VwGH 24.05.2022, Ra 2021/03/0098
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssätze
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Normen | EpidemieG 1950 §17 EpidemieG 1950 §32 Abs1 Z1 EpidemieG 1950 §32 Abs3 EpidemieG 1950 §7 12010E045 AEUV Art45 12010E267 AEUV Art267 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art3 Abs1 lita 32011R0492 Freizügigkeit Arbeitnehmer Art7 |
RS 1 | Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Handelt es sich bei einem Vergütungsbetrag, der Arbeitnehmern während ihrer Absonderung als an COVID-19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen für die durch die Behinderung ihres Erwerbs entstandenen Vermögensnachteile gebührt, und der zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist, wobei der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber übergeht, um eine Leistung bei Krankheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit? Im Fall der Verneinung der ersten Frage: 2. Sind Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Vergütung für den Verdienstentgang, der Arbeitnehmern aufgrund einer gesundheitsbehördlich verfügten Absonderung wegen eines positiven COVID-19-Testergebnisses entsteht (wobei die Vergütung zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist und insoweit ein Ersatzanspruch gegen den Bund auf den Arbeitgeber übergeht), davon abhängig ist, dass die Absonderung durch eine inländische Behörde aufgrund nationaler epidemierechtlicher Vorschriften verfügt wird, sodass eine derartige Vergütung für Arbeitnehmer, die als Grenzgänger ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben und deren Absonderung ("Quarantäne") durch die Gesundheitsbehörde ihres Wohnsitzstaats verfügt wird, nicht geleistet wird? |
Normen | EURallg 12010E267 AEUV Art267 12010M004 EUV Art4 Abs3 |
RS 1 | Jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ des Mitgliedstaates ist verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen. Ist es nicht möglich, die volle Wirksamkeit des Unionsrechtes im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts sicherzustellen, so hat ein innerstaatliches Gericht für die volle Wirksamkeit dieser unionsrechtlichen Normen im Wege des Anwendungsvorrangs Sorge zu tragen, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt. Ausgehend davon trifft die VwG und die Verwaltungsbehörden insbesondere die Verpflichtung, im Anwendungsbereich des Unionsrechts die einschlägigen Rechtsvorschriften der Union zu identifizieren und deren Sinn auch anhand der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Union, insbesondere des EuGH, der letztlich zur Auslegung der Rechtsvorschriften der Europäischen Union zuständig ist (vgl. Art. 267 AEUV), zu erfassen. Auf dieser Grundlage ist der Inhalt der österreichischen Rechtsvorschriften zu klären, die damit im Zusammenhang stehen. Dies betrifft insbesondere solche österreichischen Rechtsvorschriften, die unionsrechtliche Vorgaben umsetzen (vgl. etwa jüngst , mwN). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ro 2018/03/0031 E RS 12 (hier: ohne den letzten Satz) |
Normen | EpidemieG 1950 §17 EpidemieG 1950 §32 Abs1 Z1 EpidemieG 1950 §7 EURallg VwGG §42 Abs2 Z1 12010E045 AEUV Art45 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art3 Abs1 lita 32011R0492 Freizügigkeit Arbeitnehmer Art7 62022CJ0411 Thermalhotel Fontana VORAB |
RS 2 | Vor dem Hintergrund des , Thermalhotel Fontana, verbietet sich eine Auslegung des § 32 Abs. 1 Z 1 EpidemieG 1950, nach der zwingende Voraussetzung einer Vergütung für Verdienstentgang nach dieser Bestimmung jedenfalls eine "gemäß §§ 7 oder 17" EpidemieG 1950 verfügte Absonderung durch eine österreichische Behörde ist. Vielmehr sind für Zwecke der Vergütung des Verdienstentganges auch Absonderungsmaßnahmen zu berücksichtigen, die von Behörden eines anderen Mitgliedstaates verhängt wurden und angesichts ihrer Zielsetzung, ihrer Art und ihren Auswirkungen den nach den §§ 7 und 17 EpidemieG 1950 verfügten Absonderungsmaßnahmen vergleichbar sind. |
Entscheidungstext
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/03/0099
Ra 2021/03/0100
Ra 2021/03/0102
Ra 2021/03/0103
Vorabentscheidungsverfahren:
* EU-Register: EU 2022/0006
* EuGH-Zahl: C-411/22
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger und die Hofräte Dr. Lehofer, Mag. Nedwed, Mag. Samm und Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revisionen der T gesellschaft m.b.H. in B, vertreten durch die E+H Eisenberger + Herzog Rechtsanwalts GmbH in 8010 Graz, Frauengasse 5, gegen die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom , Zl. 1.) LVwG 41.29-477/2021-2, 2.) LVwG 88.29-478/2021-2, 3.) LVwG 41.29-473/2021-2, 4.) LVwG 41.29-474/2021-2 und 5.) LVwG 41.29-475/2021-2, betreffend Ansprüche nach dem Epidemiegesetz 1950 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Südoststeiermark), den Beschluss gefasst:
Spruch
Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Handelt es sich bei einem Vergütungsbetrag, der Arbeitnehmern während ihrer Absonderung als an COVID-19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen für die durch die Behinderung ihres Erwerbs entstandenen Vermögensnachteile gebührt, und der zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist, wobei der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber übergeht, um eine Leistung bei Krankheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit?
Im Fall der Verneinung der ersten Frage:
2. Sind Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Vergütung für den Verdienstentgang, der Arbeitnehmern aufgrund einer gesundheitsbehördlich verfügten Absonderung wegen eines positiven COVID-19-Testergebnisses entsteht (wobei die Vergütung zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist und insoweit ein Ersatzanspruch gegen den Bund auf den Arbeitgeber übergeht), davon abhängig ist, dass die Absonderung durch eine inländische Behörde aufgrund nationaler epidemierechtlicher Vorschriften verfügt wird, sodass eine derartige Vergütung für Arbeitnehmer, die als Grenzgänger ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben und deren Absonderung („Quarantäne“) durch die Gesundheitsbehörde ihres Wohnsitzstaats verfügt wird, nicht geleistet wird?
Begründung
A. Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang
1 Die revisionswerbende Partei hat ihren Sitz in Österreich, wo sie ein Hotel betreibt. Im Zuge von Kontrolltestungen in diesem Hotel wurden mehrere Arbeitnehmer positiv auf COVID-19 getestet. Die revisionswerbende Partei meldete dies der österreichischen Gesundheitsbehörde, die jedoch über die betroffenen Arbeitnehmer keine Absonderung nach den österreichischen epidemierechtlichen Vorschriften verhängte, weil diese Arbeitnehmer ihren Wohnsitz in Slowenien (in den zu Ra 2021/03/0098-0100, sowie Ra 2021/03/0102 protokollierten Revisionsfällen) bzw. Ungarn (Ra 2021/03/0103) hatten. Die österreichische Behörde informierte jedoch die zuständigen Behörden dieser anderen Mitgliedstaaten, die in der Folge für näher festgelegte Zeiträume eine Absonderung der Arbeitnehmer an deren jeweiligem Wohnsitz in Slowenien bzw. in Ungarn verfügten. Im Einzelnen betraf dies die Zeiträume vom bis (Ra 2021/03/0098 und Ra 2021/03/0103), vom bis (Ra 2021/03/0099 und Ra 2021/03/0102) sowie vom bis (Ra 2021/03/0100). Die revisionswerbende Partei brachte im Verfahren vor, dass sie während dieser Absonderungszeiten das jeweilige Arbeitsentgelt an die betroffenen Arbeitnehmer weiter entrichtet habe.
2 Mit Eingaben vom beantragte die revisionswerbende Partei gemäß § 32 Epidemiegesetz 1950 (EpiG) bei der Bezirkshauptmannschaft Südoststeiermark die Vergütung für jenen Verdienstentgang, der den Arbeitnehmern während den Zeiten der Absonderung entstanden und durch Auszahlen des Arbeitsentgeltes auf die revisionswerbende Partei übergegangen sei. Diese Anträge wurden mit Bescheiden der Bezirkshauptmannschaft vom abgewiesen.
3 Mit den vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnissen wies das Landesverwaltungsgericht Steiermark die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Partei als unbegründet ab.
4 Das Landesverwaltungsgericht stellte in diesen Verfahren im Wesentlichen fest, dass es sich bei den Schreiben, die die revisionswerbende Partei den Anträgen auf Vergütung für den Verdienstentgang nach § 32 EpiG beigelegt hatte, um ausländische Verfügungen oder Bestätigungen einer über die Arbeitnehmer verfügten Quarantäne handle.
5 In rechtlicher Hinsicht führte das Landesverwaltungsgericht in allen fünf Erkenntnissen aus, dass es sich bei der in § 32 Abs. 1 EpiG vorgenommenen Aufzählung der Fälle, in denen eine Vergütung zu leisten sei, um eine taxative Aufzählung handle. Die Bestimmung des § 32 Abs. 3 EpiG, wonach die Arbeitgeber den Arbeitnehmern den gebührenden Vergütungsbetrag an den für die Zahlung des Entgelts im Betrieb üblichen Terminen auszuzahlen hätten, sei nur dann anzuwenden, wenn Maßnahmen nach dem EpiG dazu geführt hätten, dass es zu einer Behinderung des Erwerbs gekommen sei. Konkret umfasst seien nur Absonderungen gemäß §§ 7 oder 17 EpiG oder § 24 EpiG. Bei Absonderungsmaßnahmen, die durch ausländische Behörden verfügt worden seien, gebühre kein Anspruch nach dem EpiG. Wie aus § 33 in Verbindung mit § 20 EpiG klar hervorgehe, bestehe ein Entschädigungsanspruch gemäß § 33 EpiG nur dann, wenn aufgrund einer behördlichen Maßnahme nach dem EpiG eine Verfügung erfolgt sei, durch welche ein Verdienstentgang verursacht worden sei. Eine solche hoheitliche Maßnahme einer österreichischen Behörde liege unstrittig nicht vor, sodass auch das Vorliegen eines Entschädigungsanspruches von der belangten Behörde zutreffend verneint worden sei.
6 Gegen diese Erkenntnisse erhob die revisionswerbende Partei die vorliegenden außerordentlichen Revisionen an den Verwaltungsgerichtshof, in welchen sie vor allem die Vereinbarkeit des § 32 Abs. 1 und Abs. 3 EpiG in der vom Landesverwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV sowie der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzweifelt.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionsverfahren aufgrund ihrer Gleichartigkeit in den entscheidungswesentlichen Gesichtspunkten zur gemeinsamen Beschlussfassung verbunden.
B. Rechtslage
B.1. Unionsrecht
8 Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), lautet:
„Artikel 45
(ex-Artikel 39 EGV)
(1) Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
(3) Sie gibt - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;
c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission durch Verordnungen festlegt.
(4) Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.“
9 Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Union (im Folgenden: VO 492/2011), ABl. L 141/1 vom , lautet:
„Ausübung der Beschäftigung und Gleichbehandlung
Artikel 7
(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.
(3) Er kann mit dem gleichen Recht und unter den gleichen Bedingungen wie die inländischen Arbeitnehmer Berufsschulen und Umschulungszentren in Anspruch nehmen.
(4) Alle Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen betreffend Zugang zur Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeits- und Kündigungsbedingungen sind von Rechts wegen nichtig, soweit sie für Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen vorsehen oder zulassen.“
10 Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU Nr. L 166 vom , S. 1 (im Folgenden VO 883/2004), lautet (auszugsweise):
„Artikel 1
Begriffsbestimmungen
Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
[...]
f) ‚Grenzgänger‘ eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt;
[...]
Artikel 2
Persönlicher Geltungsbereich
(1) Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.
[...]
Artikel 3
Sachlicher Geltungsbereich
(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
a) Leistungen bei Krankheit;
[...]
(2) Sofern in Anhang XI nichts anderes bestimmt ist, gilt diese Verordnung für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme betreffend die Verpflichtungen von Arbeitgebern und Reedern.
(3) Diese Verordnung gilt auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70.
[...]
Artikel 5
Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen
Sofern in dieser Verordnung nicht anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:
a) [...]
b) Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.
[...]
TITEL II
BESTIMMUNG DES ANWENDBAREN RECHTS
Artikel 11
Allgemeine Regelung
(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2) [...]
(3)Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;
[...]“
B.2. Nationales Recht
11 Die maßgeblichen Bestimmungen des Epidemiegesetzes 1950 (EpiG), BGBl. Nr. 186/1950, in der für die Revisionsfälle maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 104/2020 (§ 7 und § 32 EpiG) bzw. BGBl. I Nr. 114/2006 (§ 17 EpiG), lauten (auszugsweise):
„Absonderung Kranker.
§ 7. (1) Durch Verordnung werden jene anzeigepflichtigen Krankheiten bezeichnet, bei denen für kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen Absonderungsmaßnahmen verfügt werden können.
(1a) Zur Verhütung der Weiterverbreitung einer in einer Verordnung nach Abs. 1 angeführten anzeigepflichtigen Krankheit können kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen angehalten oder im Verkehr mit der Außenwelt beschränkt werden, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann. Die angehaltene Person kann bei dem Bezirksgericht, in dessen Sprengel der Anhaltungsort liegt, die Überprüfung der Zulässigkeit und Aufhebung der Freiheitsbeschränkung nach Maßgabe des 2. Abschnitts des Tuberkulosegesetzes beantragen. Jede Anhaltung, die länger als zehn Tage aufrecht ist, ist dem Bezirksgericht von der Bezirksverwaltungsbehörde anzuzeigen, die sie verfügt hat. Das Bezirksgericht hat von Amts wegen in längstens dreimonatigen Abständen ab der Anhaltung oder der letzten Überprüfung die Zulässigkeit der Anhaltung in sinngemäßer Anwendung des § 17 des Tuberkulosegesetzes zu überprüfen, sofern die Anhaltung nicht vorher aufgehoben wurde.
[...]
Überwachung bestimmter Personen.
§ 17. (1) Personen, die als Träger von Krankheitskeimen einer anzeigepflichtigen Krankheit anzusehen sind, können einer besonderen sanitätspolizeilichen Beobachtung oder Überwachung unterworfen werden. Sie dürfen nach näherer Anordnung der Bezirksverwaltungsbehörde (Gesundheitsamt) nicht bei der Gewinnung oder Behandlung von Lebensmitteln in einer Weise tätig sein, welche die Gefahr mit sich bringt, daß Krankheitskeime auf andere Personen oder auf Lebensmittel übertragen werden. Für diese Personen kann eine besondere Meldepflicht, die periodische ärztliche Untersuchung sowie erforderlichenfalls die Desinfektion und Absonderung in ihrer Wohnung angeordnet werden; ist die Absonderung in der Wohnung in zweckmäßiger Weise nicht durchführbar, so kann die Absonderung und Verpflegung in eigenen Räumen verfügt werden.
[...]
Vergütung für den Verdienstentgang.
§ 32. (1) Natürlichen und juristischen Personen sowie Personengesellschaften des Handelsrechtes ist wegen der durch die Behinderung ihres Erwerbes entstandenen Vermögensnachteile dann eine Vergütung zu leisten, wenn und soweit
1. sie gemäß §§ 7 oder 17 abgesondert worden sind, [...]
und dadurch ein Verdienstentgang eingetreten ist.
(2) Die Vergütung ist für jeden Tag zu leisten, der von der in Abs. 1 genannten behördlichen Verfügung umfaßt ist.
(3) Die Vergütung für Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, ist nach dem regelmäßigen Entgelt im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes, BGBl. Nr. 399/1974, zu bemessen. Die Arbeitgeber haben ihnen den gebührenden Vergütungsbetrag an den für die Zahlung des Entgelts im Betrieb üblichen Terminen auszuzahlen. Der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund geht mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber über. Der für die Zeit der Erwerbsbehinderung vom Arbeitgeber zu entrichtende Dienstgeberanteil in der gesetzlichen Sozialversicherung und der Zuschlag gemäß § 21 des Bauarbeiterurlaubsgesetzes 1972, BGBl. Nr. 414, ist vom Bund zu ersetzen.
[...]“
C. Vorlageberechtigung und Problemstellung
12 Der Verwaltungsgerichtshof ist ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechtes angefochten werden können.
13 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt die Auffassung, dass sich bei der Entscheidung der von ihm zu beurteilenden Revisionssachen die in diesem Ersuchen um Vorabentscheidung angeführten und im Folgenden erörterten Fragen der Auslegung des Unionsrechts stellen.
14 Im vorliegenden Fall ist zu klären, ob die revisionswerbende Partei als Arbeitgeberin auch dann zur Geltendmachung eines - nach § 32 Abs. 3 dritter Satz EpiG auf sie übergegangenen - Anspruchs auf Vergütung für den Verdienstentgang berechtigt ist, wenn die Verfügung, aufgrund welcher die an COVID-19 erkrankten, krankheits- oder ansteckungsverdächtigen Arbeitnehmer abgesondert wurden, mangels Wohnsitzes in Österreich nicht durch Erlassung eines Bescheides einer österreichischen Gesundheitsbehörde, sondern durch eine (hoheitliche) Maßnahme eines anderen Mitgliedstaates erfolgte.
15 Nach der österreichischen Rechtslage ist gemäß § 32 Abs. 1 Z 1 EpiG unter anderem natürlichen Personen wegen der durch die Behinderung ihres Erwerbes entstandenen Vermögensnachteile dann eine Vergütung zu leisten, wenn und soweit sie gemäß §§ 7 oder 17 EpiG abgesondert worden sind. Besteht wie im gegenständlichen Fall ein Arbeitsverhältnis, ist die Vergütung für den abgesonderten Arbeitnehmer nach § 32 Abs. 3 EpiG zunächst vom Arbeitgeber auszuzahlen und nach dem regelmäßigen Entgelt im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes, BGBl. Nr. 399/1974, zu bemessen. Mit dem Zeitpunkt der Auszahlung des Vergütungsbetrages an den Arbeitnehmer geht der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund auf den Arbeitgeber über.
16 Bei dem dem Arbeitnehmer nach § 32 Abs. 3 erster und zweiter Satz EpiG ausgezahlten Vergütungsbetrag handelt es sich begrifflich nicht um Entgelt, sondern um eine auf einem öffentlich-rechtlichen Titel beruhende Entschädigung (Vergütung) des Bundes, für die der Arbeitgeber in Vorlage (§ 32 Abs. 3 dritter Satz EpiG) tritt (vgl. , ECLI:AT:VWGH:1984:1984080043.X00).
17 Dem Wortlaut des Gesetzestextes des § 32 EpiG folgend gebührt eine Vergütung demnach nur, soweit eine Absonderung des Arbeitnehmers nach § 7 oder § 17 EpiG, demnach mit Bescheid der zuständigen österreichischen Behörde, verfügt wurde (vgl. zur Verfügung der Absonderungsmaßnahme mit Bescheid § 46 EpiG sowie , ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021030052.L00). Erfolgte die Absonderung des Arbeitnehmers - wie im vorliegenden Fall mangels Wohnsitzes im Inland - durch eine Maßnahme eines anderen Mitgliedstaates, besteht nach dem insoweit klaren Wortlaut des § 32 EpiG kein Anspruch auf Vergütung.
18 Die revisionswerbende Partei hat vorgebracht, den betroffenen Arbeitnehmern das Entgelt während der durch die slowenische bzw. ungarische Behörde verfügten Absonderung fortbezahlt zu haben. Sie macht nun geltend, dass sie damit den Vergütungsbetrag im Sinne des § 32 Abs. 3 zweiter Satz EpiG ausgezahlt habe und dementsprechend der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund auf sie übergegangen ist.
19 Für die Beurteilung der Frage, ob der revisionswerbenden Partei dieser Anspruch auf Vergütung für den Verdienstentgang gemäß § 32 Abs. 3 EpiG zukommt, ist es daher entscheidend, ob das Unionsrecht einer Einschränkung der Vergütung auf jene Fälle, in denen die Absonderung mit Bescheid der österreichischen Gesundheitsbehörde erfolgt ist, entgegensteht.
D. Erläuterung der Vorlagefragen
D.1. Zur Frage der Anwendbarkeit der VO 883/2004 (Frage 1)
20 Der Verwaltungsgerichtshof geht nach den vorliegenden Akten des Verfahrens und dem Vorbringen der revisionswerbenden Partei davon aus, dass es sich bei den betroffenen Arbeitnehmern (die einer Beschäftigung in Österreich nachgehen, aber ihren Wohnsitz in Slowenien bzw. Ungarn haben) um Grenzgänger im Sinne des Art. 1 lit. f der VO 883/2004 handelt, und diese Arbeitnehmer daher im Sinne des Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 lit. a der VO 883/2004 den österreichischen Rechtsvorschriften im Rahmen des Anwendungsbereichs dieser Verordnung unterliegen.
21 Der Verwaltungsgerichtshof geht weiters davon aus, dass die österreichischen Behörden und Gerichte im Hinblick auf die in § 32 EpiG vorgesehene Vergütung, wäre sie als Leistung bei Krankheit im Sinne des Art. 3 lit. a der VO 883/2004, anzusehen, nach Art. 5 lit. b der VO 883/2004 eine Absonderungsverfügung durch die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaates so zu berücksichtigen hätten, als wäre diese Verfügung durch eine österreichische Behörde im eigenen Hoheitsgebiet erfolgt.
22 Es stellt sich daher die Frage, ob es sich bei dieser nach § 32 EpiG vorgesehenen Vergütung des Bundes, die für den Fall geleistet wird, dass über eine kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Person eine Absonderungsmaßnahme aufgrund einer anzeigepflichtigen Krankheit (wie im vorliegenden Fall COVID-19) verhängt und diese Person dadurch in ihrem Erwerb behindert wird, um eine Leistung bei Krankheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a der VO 883/2004 handelt.
23 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Leistung dann eine Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne des Art. 3 der VO 883/2004, wenn sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird, ohne dass im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung des persönlichen Bedarfs erfolgt, und wenn sie sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 (nunmehr Art. 3 Abs. 1 der VO 883/2004) ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht. Für die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kategorien von Leistungen der sozialen Sicherheit ist das von der jeweiligen Leistung gedeckte Risiko zu berücksichtigen (vgl. zur Vorgängerbestimmung der Verordnung Nr. 1408/71 Tolley, C-430/15, Rn. 43 und 45, ECLI:EU:C:2017:74).
24 In diesem Zusammenhang hat der EuGH bereits entschieden, dass Leistungen, die objektiv aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden und die darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen Pflegebedürftiger zu verbessern, im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung bezwecken und damit als „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a der VO 883/2004 zu betrachten sind (vgl. wiederum zur Vorgängerverordnung Nr. 1408/71 Kommission/Parlament und Rat, C-299/05, Rn. 61, ECLI:EU:C:2007:608).
25 Eine Leistung bei Krankheit deckt das Risiko eines krankhaften Zustands, der dazu führt, dass der Betroffene seine Tätigkeiten vorübergehend aussetzt (vgl. Stewart, C-503/09, Rn. 37, ECLI:EU:C:2011:500).
26 Die im vorliegenden Fall in Frage stehende Leistung wird aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands vom Bund gewährt. Sie knüpft allerdings nicht an das Vorliegen einer Krankheit an, sondern stellt darauf ab, dass die Person, der die Leistung zukommt, durch eine hoheitliche gesundheitsbehördliche Anordnung daran gehindert wird, ihrer Arbeit nachzugehen und dadurch einen Verdienstentgang erleidet, der vom Bund ersetzt wird. Dabei ist nicht erforderlich, dass die betroffene Person tatsächlich krank ist, vielmehr ist Anspruchsvoraussetzung, dass eine hoheitliche Anordnung zur Absonderung getroffen wurde, die auch im Fall eines bloßen Krankheits- oder Ansteckungsverdachts, ohne Vorliegen von Krankheitssymptomen, ausgesprochen werden kann. Die Leistung dient auch nicht dem Ersatz von Krankheits- oder Behandlungskosten und sie ist keine Leistung im Rahmen der Krankenversicherung (wie sie im System der Sozialversicherung etwa nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz gewährt wird).
27 Das EpiG klassifiziert die behördliche Absonderung als „Vorkehrung zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten“ (siehe die Überschrift zum II. Hauptstück des EpiG). Die Absonderung dient nach ihrer Zielsetzung auch nicht der individuellen Genesung, sondern dem Schutz der Bevölkerung vor Ansteckung durch die abgesonderte Person und damit der Eindämmung der durch die anzeigepflichtige Krankheit bestehenden allgemeinen Gesundheitsgefahr. Vor diesem Hintergrund kommt der vom Bund für die Zeit der Absonderung gewährten Vergütung des Verdienstentgangs weniger der Charakter einer Leistung zu, die im Hinblick auf eine bei der betroffenen Person bestehende Krankheit gewährt wird, sondern sie bezweckt den Ausgleich von Nachteilen, die durch eine im Allgemeininteresse getroffene gesundheitsbehördliche Verfügung bei der dadurch in ihren Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkten Person entstehen.
28 Der Verwaltungsgerichtshof neigt daher der Ansicht zu, dass es sich bei der hier gegenständlichen Vergütung, die aufgrund einer gesundheitsbehördlich zum Schutz vor der Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten im Allgemeininteresse angeordneten Absonderung („Quarantäne“) durch die öffentliche Hand geleistet wird, nicht um eine Leistung bei Krankheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a der VO 883/2004 handelt. Da diese Frage jedoch vom Gerichtshof der Europäischen Union noch nicht entschieden wurde und die richtige Anwendung des Unionsrechts auch nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt, wird diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV zur Entscheidung vorgelegt.
D.2. Zur Frage der Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Frage 2)
29 Für den Fall der Verneinung der ersten Frage ist zu klären, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 7 der VO 492/2011 einer Vergütungsregelung, wie sie in § 32 EpiG getroffen wurde, entgegenstehen, zumal diese Regelung im Ergebnis einen Vergütungsanspruch für den Fall ausschließt, dass der Arbeitnehmer über keinen Wohnsitz im Inland verfügt.
30 Nach der Rechtsprechung des EuGH fällt jeder Angehörige eines Mitgliedstaates, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht hat und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat eine Berufstätigkeit ausübt, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV (vgl. Ritter-Coulais, C-152/03, Rn. 31, ECLI:EU:C:2006:123).
31 Die im Ausgangsfall von der Absonderung betroffenen Arbeitnehmer gehen einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich nach, haben aber ihren Wohnsitz in Slowenien bzw. Ungarn, an den sie (nach dem insoweit unstrittigen Revisionsvorbringen) täglich zurückkehren. Sie sind deshalb als Arbeitnehmer anzusehen, die von dem in Art. 45 AEUV vorgesehenen Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben.
32 Art. 45 Abs. 2 AEUV sieht vor, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst (vgl. Depesme und Kerrou, C-401/15 bis C-403/15, Rn. 34, ECLI:EU:C:2016:955).
33 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung außerdem nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale wie das Wohnsitzkriterium tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. Sopora, C-512/13, Rn. 23, ECLI:EU:C:2015:108). Bei einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, besteht die Gefahr, dass sie sich hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt, da Gebietsfremde meist Ausländer sind (vgl. Clean Car Autoservice, C-350/96, Rn. 29, ECLI:EU:C:1998:205).
34 Im Ausgangsfall waren die Arbeitnehmer aufgrund einer Absonderung, die von der Behörde ihres Wohnsitzstaates wegen eines positiven COVID-19-Testergebnisses verfügt wurde, an der Ausübung ihrer (unselbständigen) Erwerbstätigkeit in Österreich gehindert. Die revisionswerbende Partei hat den Arbeitnehmern für den Zeitraum ihrer durch die ungarische bzw. slowenische Behörde verfügten Absonderung das Entgelt fortbezahlt. Sie vertritt daher die Auffassung, dass sie damit die Vergütung für Verdienstentgang im Sinne des § 32 Abs. 3 zweiter Satz EpiG ausbezahlt habe, sodass nach § 32 Abs. 3 dritter Satz EpiG der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund auf sie übergegangen sei.
35 Die Behörde hat der revisionswerbenden Partei die Gewährung dieses Vergütungsbetrages mit der Begründung verweigert, dass die Arbeitnehmer nicht durch einen Bescheid einer österreichischen Behörde gemäß den - nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 1 Z 1 EpiG allein maßgeblichen - Vorschriften der §§ 7 oder 17 EpiG abgesondert worden seien.
36 Der im Ausgangsfall von der revisionswerbenden Partei geltend gemachte Vergütungsanspruch nach § 32 Abs. 3 dritter Satz EpiG ist kein originärer Anspruch des Arbeitgebers, sondern gründet sich darauf, dass ein kraft Gesetzes beim Arbeitnehmer entstehender Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund (§ 32 Abs. 1 EpiG) zunächst vom Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer erfüllt wird (§ 32 Abs. 3 zweiter Satz EpiG) und in diesem Umfang auf den Arbeitgeber übergeht (§ 32 Abs. 3 dritter Satz EpiG). Der verfahrensgegenständliche Anspruch des Arbeitgebers hängt daher unmittelbar mit der Beschäftigung im Sinne des Art. 45 AEUV zusammen, sodass nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes - auch im Lichte der Rechtsprechung (vgl. Clean Car Autoservice Ges.m.b.H., C-350/96, Rn. 18ff, ECLI:EU:C:1998:205) - keine Bedenken dagegen bestehen, dass sich in diesem Zusammenhang auch der Arbeitgeber auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV berufen kann.
37 § 32 Abs. 1 EpiG knüpft den Vergütungsanspruch an eine Absonderung nach § 7 oder § 17 dieses Gesetzes und damit durch eine österreichische Behörde. In einer derartigen behördlichen Anordnung wird der Ort der Absonderung festgelegt, der in der Regel der Wohn- oder Aufenthaltsort der betroffenen Person ist. Im Ausgangsfall hat die österreichische Behörde eine derartige Absonderung nicht verfügt, sondern aufgrund des Wohnsitzes der betroffenen Personen die zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten informiert, die in der Folge - soweit dies aus den Verfahrensakten hervorgeht - eine der Sache nach vergleichbare behördliche Verfügung zur Absonderung am jeweiligen Wohnort der betroffenen Arbeitnehmer getroffen haben.
38 Arbeitnehmer, die ihren Wohnsitz in Österreich haben und durch einen auf § 7 EpiG gestützten Bescheid der zuständigen österreichischen Gesundheitsbehörde an ihrem Wohnsitz abgesondert werden, haben daher einen Anspruch auf Vergütung für den Verdienstentgang nach § 32 Abs. 1 EpiG, der nach Auszahlung durch den Arbeitgeber auf diesen übergeht und von diesem gemäß § 32 Abs. 3 EpiG dritter Satz gegen den Bund geltend gemacht werden kann. Hingegen ist in Fällen wie im Ausgangsverfahren, in denen Grenzgänger bei sonst gleicher Ausgangslage (Arbeitnehmer der revisionswerbenden Partei in deren Betrieb in Österreich; Vorliegen eines positiven COVID-19-Testergebnisses) aufgrund ihres Wohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat nicht von der österreichischen Behörde nach § 7 EpiG abgesondert werden, sondern die - gestützt auf die dort jeweils geltenden gesundheitsrechtlichen Vorschriften - von der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaats vergleichbaren Quarantänemaßnahmen unterworfen wären, ein Anspruch auf Ersatz des Verdienstentgangs nach dem Wortlaut des EpiG nicht vorgesehen.
39 Damit wird aber von einer nationalen Rechtsvorschrift als Voraussetzung für die Geltendmachung eines Anspruchs auf Vergütung für den erlittenen Verdienstentgang im Falle einer gesundheitsbehördlich angeordneten Absonderung - mittelbar - ein Wohnsitz im Inland vorgeschrieben. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes ist dies als mittelbare Diskriminierung anzusehen, weil sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (vgl. Hartmann, C-212/05, Rn. 29-31, ECLI:EU:C:2007:437); daran ändert es nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes auch nichts, wenn der vom Arbeitnehmer abgeleitete Anspruch vom Arbeitgeber geltend gemacht wird.
40 Eine diskriminierende nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der durch den AEUV garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, könnte dennoch zulässig sein, wenn sie erstens aus einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und zweitens verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass sie geeignet sein muss, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist (vgl. Onofrei, C-218/19, Rn. 32, ECLI:EU:C:2020:1034).
41 Für die hier verfahrensgegenständliche Regelung ist den Gesetzesmaterialien kein besonderer Rechtfertigungsgrund dafür zu entnehmen, dass dabei auf einen Bescheid einer österreichischen Behörde und damit mittelbar darauf abgestellt wird, dass der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz in Österreich hat (vgl. ErlRV 1205, 13. GP zur Novelle BGBl. Nr. 702/1974, mit der § 32 EpiG neu gefasst wurde). In Betracht käme allenfalls der Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit. Die Verfügung von Absonderungsmaßnahmen über kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen erleichtert die Nachverfolgung des Infektionsgeschehens und bewirkt, dass (möglicherweise) Infizierte sich nicht außerhalb ihres Wohnsitzes aufhalten dürfen, wodurch das Risiko einer Weiterverbreitung von COVID-19 reduziert werden kann. Der gesetzlich vorgesehene Anspruch auf Vergütung des Verdienstentganges während der Zeit der Absonderung dient auch dazu, die Einhaltung der Quarantänemaßnahmen zu fördern und damit die Effektivität der von den Gesundheitsbehörden getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens zu erhöhen. Als mögliche Rechtfertigung für das Abstellen auf Verfügungen ausschließlich inländischer Behörden käme in Betracht, dass auch eine Überwachung der Einhaltung solcher Verfügungen nur möglich ist, wenn die Absonderung im Inland erfolgt (und daher von den inländischen Behörden kontrolliert werden kann), und dass sich das im Allgemeininteresse gelegene gesundheitspolitische Ziel der Eindämmung des Infektionsgeschehens, dessen Erreichung durch die Gewährung eines Anspruchs auf Vergütung für den Verdienstentgang unterstützt werden soll, auf die Situation im Inland bezieht, die sich von der epidemischen Lage im anderen Mitgliedstaat (dem Wohnsitzstaat des betroffenen Arbeitnehmers) unterscheiden kann. Schließlich könnte eine mögliche Rechtfertigung für die Beschränkung der Vergütung durch den Bund auf jene Arbeitnehmer, die von österreichischen Behörden abgesondert wurden, darin liegen, dass nur in diesen Fällen der österreichische Staat für die Erwerbsbehinderung des Arbeitnehmers verantwortlich ist. Der Arbeitnehmer wäre dann im Falle einer Quarantäneverfügung seines Heimatstaates an diesen zu verweisen, sofern dort entsprechende Vergütungsregelungen bestehen.
42 Es erscheint jedenfalls nicht offenkundig, dass die im Hinblick auf die Vergütung für den Verdienstentgang im Fall von Absonderungsverfügungen im Ergebnis bestehende Ungleichbehandlung zwischen Arbeitgebern, die Arbeitnehmer mit Wohnsitz im Inland beschäftigen und jenen Arbeitgebern, die auch Grenzgänger beschäftigen, verhältnismäßig ist. Da damit die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht als derart offenkundig erscheint, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, wird auch die zweite Vorlagefrage gemäß Art. 267 AEUV mit dem Ersuchen um Vorabentscheidung vorgelegt.
Wien, am
Entscheidungstext
Entscheidungsart: Erkenntnis
Entscheidungsdatum:
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/03/0099
Ra 2021/03/0100
Ra 2021/03/0102
Ra 2021/03/0103
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger und den Senatspräsidenten Dr. Lehofer sowie die Hofräte Mag. Nedwed, Mag. Samm und Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revisionen der Tges.m.b.H in B, vertreten durch die E+H Eisenberger + Herzog Rechtsanwalts GmbH in 8010 Graz, Frauengasse 5, gegen die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom , Zlen. 1.) LVwG 41.29-477/2021-2, 2.) LVwG 88.29-478/2021-2, 3.) LVwG 41.29-473/2021-2, 4.) LVwG 41.29-474/2021-2 und 5.) LVwG 41.29-475/2021-2, betreffend Ansprüche nach dem Epidemiegesetz 1950 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Südoststeiermark), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 5.532,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionsfälle betreffen Anträge der revisionswerbenden Partei auf Vergütung für den Verdienstentgang nach § 32 Epidemiegesetz 1950 (EpiG) betreffend Arbeitnehmer, die in ihrem Betrieb in Österreich beschäftigt waren, aber ihren Wohnsitz in Slowenien oder Ungarn hatten.
2 Nach dem Vorbringen der revisionswerbenden Partei - konkrete Feststellungen enthalten die angefochtenen Erkenntnisse dazu nicht - seien über Arbeitnehmer, die ihren Wohnsitz in Slowenien (in den zu Ra 2021/03/0098-0100 sowie Ra 2021/03/0102 protokollierten Revisionsfällen) bzw. Ungarn (Ra 2021/03/0103) hatten, von den zuständigen Behörden dieser Staaten aufgrund von COVID-19-Infektionen Absonderungsmaßnahmen für näher festgelegte Zeiträume verhängt worden. Im Einzelnen betraf dies die Zeiträume vom bis (Ra 2021/03/0098 und Ra 2021/03/0103), vom bis (Ra 2021/03/0099 und Ra 2021/03/0102) sowie vom bis (Ra 2021/03/0100).
3 Mit Eingaben vom beantragte die revisionswerbende Partei gemäß § 32 Epidemiegesetz 1950 (EpiG) bei der belangten Behörde die Vergütung für jenen Verdienstentgang, der den Arbeitnehmern während den Zeiten der Absonderung entstanden und durch Auszahlen des Arbeitsentgeltes auf die revisionswerbende Partei übergegangen sei. Diese Anträge wurden mit Bescheiden der belangten Behörde vom abgewiesen.
4 Mit den nunmehr angefochtenen Erkenntnissen hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Partei als unbegründet abgewiesen und die Revision an den Verwaltungsgerichtshof als nicht zulässig erklärt.
5 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass bei Absonderungsmaßnahmen, die durch ausländische Behörden verfügt wurden, kein Anspruch nach dem EpiG bestehe. Ein solcher Anspruch bestehe nur dann, wenn aufgrund einer behördlichen Maßnahme nach dem EpiG eine Verfügung erfolgt sei, durch welche ein Verdienstentgang verursacht worden sei.
6 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die Revisionen der revisionswerbenden Partei mit den Anträgen auf Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, in eventu wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revisionen das Vorverfahren durchgeführt, in dem die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf Zurückweisung der Revision erstattet hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die - wegen ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Revisionen erwogen:
7 Die revisionswerbende Partei bringt zur Zulässigkeit vor, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für den Fall fehle, dass ein Arbeitnehmer aufgrund von COVID-19 von einer ausländischen Behörde abgesondert wird und der Arbeitgeber den Anspruch für Verdienstentgang gemäß § 32 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit §§ 7 und 17 EpiG begehrt, der im Zeitpunkt der Zahlung des Entgelts auf ihn übergegangen ist. Die Rechtsfrage, ob (im Hinblick auf die Vergütung für den Verdienstentgang) eine ausländische hoheitliche Maßnahme einem Absonderungsbescheid im Sinne des § 7 EpiG gleichzusetzen sei, bedürfe einer Klärung durch den Verwaltungsgerichtshof.
8 Die Revisionen erweisen sich aufgrund der von der revisionswerbenden Partei dargelegten Rechtsfrage - entgegen der bloß die verba legalia wiederholenden und damit nicht gesetzmäßig ausgeführten Begründung der Unzulässigkeit in den angefochtenen Erkenntnissen - als zulässig und auch begründet:
9 § 32 EpiG in der zeitraumbezogen maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 104/2020, lautet (auszugsweise) wie folgt:
„Vergütung für den Verdienstentgang.
§ 32. (1) Natürlichen und juristischen Personen sowie Personengesellschaften des Handelsrechtes ist wegen der durch die Behinderung ihres Erwerbes entstandenen Vermögensnachteile dann eine Vergütung zu leisten, wenn und soweit
1.sie gemäß §§ 7 oder 17 abgesondert worden sind, [...] .
und dadurch ein Verdienstentgang eingetreten ist.
(2) Die Vergütung ist für jeden Tag zu leisten, der von der in Abs. 1 genannten behördlichen Verfügung umfaßt ist.
(3) Die Vergütung für Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, ist nach dem regelmäßigen Entgelt im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes, BGBl. Nr. 399/1974, zu bemessen. Die Arbeitgeber haben ihnen den gebührenden Vergütungsbetrag an den für die Zahlung des Entgelts im Betrieb üblichen Terminen auszuzahlen. Der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund geht mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber über. Der für die Zeit der Erwerbsbehinderung vom Arbeitgeber zu entrichtende Dienstgeberanteil in der gesetzlichen Sozialversicherung und der Zuschlag gemäß § 21 des Bauarbeiterurlaubsgesetzes 1972, BGBl. Nr. 414, ist vom Bund zu ersetzen.
[...]“
10 Nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 1 Z 1 EpiG stellt der Anspruch auf Vergütung für den Verdienstentgang auf Absonderungsmaßnahmen ab, die „gemäß §§ 7 oder 17“ EpiG verhängt wurden, was dahin verstanden werden könnte, dass damit nur von inländischen Behörden nach diesen Bestimmungen des (österreichischen) EpiG verhängte Absonderungsmaßnahmen Grundlage für eine Vergütung sein können. Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Erkenntnissen dieses Verständnis zugrundegelegt und die Anträge der revisionswerbenden Partei daher schon aus diesem Grund - weil keine Absonderungsmaßnahmen einer inländischen Behörde nach den §§ 7 oder 17 EpiG vorlagen - abgewiesen. Feststellungen zu den von der revisionswerbenden Partei vorgelegten Bestätigungen der slowenischen bzw. ungarischen Behörden wurden dabei nicht getroffen.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom dem Gerichtshof der europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Handelt es sich bei einem Vergütungsbetrag, der Arbeitnehmern während ihrer Absonderung als an COVID-19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen für die durch die Behinderung ihres Erwerbs entstandenen Vermögensnachteile gebührt, und der zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist, wobei der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber übergeht, um eine Leistung bei Krankheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit?
Im Fall der Verneinung der ersten Frage:
2. Sind Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Vergütung für den Verdienstentgang, der Arbeitnehmern aufgrund einer gesundheitsbehördlich verfügten Absonderung wegen eines positiven COVID-19-Testergebnisses entsteht (wobei die Vergütung zunächst vom Arbeitgeber den Arbeitnehmern auszuzahlen ist und insoweit ein Ersatzanspruch gegen den Bund auf den Arbeitgeber übergeht), davon abhängig ist, dass die Absonderung durch eine inländische Behörde aufgrund nationaler epidemierechtlicher Vorschriften verfügt wird, sodass eine derartige Vergütung für Arbeitnehmer, die als Grenzgänger ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben und deren Absonderung (‚Quarantäne‘) durch die Gesundheitsbehörde ihres Wohnsitzstaats verfügt wird, nicht geleistet wird?“
12 Mit Urteil vom , C-411/22, Thermalhotel Fontana, hat der EuGH diese Fragen folgendermaßen beantwortet:
„1. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
ist dahin auszulegen, dass
die staatlich finanzierte Vergütung, die Arbeitnehmern für die durch die Behinderung ihres Erwerbs entstandenen Vermögensnachteile während ihrer Absonderung als an Covid‑19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen gewährt wird, keine ‚Leistung bei Krankheit‘ im Sinne dieser Bestimmung darstellt und daher nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.
2. Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Vergütung für den Verdienstentgang, der den Arbeitnehmern aufgrund einer wegen eines positiven Covid-19-Testergebnisses verfügten Absonderung entsteht, davon abhängt, dass die Anordnung der Absonderungsmaßnahme durch eine Behörde dieses Mitgliedstaats aufgrund dieser Regelung verfügt wird.“
13 Jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ des Mitgliedstaates ist verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen. Ist es nicht möglich, die volle Wirksamkeit des Unionsrechtes im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts sicherzustellen, so hat ein innerstaatliches Gericht für die volle Wirksamkeit dieser unionsrechtlichen Normen im Wege des Anwendungsvorrangs Sorge zu tragen, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt. Ausgehend davon trifft die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden insbesondere die Verpflichtung, im Anwendungsbereich des Unionsrechts die einschlägigen Rechtsvorschriften der Union zu identifizieren und deren Sinn auch anhand der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Union, insbesondere des EuGH, der letztlich zur Auslegung der Rechtsvorschriften der Europäischen Union zuständig ist (vgl. Art. 267 AEUV), zu erfassen. Auf dieser Grundlage ist der Inhalt der österreichischen Rechtsvorschriften zu klären, die damit im Zusammenhang stehen (vgl. ).
14 Vor dem Hintergrund des in dieser Sache ergangenen Urteils des EuGH verbietet sich eine Auslegung des § 32 Abs. 1 Z 1 EpiG, nach der zwingende Voraussetzung einer Vergütung für Verdienstentgang nach dieser Bestimmung jedenfalls eine „gemäß §§ 7 oder 17“ EpiG verfügte Absonderung durch eine österreichische Behörde ist. Vielmehr sind für Zwecke der Vergütung des Verdienstentganges auch Absonderungsmaßnahmen zu berücksichtigen, die von Behörden eines anderen Mitgliedstaates verhängt wurden und angesichts ihrer Zielsetzung, ihrer Art und ihren Auswirkungen den nach den §§ 7 und 17 EpiG verfügten Absonderungsmaßnahmen vergleichbar sind.
15 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher schon aus diesem Grunde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
17 Das Verwaltungsgericht wird in den fortzusetzenden Verfahren konkrete Feststellungen zu den von der revisionswerbenden Partei unter Vorlage entsprechender Dokumente behaupteten Absonderungsmaßnahmen der slowenischen bzw. ungarischen Behörden zu treffen haben. Zudem ist auch festzustellen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe in den hier gegenständlichen Fällen dem jeweils Vergütungsberechtigten Vergütungen nach den slowenischen bzw. ungarischen Rechtsvorschriften zukommen (vgl. § 32 Abs. 5 EpiG), um eine Überkompensierung auszuschließen (vgl. Rn. 47 des zitierten EuGH-Urteils).
Wien, am
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Normen | EpidemieG 1950 §17 EpidemieG 1950 §32 Abs1 Z1 EpidemieG 1950 §32 Abs3 EpidemieG 1950 §7 12010E045 AEUV Art45 12010E267 AEUV Art267 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art3 Abs1 lita 32011R0492 Freizügigkeit Arbeitnehmer Art7 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021030098.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
GAAAF-45448