VwGH 26.01.2023, Ra 2021/01/0026
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Norm | PaßG 1992 §14 Abs1 Z3 lita |
RS 1 | Die Passversagung gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 setzt unter anderem eine wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung, die mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, eingeleitete Strafverfolgung voraus. Die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Vorwürfe, die der eingeleiteten Strafverfolgung zugrunde liegen, ist als solche weder Tatbestandserfordernis dieses Passversagungsgrundes, noch ist die Passbehörde oder das VwG (sondern vielmehr das Strafgericht) zu einer entsprechenden inhaltlichen Prüfung berufen (vgl. zur Entziehung eines Konventionsreisepasses gemäß § 94 Abs. 5 iVm § 93 Abs. 1 Z 1 FrPolG 2005 , Rn. 9). |
Norm | |
RS 2 | § 4 Abs. 2 FinStrG stellt nur auf die Änderung strafrechtlicher Vorschriften ab (vgl. , mwN). |
Normen | |
RS 3 | Nach dem mit der FinStrG-Novelle 2010, BGBl. I Nr. 104, eingefügten Abs. 1p des § 265 FinStrG war (unter anderem) § 38 FinStrG in der bis dahin geltenden Fassung BGBl. I Nr. 103/2005 auf vor dem Inkrafttreten jener Novelle () begangene Finanzvergehen weiterhin anzuwenden. Solcherart wurde für den Regelungsbereich des § 38 FinStrG das Tatzeitrecht ex lege zum Urteilszeitrecht erklärt, womit der gemäß § 4 Abs. 2 FinStrG anzustellende Günstigkeitsvergleich diesbezüglich stets zur Anwendung des Tatzeitrechts führt (vgl. ; , 13 Os 4/17p). |
Normen | EURallg PaßG 1992 §14 Abs1 Z3 PaßG 1992 §15 Abs1 12010E021 AEUV Art21 32004L0038 Unionsbürger-RL 62010CJ0430 Hristo Gaydarov VORAB |
RS 4 | Sowohl durch die Verweigerung der Ausstellung eines Reisepasses gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 PassG 1992 als auch durch die Entziehung des Reisepasses wird das unionsrechtlich zustehende Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt. Im Hinblick auf die Ausführungen des EuGH in seinem Urteil vom in der Rs. C-430/10, Gaydarov, muss eine Auseinandersetzung damit erfolgen, inwieweit vom Betroffenen immer noch eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr im Sinne der Vorgaben der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ausgehe. Bloß allgemeine Aussagen hinsichtlich des Erfahrungswissens ohne das Anführen konkreter Tatsachen, auf welche die Annahme nach § 14 Abs. 1 Z 3 PassG 1992 gestützt wird, werden diesen Anforderungen an die Prognose nicht gerecht (vgl. , Rn. 9, mwN). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, über die Revision der E S in J, vertreten durch Mag. Irene Krizan, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Am Heumarkt 9/1/11, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW-103/040/11612/2017-20, betreffend Versagung der Ausstellung eines Reisepasses und Entziehung eines Reisepasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Pretoria), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom versagte die Österreichische Botschaft Pretoria (belangte Behörde) der Revisionswerberin gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b Passgesetz 1992 (im Folgenden: PassG 1992) die Ausstellung des am beantragten Reisepasses mit einer Gültigkeitsdauer von zehn Jahren und entzog der Revisionswerberin gemäß § 15 Abs. 1 iVm § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992 den als verloren gemeldeten und bis zum gültigen Reisepass.
2 Begründend führte die belangte Behörde aus, dass gegen die Revisionswerberin beim Landesgericht Korneuburg seit 2007 ein Strafverfahren wegen § 35 Abs. 1 lit. a und § 38 Abs. 1 Finanzstrafgesetz (FinStrG) (Schmuggel und Hinterziehung von Eingangs- oder Ausgangsabgaben) anhängig sei und die Staatsanwaltschaft Korneuburg eine Anklage erhoben habe. Darin werde der Revisionswerberin vorgeworfen, im Zeitraum vom bis Mitte Oktober 2006 in Schwechat gewerbsmäßig eingangsabgabenpflichtige Waren, nämlich 1.109 Stück an diversen Schmuckgegenständen und 40 Stück an diversen Lederwaren, jeweils in Südafrika gefertigt, worauf insgesamt € 80.507,58 (davon an Zoll € 8.465,48 und an Einfuhrumsatzsteuer € 72.042,10) an Eingangsabgaben entfallen wären, vorschriftswidrig in einer noch festzustellenden Anzahl an Angriffen in das Zollgebiet der Europäischen Union verbracht zu haben, indem die Revisionswerberin jeweils von Südafrika kommend via Dubai oder Zürich am Flughafen Schwechat nach Österreich eingereist sei und bei der Einreise am Flughafen den „Grünkanal“ benützt habe, ohne diese Waren zu gestellen. Anschließend habe die Revisionswerberin, die in J, Südafrika, einen Schmuckhandel betreibe, die eingeführten Waren im angenommenen Tatzeitraum bei verschiedenen Gelegenheiten an diverse Kunden verkauft. Die Revisionswerberin habe es zumindest ernstlich für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, die Deklarationspflicht zu verletzen und die Waren dem Zollverfahren zu entziehen, um sich durch die immer wieder und in der dargestellten Anzahl der Fälle verübten Tathandlungen ein fortlaufendes, nicht unerhebliches Einkommen zu verschaffen. Der strafbestimmende „Wertbetrag“ betrage laut dem Berechnungsblatt des Zollamtes Wien € 80.507,58, womit die Strafhöchstgrenze gemäß § 35 Abs. 4 und § 38 FinStrG bei € 241.522,74 liege. Wegen der schriftlichen Mitteilung der Revisionswerberin, nicht zu der für anberaumten Hauptverhandlung zu erscheinen, sei die Hauptverhandlung abberaumt worden. Die Revisionswerberin habe zwischenzeitig keine Schritte zur Bereinigung dieses Strafverfahrens unternommen.
Auf Grund der nach wie vor bestehenden beruflichen Tätigkeit der Revisionswerberin und ihres damit einhergehenden, unveränderten beruflichen Umfeldes (Anfertigung und Verkauf von Schmuck aus Südafrika), der nach wie vor bestehenden Nahebeziehung zu Österreich (Nebenwohnsitz in W) sowie des der Revisionswerberin von der Staatsanwaltschaft vorgeworfenen langjährigen Tatbegehungszeitraumes sei von einer Wiederholungsgefahr und somit einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr auszugehen. In ihren schriftlichen Stellungnahmen habe die Revisionswerberin keine Argumente vorgebracht, welche die Gründe für eine Passversagung entkräften hätten können.
Die Revisionswerberin verfüge über einen südafrikanischen Personalausweis für Nicht-Staatsbürger, der ihr den Aufenthalt sowie die Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit in Südafrika, wo sie ihren Lebensmittelpunkt habe, erlaube. Lediglich Reisen ins Ausland wären ohne Reisepass eingeschränkt. Der Schmuckhandel der Revisionswerberin mit Filialen in J und K mache eine Überschreitung der Grenzen Südafrikas nicht unbedingt notwendig. Die Passversagung verletze somit keine berücksichtigungswürdigen persönlichen und wirtschaftlichen Interessen der Revisionswerberin und sei insofern verhältnismäßig, zumal die Revisionswerberin mehrmals darauf hingewiesen worden sei, dass für den Fall der Versagung eines Reisepasses mit zehnjähriger Gültigkeit die Möglichkeit der Ausstellung eines Reisepasses gemäß § 4a Abs. 1 Z 3 PassG 1992 („Notpass“) für die Einreise in das Bundesgebiet bestehe und eine Rückkehr nach Österreich jederzeit möglich sei.
3 Die dagegen von der Revisionswerberin erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und sprach aus, dass eine ordentliche Revision nicht zulässig sei.
4 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung folgende Feststellungen zugrunde:
Die Revisionswerberin sei österreichische Staatsbürgerin und lebe in Südafrika. Beim Landesgericht Korneuburg werde gegen sie ein Strafverfahren wegen Schmuggel und Hinterziehung von Eingangs- und Ausgangsabgaben (§ 35 FinStrG) geführt. Aufgrund der Abwesenheit der Revisionswerberin sei das Strafverfahren abgebrochen worden. Mit sei die Revisionswerberin zum wiederholten Male zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben worden. Sie sei nicht bereit, sich in Österreich dem Strafverfahren zu stellen.
5 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, dass es neben dem von der belangten Behörde angenommenen Versagungsgrund des § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992 auch den Versagungsgrund des § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 heranziehe.
Die Revisionswerberin sei in Kenntnis des gegen sie anhängigen Strafverfahrens, das sich auf gerichtlich strafbare Handlungen beziehe, die mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe, und zwar gemäß § 35 Abs. 4 FinStrG mit bis zu vier Jahren, bedroht seien. Sie sei nicht bereit, sich in Österreich diesem Verfahren zu stellen. Da ihr jahrelanger Aufenthalt im Ausland die Annahme rechtfertige, dass sie ihren (neuen) Reisepass benützen wolle, um sich der gegen sie eingeleiteten Strafverfolgung im Inland zu entziehen, sei ihr die Ausstellung eines Reisepasses gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 zu versagen.
Zudem habe die belangte Behörde nachvollziehbar ausgeführt, dass auf Grund des aktuell angelasteten Vorwurfs des Schmuggels und der nach eigenen Ausführungen finanziell angespannten Situation der Revisionswerberin mit einer neuerlichen Zollzuwiderhandlung zu rechnen sei. Durch die Versagung eines Reisepasses könne solchen Vergehen entgegengewirkt werden. Es liege somit auch der Versagungsgrund des § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992 vor.
Unter Hinweis auf näher dargestellte Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) sowie des Verwaltungsgerichtshofes lägen auch nach den unionsrechtlichen Vorgaben die Voraussetzungen für eine Reisepassversagung vor. Da der Revisionswerberin „die angelastete Straftat nach § 35 Finanzstrafgesetz seit langem nachweislich bekannt“ sei und sie sich der Strafverfolgung durch fortdauernden Verbleib im Ausland entziehe, sei die Annahme gerechtfertigt, dass von ihr eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefährdung im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG ausgehe.
Der Reisepassversagung stehe auch Art. 8 EMRK nicht entgegen, weil die Revisionswerberin dazu keine Angaben gemacht habe, die eine solche Annahme rechtfertigen würde.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
7 Die belangte Behörde erstattete nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
8 Die Revision ist betreffend die im Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Rechtsfragen,
das Verwaltungsgericht sei „im Rahmen der inhaltlichen Prüfung der Zulässigkeit der Passversagung respektive der (in Ansätzen) vorgenommenen Gefährdungs- bzw. Zukunftsprognose“ von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem das Verwaltungsgericht sich nicht hinreichend damit auseinandergesetzt habe, inwieweit von der Revisionswerberin - insbesondere im Hinblick auf die letzte ihr zur Last gelegte Tathandlung von Mitte Oktober 2006 - eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit iSd Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG ausgehe;
das Verwaltungsgericht habe der Gefährdungsprognose und Annahme, die Revisionswerberin werde infolge der Ausstellung eines Reisepasses weitere Zollzuwiderhandlungen begehen (§ 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992) oder sich dem gegen sie anhängigen Strafverfahren tatsächlich und dauerhaft entziehen (§ 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992), entgegen näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ausschließlich allgemein gehaltene Aussagen und vermeintliche Erfahrungswerte zugrunde gelegt, ohne die Dauer des Wohlverhaltens und die persönlichen Verhältnisse und Lebensumstände der Revisionswerberin hinreichend zu berücksichtigen;
das Verwaltungsgericht habe entgegen näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 VwGVG keine mündliche Verhandlung durchgeführt;
zulässig und berechtigt.
Rechtslage
9 § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a und b PassG 1992, BGBl. Nr. 839 idF BGBl. I Nr. 6/2009, sowie § 15 Abs. 1 PassG 1992, BGBl. Nr. 839 idF BGBl. I Nr. 60/2012, lauten:
„Paßversagung
§ 14. (1) Die Ausstellung, die Erweiterung des Geltungsbereiches und die Änderung eines Reisepasses sind zu versagen, wenn
...
3. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß der Paßwerber den Reisepaß benützen will, um
a) sich einer wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung, die mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, eingeleiteten Strafverfolgung oder Strafvollstreckung im Inland zu entziehen,
b) gerichtlich strafbare Zollzuwiderhandlungen zu begehen,
...
Paßentziehung
§ 15. (1) Ein Reisepaß, dessen Gültigkeitsdauer nicht länger als fünf Jahre abgelaufen ist, ist zu entziehen, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden oder eintreten, die die Versagung der Ausstellung des Reisepasses rechtfertigen.“
10 § 35 Abs. 4 und § 38 Abs. 1 FinStrG, BGBl. Nr. 129/1958, in den jeweils während des der Revisionswerberin in der Anklage der Staatsanwaltschaft Korneuburg zur Last gelegten Tatzeitraumes vom bis Mitte Oktober 2006 geltenden Fassungen lauteten auszugsweise, und zwar:
§ 35 Abs. 4 FinStrG in der vom bis 12. Jänner1999 in Kraft gewesenen Fassung BGBl. Nr. 421/1996:
„Schmuggel und Hinterziehung von Eingangs- oder Ausgangsabgaben.
§ 35. ...
(4) ... Neben der Geldstrafe ist nach Maßgabe des § 15 auf Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu erkennen. ...“
§ 35 Abs. 4 FinStrG in der vom bis in Kraft gewesenen Fassung BGBl. I Nr. 28/1999:
„Schmuggel und Hinterziehung von Eingangs- oder Ausgangsabgaben.
§ 35. ...
(4) ... Neben der Geldstrafe ist nach Maßgabe des § 15 auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu erkennen. ...“
§ 38 Abs. 1 FinStrG in der vom bis in Kraft gewesenen Fassung BGBl. Nr. 681/1994:
„Strafe bei Vorliegen erschwerender Umstände.
§ 38. (1) Mit Geldstrafe bis zum Vierfachen des Betrages, ...
Daneben ist nach Maßgabe des § 15 auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu erkennen. ...“
§ 38 Abs. 1 FinStrG in der vom bis in Kraft gewesenen Fassung BGBl. I Nr. 28/1999:
„Strafe bei Vorliegen erschwerender Umstände.
§ 38. (1) Mit Geldstrafe bis zum Dreifachen des Betrages, ...
Daneben ist nach Maßgabe des § 15 auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu erkennen. ...“
§ 38 Abs. 1 FinStrG in der vom bis in Kraft gewesenen Fassung BGBl. I Nr. 57/2004:
„Strafe bei Vorliegen erschwerender Umstände.
§ 38. (1) Mit Geldstrafe bis zum Dreifachen des Betrages, ...
Daneben ist nach Maßgabe des § 15 auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, beträgt der strafbestimmende Wertbetrag jedoch mehr als 500.000 Euro, auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu erkennen. ...“
§ 38 Abs. 1 FinStrG in der vom bis in Kraft gewesenen Fassung BGBl. I Nr. 103/2005:
„Strafe bei Vorliegen erschwerender Umstände.
§ 38. (1) Mit Geldstrafe bis zum Dreifachen des Betrages, ...
Daneben ist nach Maßgabe des § 15 auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, bei einem strafbestimmenden Wertbetrag von mehr als 500 000 Euro auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren und bei einem strafbestimmenden Wertbetrag von mehr als drei Millionen Euro auf Freiheitsstrafe bis zu sieben Jahren zu erkennen. ...“
Passversagung gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992
11 Die Revision bringt zum Passversagungsgrund des § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 vor, das Verwaltungsgericht habe diesen Versagungsgrund entgegen dem eindeutigen und klaren Wortlaut des § 15 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 bejaht, obwohl sich „das (einzige) gegen die Revisionswerberin anhängige Strafverfahren“ auf eine gerichtlich strafbare Handlung beziehe, die im Zeitpunkt der letzten Tatbegehungshandlung gemäß § 35 Abs. 1 lit. a iVm § 38 Abs. 1 FinStrG, BGBl. Nr. 129/1958 idF BGBl. I Nr. 99/2006, primär mit Geldstrafe und ausschließlich nach Maßgabe des § 14 Abs. 2 leg. cit. (bei spezial- oder generalpräventiver Notwendigkeit) zusätzlich mit einer Freiheitsstrafe von höchstens drei Jahren bedroht gewesen sei.
12 Die Passversagung gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 setzt unter anderem eine wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung, die mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist, eingeleitete Strafverfolgung voraus.
13 Die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Vorwürfe, die der eingeleiteten Strafverfolgung zugrunde liegen, ist als solche weder Tatbestandserfordernis dieses Passversagungsgrundes, noch ist die Passbehörde oder das Verwaltungsgericht (sondern vielmehr das Strafgericht) zu einer entsprechenden inhaltlichen Prüfung berufen (vgl. zur Entziehung eines Konventionsreisepasses gemäß § 94 Abs. 5 iVm § 93 Abs. 1 Z 1 FPG , Rn. 9).
14 Vorliegend ist gegen die Revisionswerberin ein gerichtliches Strafverfahren wegen § 35 Abs. 1 lit. a und § 38 Abs. 1 FinStrG anhängig. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass die der Revisionswerberin zur Last gelegte, gerichtlich strafbare Handlung gemäß § 35 Abs. 4 FinStrG mit bis zu vier Jahren Freiheitsstrafe bedroht sei. Dabei legte das Verwaltungsgericht die zum Entscheidungszeitpunkt gemäß § 35 Abs. 4 dritter Satz zweiter Fall FinStrG idF BGBl. I Nr. 62/2019 geltende Rechtslage zugrunde. Im Gegensatz dazu sind die der Revisionswerberin in der Anklage der Staatsanwaltschaft für den Tatzeitraum bis Mitte 2006 zur Last gelegten strafbaren Handlungen nach § 35 Abs. 1 lit. a und § 38 Abs. 1 FinStrG in den jeweils im Tatzeitraum geltenden Fassungen und unter Bedachtnahme auf einen strafbestimmenden Wertbetrag von nicht mehr als € 500.000,-- nicht mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht.
15 Gemäß § 4 Abs. 2 FinStrG richtet sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung des Gerichtes erster Instanz oder der Finanzstrafbehörde geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre. Diese Bestimmung stellt nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Obersten Gerichtshofes als auch des Verwaltungsgerichtshofes nur auf die Änderung strafrechtlicher Vorschriften ab (vgl. , mwN).
16 Nach dem mit der FinStrG-Novelle 2010, BGBl. I Nr. 104, eingefügten Abs. 1p des § 265 FinStrG war (unter anderem) § 38 FinStrG in der bis dahin geltenden Fassung BGBl. I Nr. 103/2005 auf vor dem Inkrafttreten jener Novelle () begangene Finanzvergehen weiterhin anzuwenden. Solcherart wurde für den Regelungsbereich des § 38 FinStrG das Tatzeitrecht ex lege zum Urteilszeitrecht erklärt, womit der gemäß § 4 Abs. 2 FinStrG anzustellende Günstigkeitsvergleich diesbezüglich stets zur Anwendung des Tatzeitrechts führt (vgl. ; , 13 Os 4/17p).
17 Demnach ist vorliegend für die Beurteilung des Versagungsgrundes des § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 nicht von der im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts für die der Revisionswerberin in der Anklage zur Last gelegten strafbaren Handlung geltende Strafdrohung, sondern vom Tatzeitrecht auszugehen.
18 Da die der Revisionswerberin zur Last gelegten strafbaren Handlungen gemäß dem maßgeblichen Tatzeitrecht nicht mit mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, war eine Passversagung gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 bereits deswegen nicht zulässig.
19 Insofern belastete das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechswidrigkeit.
Passversagung gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992
20 § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992 setzt die aus näher festzustellenden Tatsachen abzuleitende Annahme voraus, dass der Passwerber den Reisepass benützen will, um gerichtlich strafbare Zollzuwiderhandlungen zu begehen. Eine solche Annahme stellt eine einzelfallbezogene Beurteilung dar, die im Allgemeinen - sofern sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. zur einzelfallbezogenen Beurteilung der gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. a PassG 1992 vorzunehmenden Prognose , Rn. 8, mwN; sowie zur einzelfallbezogenen Beurteilung der gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. f PassG 1992 vorzunehmenden Gefährdungsprognose , Rn. 8, mwN).
21 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wird sowohl durch die Verweigerung der Ausstellung eines Reisepasses gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 PassG 1992 als auch durch die Entziehung des Reisepasses das unionsrechtlich zustehende Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt. Im Hinblick auf die Ausführungen des EuGH in seinem Urteil vom in der Rs. C-430/10, Gaydarov, muss eine Auseinandersetzung damit erfolgen, inwieweit vom Betroffenen immer noch eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr im Sinne der Vorgaben der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ausgehe. Bloß allgemeine Aussagen hinsichtlich des Erfahrungswissens ohne das Anführen konkreter Tatsachen, auf welche die Annahme nach § 14 Abs. 1 Z 3 PassG 1992 gestützt wird, werden diesen Anforderungen an die Prognose nicht gerecht (vgl. , Rn. 9, mwN). Außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Solche Maßnahmen sind nur gerechtfertigt, wenn dafür ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend ist; vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Strafrechtliche Verurteilungen allein können die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen (vgl. , Rn. 8; , 2009/18/0094, jeweils mwN).
22 Der weiters klargestellt, dass die beschränkende Maßnahme geeignet sein muss, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. In den Ausführungen in Rn. 40 dieses Urteils präzisiert der EuGH dies dahingehend, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss (vgl. VwGH Ra 2017/22/0127, Rn. 9; , 2009/18/0168).
23 Das Verwaltungsgericht stützte seine Prognose gemäß § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992 lediglich auf den der Revisionswerberin angelasteten Vorwurf des Schmuggels und ihre nach eigenen Ausführungen finanziell angespannte Situation sowie die Annahme einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr iS der Richtlinie 2004/38/EG darauf, dass der Revisionswerberin „die angelastete Straftat nach § 35 FinStrG seit langem nachweislich bekannt“ sei und „sie sich der Strafverfolgung durch fortdauernden Verbleib im Ausland“ entziehe.
24 Die letzte der Revisionswerberin von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegte Tathandlung nach § 35 FinStrG lag zum Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts bereits 14 Jahre zurück. Feststellungen über ein einschlägiges strafbares Fehlverhalten der Revisionswerberin seither traf das Verwaltungsgericht nicht. Mit dem Vorbringen der Revisionswerberin in der aufgetragenen Stellungnahme vom , dass sie zwischenzeitig ihr Schmuckgeschäft aufgegeben habe, hat sich das Verwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt.
25 Inwieweit sohin eine von der Revisionswerberin - gegenwärtig immer noch - ausgehende Gefahr der Begehung gerichtlich strafbarer Zollzuwiderhandlungen und eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr im Sinne der Vorgaben der Richtlinie 2004/38/EG anzunehmen sind, kann dem angefochtenen Erkenntnis vor dem Hintergrund der - insoweit unzureichenden - Feststellungen, aus denen sich zum Verhalten der Revisionswerberin seit der letzten ihr zur Last gelegten Tatbegehung und zu ihren aktuellen beruflichen und privaten Lebensumständen nichts ergibt, nicht entnommen werden (vgl. zur Wesentlichkeit von Feststellungen zu einem längeren Zeitraum des Wohlverhaltens etwa ).
26 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich somit auch in Bezug auf den Passversagungsgrund des § 14 Abs. 1 Z 3 lit. b PassG 1992 als inhaltlich rechtswidrig.
Passentziehung gemäß § 15 Abs. 1 PassG 1992
27 Da die Passentziehung gemäß § 15 Abs. 1 PassG 1992 das nachträgliche Bekanntwerden oder Eintreten von Tatsachen voraussetzt, die die Versagung der Ausstellung des Reisepasses rechtfertigen, erfasst die inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses in Bezug auf die Versagung der Ausstellung des Reisepasses auch die Entziehung des bis zum gültigen Reisepasses der Revisionswerberin.
Unterlassene mündliche Verhandlung
28 Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann - soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist - eine mündliche Verhandlung ungeachtet eines Parteiantrages unterbleiben, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegensteht.
29 Vorliegend hat die Revisionswerberin im Beschwerdeverfahren keine mündliche Verhandlung beantragt.
30 Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG - selbst bei anwaltlich Vertretenen - auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes steht. Das ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und/oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird (vgl. , mwN).
31 Dies trifft vorliegend auf das konkrete, oben wiedergegebene sachverhaltsbezogene Vorbringen der Revisionswerberin in der Beschwerde sowie in ihrer Stellungnahme vom zu.
32 Überdies kommt ein Entfall der Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG dann nicht in Betracht, wenn Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC die Durchführung einer solchen gebietet. Das wird regelmäßig der Fall sein, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder - wie vorliegend in Bezug auf die mit der Passversagung und auch Passentziehung verbundene Beschränkung des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit - um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird (vgl. , mwN).
33 Demnach hätte das Verwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt.
34 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. , Rn. 10, mwN).
Ergebnis
35 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes - dieser Aufhebungsgrund prävaliert jenem der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften (vgl. etwa ) - aufzuheben.
36 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
37 Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Normen | EURallg FinStrG §265 Abs1p FinStrG §38 idF 2005/I/103 FinStrG §4 Abs2 PaßG 1992 §14 Abs1 Z3 PaßG 1992 §14 Abs1 Z3 lita PaßG 1992 §15 Abs1 VwRallg 12010E021 AEUV Art21 32004L0038 Unionsbürger-RL 62010CJ0430 Hristo Gaydarov VORAB |
Schlagworte | Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021010026.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
EAAAF-45401