichkeitsstörung oder eine Verschlimmerung derselben durch die Misshandlungen im Kinderheim wurde von der Sachverständigen u.a. deshalb ausgeschlossen, weil die Charakterzüge eines Menschen (Persönlichkeit) in der Pubertät bzw. bis zur Pubertät abgeschlossen seien. Fachmedizinisch-wissenschaftliche Belege für die Beurteilung, dass im Hinblick auf das damalige Lebensalter des elfjährigen Revisionswerbers allfällige Handlungen im Sinn von § 1 Abs. 1 VOG ohnehin keine Auswirkungen auf dessen psychische Gesundheit mehr hätten hervorrufen können, lässt das Gutachten vermissen.

49 Überdies besteht eine weitere wesentliche Ungereimtheit: Der Umstand, dass die Heimunterbringung die psychische Entwicklung des Revisionswerbers negativ beeinflusst haben könnte, wurde von der Sachverständigen als relevanter Faktor gewichtet. Weshalb dann nicht auch den der Heimaufnahme zeitlich unmittelbar nachfolgenden Misshandlungen im Hinblick auf das damalige Lebensalter des Revisionswerbers wesentlicher Einfluss auf dessen Persönlichkeitsentwicklung hätte zukommen können, wird nicht nachvollziehbar (unter Angabe einschlägigen Fachwissens) dargelegt.

50 Falls die Sachverständige(n) der Auffassung gewesen sein sollte(n), die Persönlichkeitsstörung des Revisionswerbers sei so beschaffen, dass ihr Ausbruch von traumatischen Erlebnissen nicht überwiegend abhängig sein könne und deswegen überwiegend auf genetisch bedingte Faktoren zurückzuführen sei, so fehlt es diesbezüglich ebenfalls an einer ausreichenden Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. an entsprechenden wissenschaftlich belegten Ausführungen zu den anlagebedingten Faktoren und sonstigen Umständen, die allenfalls einen derartigen Rückschluss zuließen (vgl. abermals ).

51 Folglich erweisen sich die gutachterlichen Ausführungen, soweit sie die Kausalität von der Heimunterbringung zeitlich nachfolgenden Handlungen im Hinblick auf das damalige Lebensalter des Revisionswerbers sowie auf eine allfällige genetische Veranlagung grundsätzlich verneinen, mangels ausreichender medizinisch-wissenschaftlicher Belege als nicht schlüssig.

52 Hinsichtlich einer allenfalls bereits vor Heimunterbringung bestehenden psychischen Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers fehlt es zudem an den erforderlichen verwaltungsgerichtlichen Feststellungen (siehe dazu schon oben).

III. Ergebnis:

53 Aus den dargelegten Gründen belastete das Verwaltungsgericht, indem es in Verkennung der Rechtslage die im Revisionsfall erforderlichen Feststellungen unterließ (vgl. Pkt. I.1. und II.2.1.), das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

54 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG entfallen.

55 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 (siehe auch § 11 Abs. 2 VOG).

Wien, am 

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen
AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §52
KOVG 1957 §18 Abs2
VOG 1972 §1
VOG 1972 §1 Abs1
VOG 1972 §2 Z7
VwGVG 2014 §24
Schlagworte
Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Ermessen Sachverständiger Aufgaben Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021110171.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
YAAAF-45588