VwGH 06.04.2021, Ra 2021/02/0018
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | |
RS 1 | In einer Beschwerde aufgeworfene Rechtsfragen, die nicht bloß beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität sind, können die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfordern (vgl. , und die dort dargestellte Judikatur des EGMR). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2016/06/0053 E RS 3 |
Normen | BaSAG 2015 §123 BaSAG 2015 §125 BaSAG 2015 §126 EURallg 32013R0231 AIFMErgV 32014R0806 Bankenabwicklungsmechanismus einheitlicher |
RS 2 | Das VwG hat die Verordnung (EU) Nr. 231/2013 angewendet. Die Bezug habenden Bestimmungen des Sanierungs- und AbwicklungsG 2017 dienen z.B. dem "Wirksamwerden" der Verordnung (EU) Nr. 806/2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) 1093/2010, ABl. Nr. L 225 vom (vgl. näher Art. I "Umsetzungshinweis" des Sanierungs und AbwicklungsG 2017). Das Sanierungs- und AbwicklungsG 2017 ist daher unionsrechtskonform auszulegen. |
Normen | BaSAG 2015 MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z3 litc VwGVG 2014 §24 12007P/TXT Grundrechte Charta Art47 12007P/TXT Grundrechte Charta Art51 Abs1 |
RS 3 | Betrifft ein Fall Angelegenheiten der "Durchführung des Rechts der Union" iSd Art. 51 Abs. 1 GRC kommen folglich schon deshalb die in Art. 47 GRC festgelegten Garantien, die inhaltlich jenen des Art. 6 MRK entsprechen (vgl. , mwN), zum Tragen. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2018/03/0081 E RS 8 |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und den Hofrat Mag. Dr. Köller sowie die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision der H AG in B, vertreten durch die Eisenberger Rechtsanwälte GmbH in 8020 Graz, Schloßstraße 25, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W158 2135043-1/10E, betreffend Vorschreibung von Beiträgen für den Abwicklungsfinanzierungsmechanismus für das Jahr 2015 gemäß BaSAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Finanzmarktaufsichtsbehörde), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 1.1. Mit Mandatsbescheid der belangten Behörde vom wurde der revisionswerbenden Partei, einem Bankinstitut, u.a. gemäß §§ 123, 125 und 126 Sanierungs- und Abwicklungsgesetz (BaSAG), der Delegierten Verordnung (EU) 2015/63 der Kommission vom zur Ergänzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf im Voraus erhobene Beiträge zu Abwicklungsmechanismen, ABl. 2014 L 11/44 (DelVO) und der Beitragsparameterverordnung (BeiPaV), BGBl. II 341/2015, ein Beitrag zum Abwicklungsmechanismus für das Jahr 2015 in Höhe von ca. € 5,9 Millionen vorgeschrieben.
2 1.2. Aufgrund der von der revisionswerbenden Partei erhobenen Vorstellung leitete die belangte Behörde das Ermittlungsverfahren gemäß § 57 Abs. 3 AVG ein und wies im weiteren Verlauf mit Vorstellungsbescheid vom die Vorstellung ab.
3 2.1. Die von der revisionswerbenden Partei gegen diesen Vorstellungsbescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung der von der revisionswerbenden Partei in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.
4 2.2. Das BVwG traf Feststellungen zu von der revisionswerbenden Partei im Rahmen des aufsichtlichen Meldewesens gemeldeten sowie von der revisionswerbenden Partei im Rahmen der Datenerhebung beigebrachten Daten, zum Gesamtbetrag aller 605 beitragspflichtigen Institute, der Summe der Verbindlichkeiten der revisionswerbenden Partei minus Eigenmittel und gedeckter Einlagen und der Summe der Vermögenswerte. Beweiswürdigend führte das BVwG aus, die Feststellungen ergäben sich aus dem unbedenklichen Akteninhalt.
5 2.3. In der rechtlichen Würdigung setzte sich das BVwG mit der Frage des anwendbaren Rechts auseinander und führte aus, aufgrund der Zeitraumbezogenheit der Beitragsvorschreibung sei das BaSAG in der Fassung BGBl. I Nr. 159/2015 anzuwenden. Die Erlassung eines Mandatsbescheides sei aus näher angeführten Gründen zulässig gewesen. Die BeiPaV sei nicht gesetzwidrig. Die belangte Behörde habe zwar Art. 7 Abs. 4 letzter Satz DelVO unangewendet gelassen und mangels Vorliegen einiger Risikoindikatoren bzw. Risikofelder eine Neuskalierung der übrig gebliebenen Risikofelder bzw. Risikoindikatoren vorgenommen. Ob ein derartiges Vorgehen zulässig sei, sei anhand der Ziele und Zwecke der DelVO zu beurteilen; aus näheren Gründen sei die Ansicht der revisionswerbenden Partei nicht zutreffend. Der Vorwurf der mangelnden Transparenz der Berechnungsgrundlagen treffe nicht zu, weil die von der revisionswerbenden Partei gewünschten Daten der unionsrechtlichen Geheimhaltungspflicht unterlägen. Der Beitrag der revisionswerbenden Partei berechne sich nach einem näher dargestellten Verfahren.
6 2.4. Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung führte das BVwG aus, die Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG entfallen können, weil lediglich Rechtsfragen zu klären gewesen seien und der Sachverhalt „weitestgehend“ unstrittig gewesen sei, sodass trotz Antrags keine Verhandlungspflicht bestanden habe.
7 3.1. Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes bzw. Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.
8 3.2. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurück- in eventu die Abweisung der Revision unter Zuspruch von Aufwandersatz. Zur Frage der Verhandlungspflicht wird ausgeführt, es seien keine Tatfragen strittig gewesen; die Frage der Beitragsberechnung sei „hochtechnisch“ und nicht „komplex“. Eine Erweiterung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes sei durch die von der revisionswerbenden Partei zitierten Entscheidung des Gerichtes der Europäischen Union (EuG) nicht eingetreten.
9 4. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
10 4.1. Die Revision erweist sich bereits mit ihrem Vorbringen, das angefochtene Erkenntnis weiche aufgrund der Unterlassung der beantragten mündlichen Verhandlung von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, als zulässig. Sie ist auch begründet:
11 4.2.1. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) entgegenstehen. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird (vgl. , mwN).
12 4.2.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat (unter Bezugnahme auf die Judikatur des EGMR zu Art. 6 EMRK) bereits ausgesprochen, dass in einer Beschwerde aufgeworfene Rechtsfragen, die nicht bloß beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität sind, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfordern können (vgl. , mwN).
13 4.2.3. In Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG hielt der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt fest, dass der Gesetzgeber als Zweck einer mündlichen Verhandlung die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus auch die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Gericht vor Augen hatte. Zweck einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist grundsätzlich nicht nur die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör zu diesem, sondern auch das Rechtsgespräch und die Erörterung der Rechtsfragen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang auf das Urteil des EGMR vom im Fall Jacobsson gegen Schweden (Nr. 2), Nr. 8/1997/792/993, Rn. 49 (ÖJZ 1998, 4), hingewiesen, in welchem der Entfall einer mündlichen Verhandlung als gerechtfertigt angesehen wurde, weil angesichts der Beweislage vor dem Gerichtshof und angesichts der Beschränktheit der zu entscheidenden Fragen „das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht geeignet war, irgendeine Tatsachen- oder Rechtsfrage aufzuwerfen, die eine mündliche Verhandlung erforderlich machte“. Der Verwaltungsgerichtshof hat in solchen Fällen eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt geklärt ist und die Rechtsfragen durch die bisherige Rechtsprechung beantwortet sind und in der Beschwerde keine Rechts- oder Tatfragen von einer solchen Art aufgeworfen wurden, deren Lösung eine mündliche Verhandlung erfordert hätte (vgl. ).
14 4.3. Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG auf Antrag eine mündliche Verhandlung durchzuführen hat, welche der Erörterung der Sach- und Rechtslage sowie der Erhebung der Beweise dient. Als Ausnahme von dieser Regel kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Antrages gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt. Bei konkretem sachverhaltsbezogenem Vorbringen des Revisionswerbers ist eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. näher , mwN).
15 4.4. Der vorliegende Fall betrifft unzweifelhaft Angelegenheiten der „Durchführung des Rechts der Union“ iSd Art. 51 Abs. 1 GRC, hat das BVwG doch die DelVO angewendet und „dienen“ die Bezug habenden Bestimmungen des BaSAG z.B. dem „Wirksamwerden“ der Verordnung (EU) Nr. 806/2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) 1093/2010, ABl. Nr. L 225 vom (vgl. näher Art. I „Umsetzungshinweis“ des BaSAG). Das BaSAG ist daher unionsrechtskonform auszulegen. Folglich kommen schon deshalb die in Art. 47 GRC festgelegten Garantien, die sich inhaltlich an Art. 6 und Art. 13 EMRK orientieren, zum Tragen (vgl. erneut , mwN).
16 In der Sache ging es im Wesentlichen um die Frage, ob die der revisionswerbenden Partei vorgeschriebenen Beiträge rechtskonform vorgeschrieben wurden. Dabei hatte die revisionswerbende Partei in ihrer Beschwerde gegen die verwaltungsbehördliche Entscheidung sowie in ihrer Äußerung zu einer Stellungnahme der FMA u.a. damit argumentiert, dass die Beitragsberechnung für sie mangels Bekanntgabe der notwendigen Daten nicht nachvollziehbar sei; überdies sei die Beitragsvorschreibung aus näheren Gründen nicht im Einklang mit der DelVO ergangen. Das BVwG traf in der Folge Feststellungen zu den von der revisionswerbenden Partei selbst gemeldeten Parametern; setzte sich jedoch in der Folge bei seiner rechtlichen Beurteilung u.a. nicht mit dem Urteil des EuG vom , T 414/17, auseinander, welches hinsichtlich einer vergleichbaren Beitragsvorschreibung (auf europäischer Ebene) zum Schluss gekommen war, dass die Pflicht zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen nicht so extensiv ausgelegt werden könne, dass dadurch das Begründungserfordernis ausgehöhlt würde.
17 4.5. Die Frage, inwiefern einer Partei Akteneinsicht zu gewähren ist und sie die ihr vorgeschriebenen Beiträge nachvollziehen können muss, ist eine wesentliche Rechtsfrage, die nicht bloß hochtechnischer Natur ist. Schon im Hinblick darauf ist die Sichtweise des BVwG, in der Beschwerde seien keine Rechts- oder Tatfragen aufgeworfen worden, die eine mündliche Verhandlung erfordert hätten, nicht nachvollziehbar.
18 5.1. Die Voraussetzungen für das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG lagen vielmehr fallbezogen nicht vor.
19 5.2. Bei Missachtung der Verhandlungspflicht im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. , mwN).
20 6.1. Das angefochtene Erkenntnis war daher bereits wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.
21 6.2. Von der Durchführung der vor dem Verwaltungsgerichtshof beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
22 6.3. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Normen | BaSAG 2015 BaSAG 2015 §123 BaSAG 2015 §125 BaSAG 2015 §126 EURallg MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z3 litc VwGVG 2014 §24 VwGVG 2014 §24 Abs4 12007P/TXT Grundrechte Charta Art47 12007P/TXT Grundrechte Charta Art51 Abs1 32013R0231 AIFMErgV 32014R0806 Bankenabwicklungsmechanismus einheitlicher |
Schlagworte | Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Verfahrensbestimmungen Berufungsbehörde |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021020018.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
LAAAF-45416