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VwGH 11.07.2022, Ra 2021/04/0007

VwGH 11.07.2022, Ra 2021/04/0007

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssätze


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Normen
MO Wr 2018 §20 Z2
MO Wr 2018 §40
VStG §45 Abs1 Z4
VStG §6
RS 1
Die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes iSd § 45 Abs. 1 Z 4 VStG ist allgemein für sich zu beurteilen (vgl. etwa , Rn. 13, mwN, wonach die Wertigkeit des durch die verletzte Norm geschützten Rechtsgutes ihren Ausdruck auch in der Höhe des gesetzlichen Strafrahmens findet) und nicht im Verhältnis zu dem im konkreten Einzelfall entgegenstehenden Schutz eines anderen Rechtsgutes. Vielmehr betrifft das Abwägen des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes im Verhältnis zum Schutz eines anderen höherwertigen Rechtsgutes den Rechtfertigungsgrund der Pflichtenkollision und würde im Fall dessen Bejahung bereits die Rechtswidrigkeit des zur Last gelegten Verhaltens ausschließen.
Normen
GewO 1994 §368
MO Wr 2018 §20
MO Wr 2018 §20 Z2
MO Wr 2018 §40
VStG §45 Abs1 Z4
RS 2
Ziel der Norm über die Bewilligung der Benützung unverbauter Marktflächen durch Marktparteien für die Dauer einer Zuweisung zum Zwecke des Aufstellens von Tischen und Sitzgelegenheiten (Schanigarten) gemäß § 20 Z 2 Wr MO 2018 ist vor allem die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs innerhalb des Marktgebietes und der allenfalls angrenzenden öffentlichen Verkehrsflächen zu gewährleisten. Insofern ist die Bedeutung der durch § 20 iVm § 40 Wr MO 2018 und § 368 GewO 1994 strafrechtlich geschützten Rechtsgüter jedenfalls nicht gering. Auch der Strafrahmen nach § 368 GewO 1994, und zwar eine Geldstrafe bis zu € 1.090,--, spricht gegen eine geringe Bedeutung der geschützten Rechtsgüter.
Norm
VStG §45 Abs1 Z4
RS 3
Von geringem Verschulden im Sinn des § 45 Abs. 1 Z 4 VStG ist gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes generell nur dann zu sprechen, wenn das tatbildmäßige Verhalten des Täters hinter dem in der betreffenden Strafdrohung typisierten Unrechtsgehalt und Schuldgehalt erheblich zurückbleibt (vgl. , mwN).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2018/04/0134 E RS 8

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Magistrats der Stadt Wien in 1200 Wien, Dresdner Straße 73-75, gegen das am  mündlich verkündete und am schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW-021/020/8163/2020-13, betreffend Übertretung der Wiener Marktordnung 2018 (mitbeteiligte Partei: Dipl.-Ing. G H in W, vertreten durch Sattler & Schanda Rechtsanwälte in 1010 Wien, Stallburggasse 4), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien (Amtsrevisionswerber) vom wurde dem Mitbeteiligten zur Last gelegt, er habe es als gewerberechtlicher Geschäftsführer der H OG zu verantworten, dass dieses Unternehmen am , um 11.15 Uhr, vor ihrem näher bezeichneten Marktstand in Wien eine Marktfläche im Ausmaß von 70 m2 für das Aufstellen von Tischen und Sitzgelegenheiten (Schanigarten) benutzt habe, obwohl ihr für den Zeitraum bis ein Schanigarten im Ausmaß von lediglich 21 m2 zugewiesen worden sei. Der Mitbeteiligte habe dadurch eine Verwaltungsübertretung gemäß § 20 iVm § 40 Wiener Marktordnung 2018 iVm § 368 Gewerbeordnung 1994 begangen. Es wurde eine Geldstrafe in Höhe von € 80,-- (Ersatzfreiheitsstrafe vier Stunden) verhängt und ein Kostenbeitrag in der Höhe von € 10,-- vorgeschrieben.

2 Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht), das mit dem angefochtenen Erkenntnis der Beschwerde Folge gab, das Straferkenntnis behob und das Verwaltungsstrafverfahren nach § 45 Abs. 1 Z 4 VStG einstellte (Spruchpunkt I.). Im Übrigen sprach das Verwaltungsgericht aus, dass der Mitbeteiligte keinen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens zu leisten habe (Spruchpunkt II.) und die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt III.).

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der objektive Tatbestand der angelasteten Verwaltungsübertretung sei entsprechend dem Spruch des Straferkenntnisses erwiesen. Das Verschulden des Mitbeteiligten als gewerberechtlicher Geschäftsführer der H OG sei jedoch gering, „weil auf die angestrebte Erweiterung und die grundsätzliche, in einem parallel geführten verwaltungsgerichtlichen Verfahren rechtskräftig festgestellte Zulässigkeit der Ausweitung, vertraut“ worden sei. Überdies betreffe das angefochtene Straferkenntnis „die erste Anzeige, die aus Anlass einer über den zugewiesenen Platz für einen Schanigarten hinausgehende Inanspruchnahme von Marktflächen ergangen“ sei. Die Erweiterung habe auch „dem Schutz eines höherwertigen Recht[s]gutes, nämlich der allgemeinen Gesundheit im Zuge der Wiedereröffnung der Gastronomie im Zuge der Maßnahmen auf Grund der Covid-19 Pandemie“ gedient. „In Lichte dieser Ausnahmesituation“ sei „von einer vergleichsweise geringen Bedeutung des hier geschützten Rechtsgutes und davon auszugehen, dass im Hinblick auf den dort zur Verfügung stehenden Platz am ...markt die Intensität der Beeinträchtigung gering gewesen“ sei.

4 Zum Zulässigkeitsausspruch führte das Verwaltungsgericht aus, dass „der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalles eine außerordentliche Milderung der Strafe nach § 20 VStG bzw. eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 Z 4 VStG gerechtfertigt hätten, ... in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung“ zukomme.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Der Mitbeteiligte erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht sei von den, in näher dargelegter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Leitlinien zum kumulativen Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 Z 4 VStG, und zwar der geringen Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes, der geringen Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat und des geringen Verschuldens des Beschuldigten, abgewichen.

Obwohl keine rechtskräftige Zuweisung der Nutzung eines größeren Marktgebietes vorgelegen sei, sei der Schanigarten von 21 m2 auf 70 m2, also um 233,33 %, somit nicht bloß geringfügig, vergrößert worden, weshalb nicht von geringem Verschulden im Sinne näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach das tatbildliche Verhalten des Täters erheblich hinter dem in der betreffenden Strafdrohung typisierten Unrechts- und Schuldgehalt zurückzubleiben habe, gesprochen werden könne. Selbst unter Berücksichtigung der vom Verwaltungsgericht mit Erkenntnis vom zugewiesenen Fläche (von insgesamt 42 m² für September 2020 und 37 m² für Oktober 2020) wäre diese zum Tatzeitpunkt um 70 % bzw. 89 % überschritten worden. Weder der Umstand, dass es sich um das diesbezüglich erste Verwaltungsstrafverfahren gehandelt habe, noch die nachträgliche Zuweisung von (einem weiteren) Markgebiet sei für das Verschulden des Mitbeteiligten zum Tatzeitpunkt maßgeblich.

Das Verwaltungsgericht habe sich auch nicht mit den durch § 20 Z 2 Wiener Marktordnung 2018 geschützten Rechtsgütern, wie etwa der Sicherheit und Leichtigkeit des Fußgängerverkehrs am Marktgebiet, der Freihaltung etwaiger Fluchtwege aus Marktständen, der gleichmäßigen Verteilung unverbauter Marktflächen an alle Marktparteien und dem Schutz des örtlichen Marktbildes, jeweils unter Berücksichtigung der örtlichen Marktverhältnisse auseinandergesetzt. Entgegen der Begründung des Verwaltungsgerichts habe die rechtswidrige Erweiterung der, der H OG zugewiesenen Fläche nicht dem Schutz der allgemeinen Gesundheit, sondern den wirtschaftlichen Interessen der Marktpartei gedient. Statt der damals geltenden Covid-19-Bestimmungen durch Verringerung der aufgestellten Sitzgelegenheiten zu entsprechen, habe die Marktpartei rechtswidrig die ihr zugewiesene Marktfläche erweitert, ohne die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Zuweisungsverfahren abzuwarten. Sofern überhaupt in Bezug auf § 45 Abs. 1 Z 4 VStG wesentlich habe das Verwaltungsgericht die Bedeutung der geschützten Rechtsgüter falsch beurteilt.

7 Der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalles eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 Z 4 VStG gerechtfertigt hätten, kommt in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zu (vgl. , Rn. 10, mwN). Allerdings setzt diese Ermessensentscheidung voraus, dass die in § 45 Abs. 1 Z 4 VStG genannten Umstände - geringe Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes, geringe Intensität der Beeinträchtigung dieses Rechtsgutes durch die Tat sowie geringes Verschulden - kumulativ vorliegen (vgl. etwa , Rn. 27, mwN).

8 Die Zulässigkeitsbegründung zielt darauf ab, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Beurteilung, es lägen die Voraussetzungen für die Einstellung nach § 45 Abs. 1 Z 4 VStG vor, grob fehlerhaft erfolgt sei.

9 Die Revision erweist sich diesbezüglich als zulässig und berechtigt.

10 Das Verwaltungsgericht begründete die geringe Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes ohne nähere Auseinandersetzung, welches Rechtsgut von der vorliegend übertretenen Norm strafrechtlich geschützt wird, mit dem bloßen Hinweis auf die zum Tatzeitpunkt auf Grund der Covid-19-Pandemie bedingte Ausnahmesituation und den Umstand, dass die rechtswidrige Erweiterung der in Anspruch genommenen Marktfläche dem Schutz der allgemeinen Gesundheit als ein höherwertiges Rechtsgut im Zuge der Wiedereröffnung der Gastronomie gedient habe.

11 Die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes iSd § 45 Abs. 1 Z 4 VStG ist allgemein für sich zu beurteilen (vgl. etwa , Rn. 13, mwN, wonach die Wertigkeit des durch die verletzte Norm geschützten Rechtsgutes ihren Ausdruck auch in der Höhe des gesetzlichen Strafrahmens findet) und nicht im Verhältnis zu dem im konkreten Einzelfall entgegenstehenden Schutz eines anderen Rechtsgutes. Vielmehr betrifft das Abwägen des vorliegend strafrechtlich geschützten Rechtsgutes durch das Verwaltungsgericht im Verhältnis zum Schutz eines anderen höherwertigen Rechtsgutes den Rechtfertigungsgrund der Pflichtenkollision und würde im Fall dessen Bejahung bereits die Rechtswidrigkeit des zur Last gelegten Verhaltens ausschließen. Dieser Rechtfertigungsgrund ist im konkreten Fall bereits mangels einander ausschließender Pflichten nicht gegeben.

12 Ziel der vorliegend übertretenen Norm über die Bewilligung der Benützung unverbauter Marktflächen durch Marktparteien für die Dauer einer Zuweisung zum Zwecke des Aufstellens von Tischen und Sitzgelegenheiten (Schanigarten) gemäß § 20 Z 2 Wiener Marktordnung 2018 ist vor allem die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs innerhalb des Marktgebietes und der allenfalls angrenzenden öffentlichen Verkehrsflächen zu gewährleisten. Insofern ist die Bedeutung der durch § 20 iVm § 40 Wiener Marktordnung 2018 und § 368 GewO 1994 strafrechtlich geschützten Rechtsgüter jedenfalls nicht gering. Auch der Strafrahmen nach § 368 GewO 1994, und zwar eine Geldstrafe bis zu € 1.090,--, spricht gegen eine geringe Bedeutung der geschützten Rechtsgüter.

13 Schließlich verweist der Amtsrevisionswerber zu Recht darauf, dass der rechtswidrigen Benützung von Marktflächen für den Betrieb eines Schanigartens durch die H OG nicht gesundheitliche Überlegungen zum Schutz der Gäste vor Covid-19-Infektionen im Vordergrund standen, sondern ausschließlich wirtschaftliche Eigeninteressen.

14 Ist - wie vorliegend - die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht gering, fehlt es bereits deshalb an einer der in § 45 Abs. 1 Z 4 VStG genannten Voraussetzungen für eine Einstellung des Strafverfahrens.

15 Ebenso wenig vermag allein der Hinweis des Verwaltungsgerichts „auf den dort zur Verfügung stehenden Platz am V...markt“ die geringe Intensität der Beeinträchtigung der durch § 20 iVm § 40 Wiener Marktordnung und § 368 GewO 1994 strafrechtlich geschützten Rechtsgüter durch die Tat zu begründen.

16 Schließlich ist auch entgegen dem Verwaltungsgericht nicht von einem geringen Verschulden des Mitbeteiligten auszugehen.

17 Von geringem Verschulden im Sinn des § 45 Abs. 1 Z 4 VStG ist gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes generell nur dann zu sprechen, wenn das tatbildmäßige Verhalten des Täters hinter dem in der betreffenden Strafdrohung typisierten Unrechtsgehalt und Schuldgehalt erheblich zurückbleibt (vgl. wiederum VwGH Ra 2018/04/0134, Rn. 28, mwN).

18 Unstrittig war zum Tatzeitpunkt die von der H OG angestrebte Ausweitung der für den Betrieb eines Schanigartens zugewiesenen Fläche vom Amtsrevisionswerber nicht zur Gänze bewilligt und es wurde diese Entscheidung mittels Beschwerde von der H OG bekämpft. Der Mitbeteiligte hat daher durch die Nutzung von Marktfläche in einem über den Zuweisungsbescheid erheblich hinausgehenden Ausmaß bewusst die Rechtswidrigkeit der zur Last gelegten Tat in Kauf genommen. Ein vom Verwaltungsgericht in den Raum gestelltes Vertrauen des Mitbeteiligten auf die Rechtswidrigkeit des Zuweisungsbescheides in Bezug auf den Umfang der zugewiesenen Marktfläche kann im Hinblick auf dieses vorsätzliche Vorgehen grundsätzlich kein geringes Verschulden begründen. Im Übrigen wurde die im Tatzeitpunkt der H OG zugewiesene Marktfläche nicht bloß geringfügig, sondern um mehr als das Doppelte überschritten.

19 Der Einstellung des Strafverfahrens mangelt es somit auch der Voraussetzung des geringen Verschuldens iSd § 45 Abs. 1 Z 4 VStG.

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 

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Normen
GewO 1994 §368
MO Wr 2018 §20
MO Wr 2018 §20 Z2
MO Wr 2018 §40
VStG §45 Abs1 Z4
VStG §6
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021040007.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
ZAAAF-45459