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VwGH 08.01.2024, Ra 2021/08/0070

VwGH 08.01.2024, Ra 2021/08/0070

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


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Normen
AVG §45 Abs3
AVG §46
VwGVG 2014 §38
VwGVG 2014 §46 Abs1
VwRallg
RS 1
Wenn der Aufnahme eines unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegensteht, darf sich die Behörde/das VwG nicht mit einem mittelbaren Beweis zufrieden geben. Unmittelbarkeit im Hinblick auf die Aussage eines Zeugen bedeutet die Einvernahme vor der/m erkennenden Behörde/VwG (vgl. ).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2017/02/0223 E RS 1 (hier nur in Bezug auf das VwG)
Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
VwGVG 2014 §38
VwGVG 2014 §46 Abs1
RS 2
Auch in Verfahren vor den VwG gilt das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG (vgl. , sowie , VwSlg. 18.868 A). Nachdem damit maßgebenden Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit hat das VwG von Amts wegen unabhängig vom Parteivorbringen und von den Parteianträgen den wahren Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln.
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2018/03/0131 E RS 1

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Stickler und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des M P in F, vertreten durch Mag. Dr. Wolf Dietrich Mazakarini, Rechtsanwalt in 2340 Mödling, Enzersdorfer Straße 5/A/13, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom , LVwG-S-33/001-2021, betreffend Bestrafung nach dem ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Mödling), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Spruchpunkte 1., 3. und 4.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis vom sprach die Bezirkshauptmannschaft Mödling aus, der Revisionswerber habe als handelsrechtlicher Geschäftsführer und somit als zur Vertretung nach Außen berufenes Organ der E GmbH, die unbeschränkt haftende Gesellschafterin der U GmbH & Co KG gewesen sei, zu verantworten, dass die U GmbH & Co KG als Dienstgeberin drei Personen, nämlich DC, NP und MR, beschäftigt habe, ohne diese als in der Unfallversicherung pflichtversicherte Personen vor Arbeitsantritt bei der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse anzumelden. Die „Kontrollzeit“ sei der gewesen. Die Arbeit (jeweils als Fliesenleger) auf einer näher bezeichneten Baustelle in W habe DC bereits am , NP am und MR am angetreten. Alle drei Personen seien „bei einer falschen Firma [gemeint: bei der M GmbH] angemeldet“ gewesen. Der Revisionswerber habe dadurch jeweils die Rechtsvorschriften des § 111 Abs. 1 Z 1 iVm § 33 Abs. 1 ASVG verletzt. Wegen dieser drei Verwaltungsübertretungen verhängte die Bezirkshauptmannschaft Mödling über den Revisionswerber Geldstrafen in der Höhe von jeweils € 900,00 sowie Ersatzfreiheitsstrafen von jeweils 138 Stunden und verpflichtete den Revisionswerber jeweils zur Zahlung eines Beitrags zu den Kosten des Strafverfahrens.

2 Der Revisionswerber erhob dagegen Beschwerde, in der er vorbrachte, DC, NP und MR seien nicht in die Organisation der U GmbH & Co KG eingebunden gewesen. Vielmehr seien sie ordnungsgemäß als Dienstnehmer der M GmbH angemeldet gewesen. Die M GmbH habe als Subunternehmer der U GmbH & Co KG fungiert. Sie sei auch für andere Auftraggeber tätig gewesen, dabei organisatorisch völlig frei gewesen und habe auf eigenes unternehmerisches Risiko agiert. Der Revisionswerber beantragte die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde hinsichtlich der Bestrafung wegen der Beschäftigung des NP und des MR mit der Maßgabe einer vorliegend nicht relevanten Formulierungsänderung als unbegründet ab und verpflichtete den Revisionswerber zur Leistung eines Beitrages zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens in der Höhe von € 360,00 (Spruchpunkt 1.). Hinsichtlich der Bestrafung wegen der Beschäftigung des DC gab das Landesverwaltungsgericht der Beschwerde statt, hob diesen Spruchpunkt auf, stellte das Strafverfahren insofern ein und reduzierte den Beitrag des Revisionswerbers zu den Kosten des Verfahrens vor der Bezirkshauptmannschaft Mödling entsprechend (Spruchpunkt 2.). Es verpflichtete den Revisionswerber zur Tragung der Kosten des Beschwerdeverfahrens (Spruchpunkt 3.) und der Barauslagen einer beigezogenen nichtamtlichen Dolmetscherin (Spruchpunkt 4.). Die Revision erklärte das Landesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Zur Begründung führte das Landesverwaltungsgericht aus, DC, NP und MR seien entgegen dem Beschwerdevorbringen in die Organisation dieser Gesellschaft eingebunden gewesen, der Betrieb sei auf Rechnung dieser Gesellschaft geführt und alle Kosten (Löhne, Material) von ihr bezahlt worden. Die Arbeitnehmer hätten ihren Urlaub an den Revisionswerber gemeldet. Dieser habe auch die Urkunden für die sozialversicherungsrechtliche Anmeldung als Dienstnehmer der M GmbH entgegengenommen und weitergeleitet. Die Anmeldung sei nur der Form halber von IB, dem Geschäftsführer der M GmbH, veranlasst worden. Nach dem wahren wirtschaftlichen Gehalt habe es sich um Schein- und Umgehungsgeschäfte gehandelt. Die M GmbH habe keine eigenen Geschäftsräumlichkeiten und nicht einmal ein eigenes Firmenkonto gehabt. Auch die Arbeitsanweisungen seien vom Revisionswerber und nicht von IB erteilt worden. Die M GmbH und ihr Geschäftsführer IB seien nur für die Tätigkeit der U GmbH & Co KG „vorgeschoben“ worden. Bezeichnend dafür sei auch der Umstand, dass auf dem Sozialversicherungsbeitragskonto der M GmbH für den Zeitraum Juli 2017 bis März 2020 ein Rückstand von € 38.000,00 aufscheine. Dienstgeber des DC, des NP und des MR sei daher eindeutig die U GmbH & Co KG und nicht die M GmbH gewesen.

5 Allerdings sei die E GmbH nur bis Komplementär der U GmbH & Co KG gewesen. Der Revisionswerber sei somit - als handelsrechtlicher Geschäftsführer der E GmbH - nur bis zum verwaltungsstrafrechtlich für die Einhaltung der Bestimmungen des ASVG durch die U GmbH & Co KG verantwortlich gewesen. Er habe daher den objektiven Tatbestand der ihm zur Last gelegten Verwaltungsübertretungen nur in Bezug auf die Dienstnehmer NP und MR verwirklicht, da deren Arbeitsantritt bereits am bzw. am erfolgt sei. Hinsichtlich der Beschäftigung des DC sei das Strafverfahren hingegen einzustellen gewesen, da der Arbeitsantritt erst nach dem erfolgt sei.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die vorliegende, erkennbar nur gegen die Abweisung der Beschwerde des Revisionswerbers (Spruchpunkt 1.) und die darauf aufbauenden Aussprüche zu Kosten und Barauslagen (Spruchpunkte 3. und 4.) gerichtete außerordentliche Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

7 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision insbesondere vor, das Landesverwaltungsgericht habe zunächst unter anderem die Einvernahme des DC und des MR als Zeugen als verfahrensnotwendig erachtet und sie daher zur Verhandlung geladen. Im Zuge ihrer Einvernahme habe sich jedoch herausgestellt, dass sie nur sehr gebrochen Deutsch sprächen und ein Dolmetsch notwendig gewesen wäre, weshalb die weitere Einvernahme - in Verletzung des Unmittelbarkeitsprinzips - unterblieben sei. Durch eine (weitere) Einvernahme der Zeugen hätte bewiesen werden können, dass die M GmbH auch andere Auftragnehmer als die U GmbH & Co KG gehabt habe, dass der Revisionswerber die Löhne der Arbeiter nur deshalb direkt an diese gezahlt habe, da der Geschäftsführer der M GmbH ihn dazu angewiesen habe, dass die Zeugen den Revisionswerber überhaupt nicht gekannt hätten, dass sie in keiner Weise dienstrechtlich oder sonst organisatorisch in das Unternehmen der U GmbH & Co KG eingebunden gewesen seien, und nicht zuletzt, dass NP und MR jeweils erst zum Zeitpunkt der Kontrolle am auf der Baustelle bzw. für die M GmbH gearbeitet hätten, sohin zu einem Zeitpunkt, als die E GmbH bereits aus der U GmbH & Co KG als Komplementär ausgeschieden gewesen sei.

8 Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.

9 Gemäß § 46 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen die zur Entscheidung der Rechtssache erforderlichen Beweise aufzunehmen. Wenn der Aufnahme eines unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegensteht, darf es sich nicht mit einem mittelbaren Beweis zufriedengeben. Die Unmittelbarkeit in Hinblick auf die Aussage eines Zeugen verlangt damit dessen Einvernahme vor dem erkennenden Verwaltungsgericht (vgl. , mwN). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gilt auch in den Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG. Nach dem damit maßgebenden Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit hat das Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig vom Parteivorbringen und von den Parteianträgen den wahren Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln (vgl. etwa , mwN).

10 Im vorliegenden Fall war einerseits strittig, ob drei bei einer Kontrolle der Finanzpolizei am auf einer Baustelle angetroffene Personen als Dienstnehmer entweder für die M GmbH (als deren Dienstnehmer sie zur Sozialversicherung angemeldet worden waren) oder für die U GmbH & Co KG tätig waren. Im Falle einer Tätigkeit für die U GmbH & Co KG wäre für die verwaltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit des Revisionswerbers für ihre Nichtanmeldung als deren Dienstnehmer darüber hinaus von entscheidender Bedeutung, ob diese Tätigkeit jeweils bereits spätestens am begonnen hatte. Denn nach den unbestrittenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts war die E GmbH, deren handelsrechtlicher Geschäftsführer der Revisionswerber war, nur bis Komplementär der U GmbH & Co KG.

11 Dass das Verwaltungsgericht die Notwendigkeit der Einvernahme der auf der Baustelle angetroffenen Personen über die genaueren Umstände ihrer Tätigkeit offenbar selbst erkannt hat, geht daraus hervor, dass es DC und MR zur mündlichen Verhandlung als Zeugen geladen hat. Eine Ladung des NP unterblieb dem Verhandlungsprotokoll zufolge bloß deshalb, weil es keine Hinweise auf seinen Aufenthalt gegeben und er über keinen gemeldeten Wohnsitz im Inland verfügt habe. Dass vor diesem Hintergrund seine Aussage aus dem behördlichen Verfahren verlesen wurde, ist grundsätzlich durch § 46 Abs. 3 Z 1 VwGVG gerechtfertigt. Allerdings wurde NP anlässlich der Befragung, deren Protokoll verlesen wurde, nicht dazu befragt, wann genau die allfällige Tätigkeit der auf der Baustelle angetroffenen Personen für die U GmbH & Co KG begonnen hatte. Zu dieser Frage konnte das Landesverwaltungsgericht sich auch sonst auf keine (stichhaltigen) Beweismittel stützen. Somit musste die Einvernahme der übrigen auf der Baustelle angetroffenen Personen (des DC und des MR) in der Verhandlung weiterhin als erforderlich erscheinen.

12 Der Niederschrift zufolge erschienen DC und MR zur Verhandlung. DC habe nach „Wahrheitserinnerung“ und Belehrung über die Folgen einer falschen Zeugenaussage angegeben, dass er nur sehr schlecht Deutsch spreche und einen Dolmetsch für Serbisch brauche. Wie die Niederschrift festhält, wurde die Einvernahme des Zeugen nicht weiter durchgeführt, da ein Dolmetsch für die serbische Sprache nicht anwesend gewesen sei. Auch MR gab an, dass er für eine Befragung nicht hinreichend der deutschen Sprache mächtig sei und gleichfalls einen Dolmetsch für die serbische Sprache benötige. Somit unterblieb dem unbestrittenen Inhalt des Verhandlungsprotokolls zufolge die (weitere) Einvernahme der Zeugen DC und MR während der Verhandlung bloß deshalb, weil mangels entsprechender Veranlassung durch das Landesverwaltungsgericht kein geeigneter Dolmetsch zur Verfügung stand. Dieser Umstand stellt allerdings keine Rechtfertigung für die Unterlassung der (weiteren) Einvernahme dar. Das Landesverwaltungsgericht wäre fallbezogen vielmehr verpflichtet gewesen, DC und MR neuerlich zu einer Einvernahme zu laden und zur Verhandlung einen geeigneten Dolmetsch beizuziehen.

13 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das bekämpfte Erkenntnis im Anfechtungsumfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs3
AVG §46
VwGVG 2014 §38
VwGVG 2014 §46 Abs1
VwRallg
Schlagworte
Beweismittel Indizienbeweise indirekter Beweis Beweismittel Zeugen Parteiengehör Unmittelbarkeit Teilnahme an Beweisaufnahmen Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Materielle Wahrheit Verfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Unmittelbarkeitsprinzip Gegenüberstellungsanspruch Fragerecht der Parteien VwRallg10/1/2 Verwaltungsstrafverfahren
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2024:RA2021080070.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
GAAAF-45542